Altruismus bei Tieren? Gar ein Sinn für Gerechtigkeit bis hin zu so komplexen sozialen Interaktionen wie Reue und Vergebung? All das gibt es, unterbreiten Marc Bekoff, der vor allem das Verhalten der Wölfe untersuchte, und die Biophilosophin Jessica Pierce in ihrer Untersuchung "Sind Tiere die besseren Menschen?" Sie bringen empirische Beobachtung auf den systematischen Begriff und kommen der Entstehung der Moral im Tierreich auf die Spur.
Raben verfolgen einen Übeltäter aus ihrer Gruppe, der regelmäßig Futterverstecke der anderen plünderte. Daran beteiligen sich ebenso bisher Ungeschädigte, auch wenn sie das zunächst einmal nur Kraft kostet. Hyänen lernen, gemeinsam an jeweils einem Ende eines Stranges zu ziehen, um an sonst unerreichbares Futter heranzukommen. Der Sinn für Beistand und Trost unter den Dickhäutern und Delphinen ist bekannt. Aber auch Fledermäuse helfen einander bei der Geburt, indem die unerfahrene Gebärende in die richtige Position geschubst wird (sie gebären mit dem Kopf nach oben), was ihnen die Älteren in diesem Moment regelrecht zeigen.
Der Anfang der Kooperation gründet sich in Verhaltensweisen, die die Tiere auch einzeln und nun zusammen ausführen. Empathie entwickelte sich im Rahmen der Mutter-Kind-Beziehung. Gerechtigkeitssinn hat seinen Ursprung im Spiel.
In drei Verhaltens-Cluster gruppieren die Autoren das Vorkommen von Moral. Innerhalb des Clusters, in dem sich alles um Kooperation dreht, steht am Anfang die Hilfe unter Verwandten, gefolgt von der gegenseitigen Hilfe, bei der der Austausch des angestrebten Effekts unmittelbar erfolgt. Doch gibt es auch den wechselseitigen Beistand, bei dem sich die Individuen erst sehr viel später revanchieren.
Das zum Cluster Einfühlung zählende Handeln reicht von der Mentalisierung dessen, was der andere fühlt, vorhat oder braucht, bis hin zum Trost und zur Hilfeleistung.
Bei Gerechtigkeit schließlich, dem dritten Cluster, geht es zunächst darum, dass Nahrung gerecht geteilt wird, schließlich um Fairness, wenn ein Tier zum Beispiel darauf verzichtet, etwa in Spielsituationen, seine größere physische Stärke einzusetzen. Geradezu von Verdienst kann man dann sprechen, wenn die Tiere Nahrung so teilen, dass diejenigen, die einen größeren Einsatz bei der Beschaffung gezeigt haben, auch mehr bekommen.
In jedem dieser Fälle wird Moral damit auf einen Nenner gebracht, dass stets das Interesse der anderen berücksichtigt wird. Alle derartigen Phänomene sind verwoben in ein allgemein pro-soziales Verhalten.
Ihre Voraussetzung ist Flexibilität im Handeln und die Fähigkeit, die Vergangenheit zu mentalisieren sowie eine Erwartung an die Zukunft zu haben. Emotionen fungieren als Auslöser, und ohne einen gewissen Grad an Intelligenz wären sie undenkbar. Die Fähigkeit zur Selbstbesinnung zählen die Autoren nicht zur Voraussetzung für tierische Moral. Es genügt ihnen das bei den Tieren vorhandene Vermögen, mögliche Verhaltensweisen abzuschätzen. Das kann auch in nicht sprachlicher Form geschehen.
Moral wird wohl eher bei den Jägern entstanden sein als bei den Primaten, lesen wir. Sie muss sich jedoch nicht immer auf Nahrung beziehen. Löwen können auch einzeln jagen, aber für die Sicherheit des Nachwuchses empfiehlt sich ihnen der Zusammenschluss in der Gruppe. Auch die Theorie, die Kooperation sei im Kampf gegen Parasiten mit der Fellpflege entstanden, wurde schon aufgebracht.
Das Spiel weist geradezu exemplarisch alle Elemente der Moral auf. So wird dort vorübergehend auf alle Hierarchie verzichtet. Große, starke Machos machen sich ganz klein. Sie werben damit um Vertrauen. Wenn es doch zur Überschreitung, sprich zu derben Kneifen kommt, nimmt der Stärke sofort eine Art Unterwerfungsposition ein. Wenn sein Mitspieler darauf eingeht, spielt sich, wenn man so will, eine Form des Verzeihens ab. Zu beobachten nicht nur bei Hunden und Wölfen, Füchsen und Coyoten, sondern auch - vielleicht eher unerwartet - bei Box-Spielen der Kängurus, einem evolutionsgeschichtlich uralten Beuteltier.
Moral hilft nicht immer dem Einzelnen. Im Gegenteil. In der Biologie wird als altruistisch ein Verhalten bezeichnet, bei dem das Individuum, was den Einsatz an Energie angeht, zunächst draufzahlt. Moral hilft der Gruppe. Aber das hilft indirekt auch wieder den Einzelnen. Moralisches Handeln fühlt sich aber zudem oder vielleicht in erster Linie – einfach gut an. Denn es kommt dabei zu einem Oxytocin-Ausstoß, dem eines körpereigenen Opiats.
Die meisten Aktionen der Tiere sind prosozial, selbst das antisoziale Verhalten setzt das prosoziale voraus. Bei der Täuschungsaktion etwa. Und auch "böse" werden einzelne Tiere, weil ihr Gerechtigkeitssinn oder ihr Sinn für Fairness verletzt wurde. Moral setzt eine Erwartung voraus, wie sich andere Tiere verhalten werden, und die Fähigkeit, das Verhalten der anderen zu bewerten. Das heißt, es gehören dazu auch Überlegungen zu Gut und Böse. Das klingt sehr anthropomorph. Aber in der Wissenschaft wird sehr oft vom Tier auf den Menschen geschlossen. Die Autoren plädieren dafür, dass dies auch umgekehrt in sinnvollen Maßen möglich sein solle.
Dennoch: Kapuziner und Hunde lehnen es ab, wenn sie zu wenig Futter bekommen. Nie jedoch, wenn sie zu viel bekommen. Ratten verzichten jedoch tagelang auf Futter, wenn sie daran nur durch einen Tastendruck herankommen, der einen Artgenossen im Nachbarkäfig einen Stromstoß versetzt.
Mögen Tiere auch nicht zu einer Selbstbewertung in der Lage sein, zur Selbstkontrolle sind sie es sehr wohl. Überall wirkt Moral als Kitt der Gemeinschaft. Darwin notierte einmal: "Cap. Stansburg fand auf einem Salzsee in Utah einen alten und vollständig blinden Pelikan. Dieser war sehr fett und musste daher über eine lange Zeit von seinen Artgenossen gefüttert worden sein. Mr. Blyth erzählt mir, dass er gesehen hatte, wie indische Krähen zwei oder drei Kumpane gefüttert hatten, die blind waren; und ich habe von ähnlichen Fällen bei domestizierten Hühnern gehört." Heutigentags wird die Bedeutung solcher Beobachtungen von Bekoff und Pierce u. a. in ihrem Werk, das 2009 in der Chicago University Press unter dem Titel "Wild Justice. The Moral Lives of Animals" erschien, weitergedacht. Was bitter nötig ist angesichts dessen, wie wir heute industriell mit Tieren umgehen.
Marc Bekoff und Jessica Pierce: "Sind Tiere die besseren Menschen?", Kosmos Verlag Stuttgart 2017, 224 S., 20 Euro