Krisenzeiten lösen der Forschung zufolge oft emotionale Dynamiken in und um Religion aus. So sind Machtmissbrauch und Missbrauchsskandale in den christlichen Kirchen verbunden mit der Wahrnehmung einer gesteigerten und oft als bedrohlich empfundenen weltweiten politischen Präsenz des Religiösen.
"Klimawandel, Pandemie und Migration etwa rufen Gefühle der Bedrohung und Benachteiligung hervor, die wiederum Rückwirkungen auf religiöse Gefühle, weltanschauliche Haltungen und Meinungen über Religionen anderer haben, indem sie existenzielle Sinnfragen auslösen", erläutern die Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Martina Wagner-Egelhaaf und die Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Doris Fuchs vom Exzellenzcluster "Religion und Politik" der Uni Münster im Vorfeld einer internationalen Tagung vom 1.–3. Dezember in Münster über "Emotion und Religion in Krisenzeiten". Erörtert wird an Fallbeispielen aus Geschichte und Gegenwart, wie Religion und das Religiöse in Krisen, in denen politische und weltanschauliche Orientierungen an Verbindlichkeit verlieren, eine emotionale Dynamisierung erfahren. Zudem geht es um Beispiele, in denen Religion selbst zum Krisenfaktor und Krisenphänomen wird.
Ein Beispiel dafür, dass Religion selbst zum Krisenphänomen wird, sind nach den Worten der Forscherinnen Machtmissbrauch und Missbrauchsskandale in den christlichen Kirchen. "Sie rufen eine starke Emotionalisierung im öffentlichen Bewusstsein hervor. Der Krise der Kirchen durch Mitgliederschwund und Geltungsverlust steht die Wahrnehmung einer gesteigerten und oft als bedrohlich empfundenen weltweiten politischen Präsenz des Religiösen gegenüber. Vermittelt und verstärkt wird das durch Bilder der Medien." An der Tagung nehmen Forschende vieler Fächer teil, darunter Germanistik, Romanistik, Religions-, Politik- und Sozialwissenschaften. Die Tagung diskutiert das komplexe Verhältnis von Emotion und Religion im Rahmen des dritten Themenjahres "Religiöse Dynamiken" am Exzellenzcluster.
Beispiele: Dreißigjähriger Krieg, Hass-Debatte heute
Auch die aktuelle Debatte über Hass und Hetze tritt bei der Tagung in den Blick. "Wir sehen eine Emotionalisierung in der Gesellschaft hin zu Feindseligkeit und Ablehnung", so Wagner-Egelhaaf, die am Exzellenzcluster an einer Literatur- und Kulturgeschichte dieser Emotion arbeitet. "Noch vor zehn Jahren hätte man Anschläge auf Synagogen oder Asylbewerberheime nicht 'Hassdelikte' genannt, sondern 'Angriffe' oder 'Gewalttaten'."
Als historisches Beispiel führen die Wissenschaftlerinnen den Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) an: "Literatur und bildende Kunst zeigen in eindrücklichen Bildern, wie sich Religion und Emotion in den gewaltsamen politischen Wirren in ganz Europa mischten. Religion, die Motor und Auslöser des Konflikts war, wurde dabei so funktionalisiert, dass Glaubensgewissheiten der Menschen in Frage gestellt und herausgefordert wurden." Ein Fallbeispiel ist auch die klassische Moderne, in der durch wissenschaftlichen Fortschritt, Industrialisierung, Kolonialisierung und die Erfahrung des Ersten Weltkriegs vertraute europäische Weltbilder aufbrachen und neue religiöse Bestrebungen jenseits der Amtskirchen auf den Plan traten. Die Tagung untersucht die Rolle der Emotionen in den Dynamiken solcher Prozesse und will dabei den Komplex der Emotionen systematisch und historisch auffächern und im Hinblick auf religiöse Wandlungsprozesse durchdenken.
Zum Verhältnis von Emotion und Religion forscht eine Arbeitsgruppe am Exzellenzcluster. Das Thema ist wichtig für die Leitfrage des Verbundes nach der Rolle von Religion als Motor politischen und gesellschaftlichen Wandels in der dritten Förderphase. Ausgangspunkt ist die Auffassung, dass Emotionen stets historisch und kulturell kodiert sind. Sie prägen individuelle und kollektive Selbst- und Fremdbilder, verschärfen oder vermindern Konflikte zwischen Gruppen und ermöglichen oder verhindern soziale Bindungen. Untersucht wird auch, mit welchen rhetorischen und ästhetischen Verfahren und Medien in Bildender Kunst, Architektur, Literatur, religiösen Texten und Debattenkultur Emotion und Religion darstellen.
Wichtig sind zudem Begriffe: "Affekt", "Emotion" und "Gefühl" beschreiben je unterschiedliche Dimensionen in Bezug auf das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft. Vergleichbar dem Begriffsverständnis der antiken Rhetorik sieht die moderne Theoriebildung im Affekt ein Überwältigtwerden, das Auswirkungen auf die Gemeinschafts- und Gruppenbildung hat. Bei "Emotionen" wird eher der kommunikative Aspekt hervorgehoben, während das "Gefühl" in den Bereich der modernen Subjektkonzeption führt, wie sie sich im späten 18. Jahrhundert ausprägte. "Emotion" ist darüber hinaus die Bezugskategorie in einer eher kognitionswissenschaftlich ausgerichteten Forschungsrichtung. (vvm/sca)