Indien steht kurz vor der gewaltsamen Eruption eines religiösen Konflikts. Gegenüber stehen sich Jahrzehnte der Säkularisierung und ökonomischen Entfaltung, die das Kastensystem herausgefordert haben, und die radikale politische Ideologie "Hindutva", die sich rapide steigenden Zuspruchs erfreut. Der hpd hat hierüber mit Susanna McIntyre, CEO von Atheist Republic, gesprochen.
Hindutva bedeutet so viel wie "Hindu-sein". Der Begriff ist in Indien seit seiner Verbreitung in den 1920er Jahren Gegenstand hitziger Diskussionen, derer sich sogar das Verfassungsgericht mehrere Male annahm. Heute bezeichnet Hindutva die politische Ideologie der regierenden Bharatiya Janata Party (BJP) und des gewaltigen sie umgebenden Netzwerks von politischen, religiösen und teilweise paramilitärischen Organisationen.
Die Ideologie unterscheidet scharf zwischen der religiösen und der kulturellen Definition des Begriffs "Hindu", erklärt Susanna McIntyre vom Online-Netzwerk Atheist Republic. Während die Ablehnung des hinduistischen Pantheons akzeptiert und mitunter sogar erwünscht ist, werden Menschen, die sich von den kulturellen und rituellen Aspekten des Hinduismus, zu denen auch das Kastensystem gehört, lossagen wollen, von Anhänger*innen der Hindutva regelrecht gejagt.
McIntyre erzählt von einem Fall, bei dem die private Telegram-Gruppe einiger Atheist*innen, die sich selbst als "Ex-Hindus" bezeichnen, von einigen aufgebrachten Radikalen übernommen und die ursprünglichen Mitglieder bei der Polizei angezeigt wurden. So absurd es klingt, aber "religiöse Gefühle zu verletzten ist in Indien sogar dann illegal, wenn es in privaten Gesprächen geschieht", so die CEO der atheistischen Organisation.
Diese Einschüchterung aller, die sich nicht zur Hindutva bekennen, hat System. Vielerorts patroullieren gewaltbereite Gruppen, die Muslime, Paare gemischten Glaubens oder Atheist*innen bedrohen. Vor wenigen Monaten musste eine säkulare Konferenz wegen einer regelrechten Flut an Drohungen verschoben werden.
Eide, Schlägertruppen, Hitlergrüße
Besonders beunruhigend sind die kollektiven Schwüre, Indien zu einer "puren Hindu-Nation" (Hindu Rashtra) zu tranformieren. In verschiedenen Videos ist zu sehen, wie Anhänger*innen der Hindutva eine dem Hitlergruß nicht unähnliche Pose einnehmen und auf ihr nacktes Leben verschiedenste Eide ablegen: muslimische Geschäfte zu boykottieren, zu den Waffen zu greifen, den Staat nicht "dem Feind" – welchem auch immer – zu überlassen, egal, was es kostet.
Diese Bilder erinnern nicht ohne Grund an SA und SS. Hindutva ist eine protofaschistische Ideologie, die höchsten Wert auf kulturelle Uniformität legt. Aus diesem Grund führen die Organisationen RSS und VHP des Öfteren Massenkonversionen durch.
Mit der Bajrang Dal hat die VHP sogar eine eigene paramilitärische Jugendorganisation (im Video ab Minute 11:20). Diese Entwicklungen werden mittlerweile auch international mit wachsender Besorgnis aufgenommen: Vor wenigen Tagen protestierten mehrere hundert Menschen mit indischen Wurzeln in London gegen das extremistische Gebaren dieser Gruppen.
Wie Verschwörungsmythen Faschismus befeuern
Ein weiterer Kernbaustein der Hindutva ist der geschickte Einsatz von Verschwörungsmythen. Zahlreiche, oft unvereinbare Narrative kursieren in den verschiedenen Ecken des indischen Internets. Susanna McIntyre zufolge habe die BJP eigene Trollfabriken, die, der russischen Internet Research Agency nicht unähnlich, Zwietracht säen.
"Der 'Love Jihad'-Mythos ist momentan der größte", schreibt McIntyre. Es gebe da eine große Verschwörung junger, muslimischer Inder, die, sich als Hindus ausgebend, hinduistische Frauen heiraten würden. Nach der Trauung sollen sie diese dann zwingen, zu konvertieren und ihre Kinder ebenfalls muslimisch zu erziehen. "Es geht nur oberflächlich um den Schutz von Frauen vor Ausbeutung. Im Kern ist es eine weitere 'Great Replacement'-Verschwörung. Nicht die erste in Indien, aber die mit Abstand politisch einflussreichste bisher", so die Atheist Republic-Chefin weiter. Bajrang Dal zieht den Verschwörungsmythos unter anderem als Rechtfertigung für die Errrichtung von Milizen zur "Selbstverteidigung" heran.
Atheist Republic vs. Delhi High Court
Atheist Republic selbst führt seit mehreren Jahren einen Kampf an multiplen Fronten. Während Indien für Atheist*innen und Menschen, die in gemischt-gläubigen Partnerschaften leben, immer gefährlicher wird, werden die Social-Media-Kanäle von Atheist Republic immer wieder durch Gerichte gesperrt, sodass die NGO in Indien kaum zu erreichen ist.
Die Website des Kunstprojekts "Blasphemous Art", weswegen Atheist Republic bereits mit indischen Gerichten aneinandergeriet (der hpd berichtete), wurde vergangene Woche auf "Anordnung einer staatlichen Stelle" dauerhaft und sogar weltweit gesperrt. Dies geht aus einer E-Mail der Hostingfirma Hostinger hervor, die dem hpd vorliegt. Da als Grund lediglich die "Verletzung der religiösen Gefühle der Sikhs" genannt ist, ist davon auszugehen, dass besagte staatliche Stelle eine indische ist. Im März hatte Atheist Republic den Fall vor dem Delhi High Court teilweise verloren.
Atheist Republic werde versuchen, eine Erklärung der Hostingfirma zu erwirken, so McIntyre. Wann Blasphemous Art wieder online ist, konnte sie zum Zeitpunkt des Gesprächs noch nicht beantworten.
Hinweis der Redaktion (10.08.2022, 13:15 Uhr): Nach einem Wechsel der Hostingfirma ist Blasphemous Art mittlerweile wieder online.