BERLIN. (hpd) Er schrieb wohl in der falschen Sprache, überwiegend in Afrikaans. Dann lebte er zur falschen Zeit am falschen Ort: als Bure während des Burenkrieges in London. Deshalb ist er fast vergessen: Eugène Nielen Marais, der, 1871 geboren, vor 80 Jahren starb und vor über 100 Jahren in Südafrika an Pavianen und Termiten die Langzeitverhaltensforschung in freier Wildbahn begründete.
Er beobachtete Paviane, die beinharte Früchte mit Steinen aufschlugen, in anderen Regionen aber ganz andere kulturelle Traditionen entwickelten, etwa kleine Schlammdämme zu bauen, um heißes Quellwasser abzukühlen, oder tief unterirdische wasserhaltige Knollen vorsichtig auszugraben und dabei sorgsam darauf achten, nicht den langen richtungsweisenden Spross abzureißen. Kurz, er entdeckte den Unterschied zwischen angeborenem und erlerntem Verhalten – das phylogenetische und das kausale Gedächtnis, wie er es nannte. Wobei das kausale Gedächtnis, wie der Name sagt, ein Lebewesen voraussetzt, das Zusammenhänge von Ursache und Wirkung erfassen kann.
Von 1903 bis 1906 lebte Marais, der sich mit medizinischer und juristischer Vorbildung zunächst vor allem als politisch sehr streitsamer Journalist betätigt hatte, mit einem jungen Mitarbeiter auf einer nach dem Burenkrieg verlassenen Farm und betrieb seine Forschungen an frei lebenden und gefangenen Tieren. Es hatte dort, weil nach dem Burenkrieg die Buren entwaffnet worden waren, schon lange keiner mehr auf Paviane geschossen. Sie hatten ihren Argwohn den Menschen gegenüber zwar nicht abgelegt, aber vermindert. Marais gewöhnte eine Herde dieser wachsamen und wehrhaften Tiere durch Futtergaben nun derart an sich, dass sie ihn, außer in ihre Schlafhöhle, überall in ihrer unmittelbaren Nähe zuließen.
So wurden sie ihm zum Exempel dafür, wie die Evolution funktioniert. Als ewiger Kampf gegen die Natur, bei dem es nie eine ideale Anpassung, sondern immer nur eine weniger schlechte gibt. Denn die am besten Angepassten erweisen sich bei einem Wandel der Umstände als am wenigsten überlebensfähig. Deshalb ist die ungeheure Lernfähigkeit der Affen, unserer nächsten Verwandten, sozusagen der Notausgang aus der Evolution. Paviankinder müssen, entdeckte er bald, wie Menschenkinder fast alles lernen. Dafür können sie in wüstenartige Bergregionen abgedrängt genauso überleben wie im üppigen Grasland.
Doch nicht nur das erkannte Marais. Er beobachtete Pavianweibchen, die, ging der Familienchef des haremartigen Familienverbands verloren, eine Führungsrolle übernahmen, ja, sogar eine ähnliche dicke silbergraue Mähne entwickelten. Und er beobachtete in Auseinandersetzungen um den Rang in der Horde, dass unterlegene Männchen die ranghöheren dadurch besänftigten, dass sie eine Pose einnahmen ähnlich den Weibchen, wenn diese sich sexuell den Männchen anboten. Er beschrieb ranghohe Männchen, die Paviankinder mit sich herumtrugen, um mit ihnen als Bindeglied allgemein soziale Kontakte zu knüpfen. Und rührend mit ihnen schmusten. Also den Unterschied zwischen Gender und Geschlecht bei Pavianen.
Die dem Menschen am ähnlichsten und die am unähnlichsten Lebewesen hatten es dem messerscharf denkenden und formulierenden Forscher angetan. Die Paviane und die Termiten. So heißen denn auch seine zwei bedeutendsten Bücher "Die Seele der weißen Ameise" und "Die Seele des Affen. Beobachtungen über das Verhalten unserer engsten Seelen-Verwandten". Letzteres, auf Englisch geschrieben, wurde erst posthum veröffentlicht, 1969, lange nachdem sich der Zeit seines Lebens an Neuralgie erkrankte und viele Jahre morphinabhängige Wissenschaftler und Autor 64-jährig am 29.3.1936 erschossen hatte, weil er sich von einer Reihe von Schicksalsschlägen nie mehr erholt hatte. Mit nur 20 Jahren hatte er geheiratet, ein Jahr später starb seine Frau bei der Geburt ihres Sohnes. Auch sein Kollege, mit dem er die Verhaltensforschung betrieb, kam viel zu früh bei einem Unfall ums Leben. Und sein auf Afrikaans geschriebenes Werk über die Termiten wurde wohl von dem Belgier Maurice Maeterlinck für dessen Buch "Das Leben der Termiten" gnadenlos ausgeplündert. Dieser erhielt sogar den Nobelpreis. Marais blieb lange vergessen.
So erinnert sich heute kaum jemand mehr daran, dass es Eugène Marais war, der als erster auf die Idee kam, den Termitenstaat als Ganzes als ein Lebewesen zu deuten, dessen steuernder Kopf und Sexualorgan die Königin ist. Denn, so fand er heraus, ohne Königin stirbt der Staat sofort. Er kam zu dem Schluss, dass sich Arbeiter und Soldaten aus den für die Neugründung der Staaten für kurze Zeit geflügelten Königin und ihrem König entwickelt hätten, die ja, sobald die Begattung vollzogen ist, immer noch unverzüglich die Flügel abwerfen. Den Termitenbau mit seinem Geflecht aus Gängen und Höhlen dachte er als Körper dieses komplexen Wesens. Marais beobachtete, wie Arbeiter Zerstörungen im Bau beheben, ähnlich den roten Blutkörperchen, die Schorf bilden und für die Regeneration sorgen. Die Funktion der Soldaten verglich er mit der der weißen Blutkörperchen. Noch nie war die Frage, was ein Individuum ist, in der Biologie so radikal gedacht worden, auch wenn wir die Sache heute gerade umgekehrt herum zu denken geneigt sind, uns als ein gewaltiges Netzwerk von Lebewesen begreifen.
Marais trieb die Gedanken mit schwindelerregender Kühnheit gern auf die Spitze. Dass er es dabei auch mit Sigmund Freud aufnahm, lesen wir heute mit Schmunzeln. Wir lesen von depressiven Pavianen, die bei Sonnenuntergang Wimmer- und Klagelaute ausstoßen. Und von solchen, die sich mit bestimmten Früchten in einen Zustand seligen Rausches versetzen. Kein Wunder, dass Eugène Nielen Marais hierzulande erst in den Siebzigern wiederentdeckt und ins Deutsche übersetzt wurde und heute fast vergessen ist. Dabei war er alles andere als ein Schwärmer. Im Gegenteil, er hatte auch einen Sinn für die Gnadenlosigkeit der Natur.