Mit voller Wucht trifft der Eröffnungsfilm der Französischen Filmtage 2019 auf sein Publikum. Er beginnt mit der kraftvollen, aber bereits unterschwellig unkontrollierbar wirkenden Massenbegeisterung anlässlich des französischen WM-Siegs in Paris mit dem Triumphbogen im Hintergrund. Auf den Champs Elysées schreien Jugendliche verschiedener Hautfarben ihre Freude und Begeisterung über den Fußballsieg der Kamera entgegen.
Es ist der erste Langfilm des in Mali geborenen Franzosen Ladj Ly, der zuvor bereits einen Dokumentarfilm über sein altes Wohnviertel drehte. Der Hauptstrang der Geschichte basiert auf seinen persönlichen Erlebnissen als Jugendlicher zur Zeit der Unruhen und Krawallnächte im Jahr 2005 und danach. Sein Sohn, al-Hassan Ly, spielt im Film die Rolle des Jungen, der mit einer Spielzeug-Drohne rechtswidrige Übergriffe der Polizei filmt, die später vor Gericht als Beweismaterial in der Anklage dienen.
Für die Besetzung der Rollen hat Ladj Ly für den Großteil der Darsteller auf Bewohner dieses Viertels zurückgegriffen (ungeschminkt authentisch: Issa Perica). Nur die Darsteller der Polizisten sind professionelle Schauspieler. Insgesamt ist es eine auf realen Vorfällen basierende filmische Auseinandersetzung um die Rolle von Recht(sfindung) und Gerechtigkeit(swahrung) in gegenseitiger Abhängigkeit und in Anbetracht der komplexen Verflechtungen verschiedener ethnischer, sozialer und religiöser Gruppierungen, die in einigen Bereichen dieses Stadtteils das Sagen haben. Der Film erntete bei den Filmfestspielen in Cannes stehende Ovationen und sahnte bereits zehn Preise sowie eine Oscar-Nominierung für Frankreich ab, bevor er überhaupt in die regulären Kinos kam. Der Film wirft die Frage danach auf, inwieweit die arbeitsbedingte Solidarität der Polizei untereinander sich über das für alle geltende Gesetz hinwegsetzen darf, kann, muss und was das für Konsequenzen nach sich zieht. Risiko- und Folgenabschätzung in der Anwendung der Machtmittel.
Es ist die Geschichte der Menschen des Pariser Vorortviertels Clichy-Montfermeil, wo die Unruhen in Paris 2005 begannen und eskalierten. Hierher wird der Polizist Stéphane Ruiz versetzt; er möchte in der Nähe seines Sohnes sein, der bei seiner von ihm getrennt lebenden Mutter wohnt, um ihn öfter sehen zu können. Ursprünglich kommt er aus Cherbourg, einer vergleichsweise ruhigen Kleinstadt, "vom Land" also. Er wird von der leitenden Polizeikommissarin zur Einführung mit seinen neuen Kollegen Chris und Gwada von der BAC (Brigade Anti-Crimes) auf Streife geschickt, um das Viertel kennenzulernen und einen ersten Überblick zu erhalten. Die Chefin betont, dass es bei der Arbeit darauf ankomme, den Zusammenhalt des Teams grundsätzlich im Auge zu behalten, denn ohne Team sei man hier nichts und verloren bzw. allein. Auf die Frage von Chris, ob er wisse, weshalb die Schule hier nach Victor Hugo benannt wurde, antwortet ihm dieser: "Weil der Schriftsteller hier seinen Roman 'Die Elenden' geschrieben hat." Seitdem scheint sich nicht so viel geändert zu haben.
Chris ist Familienvater und ein offener Macho, der daraus kein Hehl macht, abgebrüht, politisch unkorrekt und trotzdem seiner Aufgabe verpflichtet zu sein, ebenso wie seiner Familie. Nicht zuletzt treibt ihn die Angst um seine beiden kleinen Töchter um. Gwada, Muslim, steht zunächst für etwas Ausgleich, außerdem ist er dunkelhäutig, wie die meisten Bewohner hier. Sie nehmen den neuen Kollegen mit auf eine Tour durch das Viertel, um ihm zu erklären, wer wie tickt und wer hier wo das Sagen hat. Das Quartier wird in unterschiedlicher Weise beherrscht von den Muslimbrüdern, die eine Garagenmoschee und ein Café betreiben und hier unter Jugendlichen rekrutieren – von einer Familie, die hier ihr Areal für Arbeit und Leben hat – von Drogendealern, die ihre Klientel unter den Jugendlichen ausbauen wollen und im Zweifelsfall auch Polizisten mit Stoff versorgen, falls gewünscht oder nötig – und von besorgten Mitmenschen, die sich bemühen, alle miteinander gewaltfrei agieren zu lassen und die Grenzen wie auch die Gesetze zu respektieren.
Die Prostitution liegt in den Händen der Nigerianer, ein Blowjob kostet zwei Euro. Auf den Straßenmärkten wird gefälschte Ware verkauft. Der Neuling, Ruiz, hört zu und sieht sich alles an, gibt hie und da seinen Eindruck, seine Einwände bzw. "seinen Senf" dazu, was bei Chris und Gwada nicht unbedingt gut ankommt; er sei neu, habe keine Ahnung von den Gepflogenheiten und Mechanismen hier, wolle er ihnen, den Altgedienten, nun etwa vorschreiben, wie sie vorzugehen hätten? Hier müsse man Herr der Lage bleiben als Polizist, sonst habe man nichts mehr im Griff und keine Chance. Die Elite-Einheit, die nachts in Paris unterwegs ist, ist bis an die Zähne bewaffnet wie Rambos. Ruiz setzt auf Respekt und Gespräche, während die Altgedienten eher auf Einschüchterung machen und dabei nicht gerade zimperlich sind. Die Situation vor Ort eskaliert, als ein Löwenjunges gestohlen wird und die Zirkusfamilie unter Anführung des Chefs damit droht, in 24 Stunden mit Waffen vor den Jugendlichen und Mediatoren des Viertels aufzukreuzen und sich den Dieb persönlich vorzunehmen, wenn die Polizei nicht in der Lage sein sollte, das Löwenbaby bis dahin ausfindig zu machen und zurückzubringen.
Die Situationskomik der Dialoge ist grandios: Der Zirkuschef sucht seinen kleinen Johnny, der wie ein Sohn für ihn sei und dem er selbst das Fläschchen geben würde. Zunächst denken alle, er suche einen Jungen, seinen Ziehsohn oder Ähnliches, bevor der Zirkusboss klar ausspricht, es handle sich um ein Löwenjunges. Es gibt bereits eine Vermutung, wer den kleinen Löwen geklaut hat; eine Videoaufnahme aus einem Handy bestätigt dies und führt zum Dieb: dem Teenager Issa (Issa Perica). Der Polizist Chris weiß es bereits, weil er ein Handy mit entsprechenden Aufnahmen beschlagnahmt und im Internet in den sozialen Medien geschaut hat: Die Jugendlichen seien einfach "Hirnis", sie würden keine Dummheit ausführen, ohne das Ganze auch zu posten – "Selfie mit Löwenbaby". Also los, auf die Suche. Dieser befindet sich bei Issa in einem Karton. Er ist von zuhause rausgeflogen; weil sein tobender Vater zu Beginn des Films auf der Polizeiwache aufkreuzen musste, um seinen Jungen abzuholen, der gerade lebende Hühner geklaut hat; am liebsten würde er ihn auf der Wache lassen, weil er am laufenden Band nur Unfug anstellen würde. Issa hat offenbar Angst vor seinem Vater, während seine Mutter möchte, dass er wieder nach Hause kommt.
Das Löwenbaby wird beschlagnahmt, und Issa bei der Verfolgungsjagd von Gwada schwer verletzt. Dummerweise wird das Ganze von einem Jugendlichen auf dem Hochhaus oben gefilmt, sodass die Polizisten nun auch nach diesem suchen. Jeder weiß, dass dies ein Disziplinarverfahren nach sich ziehen wird, wenn es herauskommt; also will man es verhindern und den Vorfall vertuschen. Issa wird von Chris unter Druck gesetzt, auszusagen, er sei gestürzt und habe sich dabei die Verletzung am Kopf zugezogen.
Ein privates Gespräch zwischen Stéphane und Gwada in der Kneipe abends soll der Klärung dienen; Stéphane glaubt nicht, dass Gwada aus Versehen auf den Jungen gefeuert hat, der dadurch hätte getötet werden können. Es zeichnet sich deutlich ab, dass es um einen persönlichen Kontrollverlust aus vollständiger Überforderung in der Situation geht, nicht um Böswilligkeit. Schließlich schiebt Ruiz seinem erschöpften Kollegen die Diskette mit den gefilmten Einsatzaufnahmen zu und fordert ihn auf, damit zu tun, was er tun müsse.
Im Lauf der Geschichte zeigen die Jugendlichen, als die Schwächsten in der lokalen Hierarchie, untereinander mehr geschlossene Solidarität als alle anderen Bewohner des Viertels zusammen: Sie rüsten heimlich auf und bereiten sich auf einen Angriff auf die Polizei vor. Dieser wird gewalttätig: Mit Einsatz von selbst gebastelten Molotow-Cocktails, Rauch- und Feuerbomben, Einkaufswägen voll schweren Abfalls und Ähnlichem wird den ins Hochhaus eindringenden Polizisten eine Begrüßung geliefert, die sich gewaschen hat und die eine Situation hervorruft, die völlig unkontrollierbar wird und vollkommen eskaliert.
Am Ende stehen sich Issa mit einer brennenden Flaschenbombe und Stéphane mit gezogener Waffe Auge in Auge gegenüber; jede Reaktion beider Beteiligten könnte eine Katastrophe auslösen und den Tod bedeuten. Der Film endet mit einem Zitat von Victor Hugo aus seinem Roman "Les Misérables": Es gibt weder Unkraut noch schlechte Menschen, sondern nur schlechte Gärtner.
Ein Film von ungeheurer Dynamik, die dem Zuschauer durch bloßes Zusehen den Atem nimmt und der viele Fragen aufwirft: Wie gelangte die Kassette mit den Aufnahmen der polizeilichen Übergriffe in die Hände des Neulings Ruiz? Möglicherweise über den Umweg durch Salah, den Betreiber des Cafés der Muslimbrüder, an den sich der Junge mit der Drohne in seiner Angst vor der Polizei wendet und mit dem Ruiz sein Willkommensgespräch Ruiz führen musste, um sich vorzustellen und eine Vertrauensbasis aufzubauen? Welche Möglichkeiten haben die Polizisten, mit ihrer eigenen Angst umzugehen, mit denen sie tagtäglich den Bewohnern des Viertels und deren verfilzten klientelistischen Strukturen und Machtverhältnissen ausgesetzt sehen? Was wäre eine längerfristige Lösung zur Abwendung eskalierender Gruppengewalt, die unkontrollierbare gefährliche Dynamiken entwickeln kann?
Ladj Ly hat in seinem alten Heimatviertel Montfermeil eine private Filmschule gegründet, in der Jugendliche vor Ort kostenlos teilnehmen können; er beabsichtigt, seinen Film auch vor Polizisten zu zeigen. Die französische Gewerkschaft der Polizei war nicht so begeistert, konnte aber weder das Drehen dieses Films noch seine Ausstrahlung verbieten – und auch nicht, dass er vor Polizisten gezeigt werden soll. Mit dem Erfolg seines Films, dessen Finanzierung vor einem Jahr alles Andere als gesichert war, habe er nicht gerechnet, aber es freut ihn sehr und bedeutet Motivation zum Weitermachen. Er betont, er habe eine gute Kindheit und ein ebensolches Aufwachsen gehabt. Ladj Ly möchte die umstrittenen Vorortviertel von Paris auf eine andere Ebene heben. Das Thema "banlieue" ist seit Beginn der achtziger Jahre ein Dauerthema französischer Produktionen; es begann mit der Produktion "Le thé au harem d'Archimède" (Der Tee im Harem des Archimedes) von Mehdi Charèf aus dem Jahr 1983. Eine einfache Lösung dürfte es für die berüchtigten "banlieues" nicht geben, die seit Jahrzehnten immer wieder in die politischen Schlagzeilen um die französische Einwanderungspolitik und Jugendgewalt landen. Die filmischen Arbeiten und Vorgehensweisen von Ladj Ly dürften in die richtige Richtung weisen.
Die Wütenden – Les Misérables (2019) (Originaltitel: "Les Misérables"), Regie: Ladj Ly, Darsteller: Damien Bonnard, Alexis Manenti, Djebril Zonga u. a.