Filmrezension

"Der Tod ist keine Tragödie"

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Protagonistin Jacqueline wird auf dem Weg zu ihrem selbstbestimmten Tod von einem ihrer Söhne mit der Kamera begleitet
Protagonistin Jacqueline

Gerade lief der Dokumentarfilm "Jackie the Wolf" in den Kinos. Filmemacher Tuki Jencquel begleitet darin seine lebenssatte Mutter Jacqueline auf dem Weg zu ihrem selbstbestimmten Tod.

Jacqueline ist Mitte 70. Sie hat schulterlanges grau-weißes Haar, ebenmäßige Gesichtszüge, feingliedrige Hände; auf alten Fotos sieht man, dass sie einst noch schöner war. Sie wohnt in einer stattlichen Altbauwohnung in Paris, wirkt vital, agil und ist klar im Kopf. Und sie will sterben.

Ob sie keine Angst vor dem Tod habe, wird sie in einem Videointerview für Konbini News gefragt. "Nein. Ich war vor meiner Geburt schon Millionen Jahre tot und ich werde noch Millionen Jahre tot sein. Warum Angst haben? (…) Denken Sie, ich glaube an das, was die monotheistischen Religionen verbreiten (…)? Im Himmel kann man bis in alle Ewigkeit Schäfchen zählen. Wollen Sie das?" Das sorgt im Filmteam für Schmunzeln. Die Protagonistin ist schlagfertig und nimmt kein Blatt vor den Mund: "Die Muslime haben es da besser, die dürfen Jungfrauen vögeln."

Jacqueline, frühere Vizepräsidentin der französischen Gesellschaft für das Recht auf Sterben ADMD, will die Gesetze in Frankreich ändern. Dort ist die Freitodbegleitung bisher nicht legalisiert, der Ball liegt nach dem positiven Votum eines Bürgerrats bei der Regierung. Die Protagonistin ist nicht körperlich krank, aber depressiv. Die Antidepressiva bringen nichts, meint sie. Sie findet, dass sie ihr Leben gelebt hat und es Zeit ist zu gehen. Eine für außenstehende nicht unbedingt leicht zu verstehende Entscheidung. Aber es ist ihre. Im Film erklärt sie ihrer kleinen Enkelin diese Entscheidung. Die hört zu, in ihren Armen, den Kopf an ihre Schulter gelegt.

"Der Tod ist keine Tragödie", stellt sie in einer anderen Einstellung klar. Man solle den Tod nicht so dramatisieren. "Wir müssen verstehen, dass wir alle sterben." "Seid froh, dass ich nicht bei einem Terroranschlag sterbe", fordert sie resolut auf. Der Weg, den sie wählt, sei ein Geschenk. "Das Alter ist unvermeidbar, der Tod auch, aber das Leid nicht." Denn: "Wir fürchten nicht den Tod, sondern die Art, wie wir sterben werden", sagt sie.

Jacqueline ist Alt-68erin, streitbar, bestimmt und leidet darunter, dass sie nicht mehr jung und schön ist. Sie denkt viel an Sex, will aber keinen mehr haben: "Ich habe keine Fantasien mehr. Deshalb habe ich keine Lust mehr zu leben." Sie habe schon in ihrer Jugend an das Sterben gedacht, unterbrochen nur durch die Phase als sie kleine Kinder hatte.

Jacquelines Geheimversteck
In dieser Matrjoschka bewahrt Jacqueline ihr Sterbemittel auf. Dort würde man es bei einer Hausdurchsuchung nicht finden, erklärt sie.
(Foto: © déjà-vu film)

Das Sterbemittel hat Jacqueline illegal zu Hause und könnte jederzeit davon Gebrauch machen. Einen Arzt, der ihr Alterskrankheiten bescheinigt, die sie nicht hat, fand sie nicht. Ihr geplantes Sterbedatum verschiebt sie mehrfach. Doch sie sei bereit, sagt sie, "Ich bin bereit, jederzeit zu sterben." Am Tag ihres Todes soll ihr Buch erscheinen, mit dem Titel "Ein stilvolles Ende". Von dieser Kopplung erhofft sich die Protagonistin eine Wirkung.

Szenenwechsel – es ist ein weiterer Tag, an dem Jacqueline vorhatte zu sterben. In der Schweiz bei Erika Preisig, Gründerin und Präsidentin des Vereins lifecircle sowie der zugehörigen Stiftung Eternal SPIRIT, die Freitodbegleitungen ermöglicht. Doch die Protagonistin hat sich anders entschieden, wegen der Geburt eines Enkelkindes. Dabei habe sie aber das Gefühl einen Fehler zu machen. Wenn sie eine Aufgabe hätte, würde Jacqueline es nicht tun, erzählt Preisig. In einer anderen Szene, in der beide Frauen in einem Raum sind, rät Preisig Jacqueline: "Lass dir die Zeit, die du brauchst. Du musst alles aufräumen." Die Protagonistin tauscht sich auch mit anderen Sterbewilligen aus. Bei einer Suizidbegleitung ist sie zugegen; die Kamera ist dabei auf Jacqueline und die Sterbehelferin gerichtet.

Im Laufe des Films erfährt man, dass eines ihrer drei Kinder sich auf der anderen Seite der Kamera befindet, ihr die Fragen stellt. Mit ihm zusammen zieht sie eine Bilanz ihres Lebens. Sie sprechen offen über Jacquelines Suizidwunsch und über ihr wohl nicht ganz einfaches Verhältnis als Mutter und Sohn. Der Dialog zwischen beiden bestimmt den Film, es gibt keine Einblendungen zu Personen oder einen Sprecherkommentar aus dem Off. Hin und wieder sieht man Filmaufnahmen aus der Zeit, in die Jacqueline sich zurücksehnt, als sie jung war und ihre Kinder klein.

"Jackie the Wolf" ist kein einfacher Film. Hin und wieder würde es nicht schaden, gewisse Dinge zu erklären, so muss man sich Vieles selbst erschließen. Er folgt keinem wirklichen roten Faden, reiht atmosphärische Episoden aneinander, die Stück für Stück ein Bild der sicher nicht einfachen Persönlichkeit der Protagonistin zeichnen. Mutter und Sohn unterhalten sich auf Französich, mit ihrer Enkelin spricht Jacqueline Englisch, mit der Schweizer Sterhehelferin Deutsch. Die nicht deutschsprachigen Dialoge sind untertitelt. Doch eines muss man dem Film lassen: Er ist maximal authentisch. Wer das mag, kommt hier voll auf seine Kosten.

"Eigentlich sollte ich zu dir sagen: 'Tu's nicht'", sagt der Sohn gegen Ende des Films zu seiner Mutter. Sie kontert: "Aber mit welchem Recht würdest du das sagen?" "Den größten Liebesbeweis, den du mir erbringen kannst, ist mir zu helfen, dass ich ohne Schmerzen gehen kann, wenn ich mich dafür entscheide." Zum Schluss sieht man die wunderschöne Wohnung leer. Jacqueline hat eine Abschiedsbotschaft hinterlassen. Man hört nur ihre Stimme, die sagt: "Ich habe mir den richtigen Augenblick ausgesucht. Ich bin ruhig und es geht mir gut. Und ich wünsche euch viel Freude und viel Glück. (…) Ich habe nicht viel mehr zu sagen, außer, dass ich euch liebe."

"Jackie the Wolf", Regie, Buch, Kamera, Produzent: Tuki Jencquel, 93 Minuten, Dokumentarfilm (OmU), Deutschland/Frankreich 2023

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