Zentralrat der Konfessionsfreien

Mehr Konfessionsfreiheit wagen

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Vorgestern haben die Ampelparteien ihren Koalitionsvertrag präsentiert. Große Themen wie Klimaschutz, Finanz- oder Gesundheitspolitik werden in der Presse breit diskutiert. Der Zentralrat der Konfessionsfreien hat den Koalitionsvertrag mit der säkularen Brille gelesen. Fazit: In "Mehr Fortschritt wagen" konnten die säkularen Kräfte erstmals einige wichtige Türen einen Spalt weit öffnen – zugleich sind aber mächtige Scheunentore für ein "Weiter so" offen geblieben.

Nach vielen Jahren der Vorarbeit war es kurz vor der Bundestagswahl soweit: Die Mitgliedsverbände des ehemaligen KORSO haben sich entschieden, im kommenden Frühjahr den Schritt aus dem Hinterzimmer auf die Bühne der Öffentlichkeit zu wagen – vom Koordinierungsrat zum Zentralrat der Konfessionsfreien. Mit viel Liebe zum Detail bereiten wir uns seitdem darauf vor, uns der Öffentlichkeit als zeitgemäßes Forum für Deutschlands beliebteste "Konfession" vorzustellen: die Konfessionsfreiheit. Der Politik bieten wir uns dann als konstruktive, finanziell unabhängige und parteipolitisch ungebundene Ansprechpartner an, die sich für das Grundrecht auf ein konfessionsfreies Leben einsetzen. Wir haben bekanntlich viele Themen auf der Liste, die allesamt komplex und traditionell auch kontrovers sind. Und wir werden diese Themen mit sehr erfahrenen Akteuren diskutieren müssen, die im Gegensatz zu uns mit üppigen Staatsmitteln ausgestattet sind; das lässt zwar noch keine ihrer Behauptungen zu echten Argumenten werden, aber darum geht es ja in der Politik nicht immer. Aus diesen Gründen lassen wir uns Zeit zur gründlichen Einarbeitung, setzen auf Sorgfalt vor Schnelligkeit und zählen dabei auf das Verständnis und die Zustimmung im säkularen Spektrum.

Zum kürzlich veröffentlichten Koalitionsvertrag der Ampelparteien geben wir hier jedoch schon jetzt einen ersten Zwischenruf ab. Wir können und wollen dabei nicht sämtliche Aspekte beleuchten, doch die relevanten Passagen haben wir wohlwollend und gern gelesen – aber auch mit gemischten Gefühlen.

Verglichen mit der bisherigen Weltanschauungspolitik Deutschlands sind wir mit "Mehr Fortschritt wagen" ausgesprochen zufrieden. Die klaren Fortschritte der Liberalisierung vieler Lebensbereiche – Cannabiskonsum, Fragen der Geschlechteridentität, Erleichterungen für homosexuelle Eltern – tragen eindeutig die Handschrift einer progressiven, oder zumindest progressiveren Koalition: Fortschritt durch Selbstbestimmung! Und nachdem alle drei Ampelparteien recht starke säkulare Absichten in ihre Wahlprogramme geschrieben hatten, konnten wir geplante Verbesserungen doch zumindest erwarten. Neben der begrüßenswerten Tendenz zur Selbstbestimmung beleuchten wir hier einige "unserer" Themen, die es in den Koalitionsvertrag geschafft haben.

Weg mit 219a!

Ungetrübte Freude teilen wir mit dem "Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung", dem wir uns als Zentralrat der Konfessionsfreien angeschlossen haben, denn: Der Paragraph 219a StGB soll gestrichen werden. Aus säkularer Perspektive ist das zwar eine verfassungsrechtliche Selbstverständlichkeit; aber das gilt bekanntlich für viele unserer Ziele, und wir müssen uns dennoch für sie einsetzen. Der Fall zeigt zugleich: Die Mühe lohnt sich! Kristina Hänel und ihre Mitstreiterinnen haben sich dieser staatlichen Bevormundung mutig entgegengestellt, und das hat nun zu guten Erfolgsaussichten geführt. Dennoch ist die Lobby der fundamentalistischen Abtreibungsgegner bärenstark und bekanntlich bis in hohe Regierungskreise vernetzt. Umso erfreulicher ist das glasklare Bekenntnis der künftigen Regierungskoalition zu diesem Schritt, den sie schnellstmöglich umsetzen sollte – bevor die selbsternannten "Lebensschützer" ihre politischen Fäden spinnen können.

Gleiches Arbeitsrecht für alle

Auf Seite 73 hat es das "kirchliche Arbeitsrecht" in den Koalitionsvertrag geschafft. Dieses Arbeits"recht" setzt momentan knapp 1,3 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in kirchlichen Einrichtungen der offenen Diskriminierung aus. Verantwortlich dafür ist wohlgemerkt der Staat, der diese Diskriminierung zulässt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat diese exklusiv deutsche Praxis mehrfach als unzulässig bezeichnet, so dass hier nicht nur ein dringender Handlungsbedarf besteht, sondern auch ein klarer Auftrag. Die Formulierung im Koalitionsvertrag jedoch könnte schwammiger kaum sein: "Gemeinsam mit den Kirchen prüfen wir, inwiefern das kirchliche Arbeitsrecht dem staatlichen Arbeitsrecht angeglichen werden kann." Inwiefern angeglichen: das ist schon zwei Dimensionen von konsequent entfernt, und solange dies "gemeinsam mit den Kirchen" als alleinigem Ansprechpartner geprüft wird, halten sich unsere Hoffnungen auf substanzielle Verbesserungen für die Betroffenen in Grenzen. Die säkularen Kräfte in den Ampelparteien konnten dieses Thema gegen erfahrungsgemäß starke Widerstände auf die Agenda setzen. Damit es aber nicht bei einer "Prüfung" und einer "Angleichung" bleibt, sondern bald alle Angestellten in Deutschland vor Diskriminierung geschützt sind, werden wir uns und unsere außerparlamentarische Kraft und Expertise einbringen.

Eine faire Ablösung?

Deckblatt des Koalitionsvertrages
Deckblatt des Koalitionsvertrages

Auch die "Ablösung der Staatsleistungen" haben wir mit Freuden im Koalitionsvertrag wiedergefunden. Gemeint sind die sogenannten altrechtlichen Staatsleistungen, die ursprünglich als Entschädigung für eine "Enteignung" der Kirchen im Zuge der Säkularisation eingeführt wurden – im Jahre 1803! Anno 1919, also nach 116 Jahren Zahlungen, wurde ihre Ablösung dann als bindender Auftrag in die Weimarer Reichsverfassung geschrieben und 1949 ins Grundgesetz der BRD übernommen, seitdem aber ignoriert. Rund 20 Milliarden Euro sind seither geflossen, zuletzt über 550 Millionen Euro pro Jahr. Wie hier eine "faire Lösung" aussehen kann, ist durchaus fraglich, darf aber nicht länger ohne die Berücksichtigung unserer säkularen Expertise debattiert werden.

Beim weiteren Lesen des wichtigen Abschnitts "Kirchen und Religionsgemeinschaften" auf Seite 111 kommt dann aber nur noch wenig konfessionsfreie Freude auf. Schon seine Einleitung liest sich wie ein Werbeblock: "Kirchen und Religionsgemeinschaften sind ein wichtiger Teil unseres Gemeinwesens", schreiben die Ampelparteien, "und leisten einen wertvollen Beitrag für das Zusammenleben und die Wertevermittlung in der Gesellschaft. Wir schätzen und achten ihr Wirken". Es bedarf wenig Fantasie zu erraten, aus wessen Feder solche Phrasen stammen. Dass dieses "Wirken" fast komplett aus öffentlicher Hand bezahlt wird und dabei oft unverhohlen an blanke Missionierung gekoppelt ist, muss wohl noch kommuniziert werden – als serviceorientierte NGO übernehmen wir diese Aufgabe liebend gern.

Es läuten die säkularen Alarmglocken

Und ab hier trampeln dann einige Pferdefüße über die Straße der Aufklärung: Dass das "Religionsverfassungsrecht im Sinne des kooperativen Trennungsmodells" weiterentwickelt werden soll, klingt gut – wir werden aber sehr genau beobachten müssen, was das konkret bedeutet. Dass hingegen die "Beteiligung und Repräsentanz der Religionsgemeinschaften, insbesondere muslimischer Gemeinden" verbessert werden soll, ist kein säkulares Ansinnen. Ihre Beteiligung – woran auch immer – sollte sich nicht von anderen gesellschaftlichen Gruppen unterscheiden; für ihre Repräsentanz wiederum ist nicht der Staat zuständig, sondern sie selbst. Und wenn "in enger Abstimmung mit den betroffenen Kirchen und Religionsgemeinschaften" geprüft werden soll, ob dafür "Ergänzungen des Rechtsstatus von Religionsgemeinschaften notwendig sind", läuten die säkularen Alarmglocken unüberhörbar: enge Abstimmungen, Ergänzungen, Verbesserungen – das könnten genau die dicken Bretter sein, hinter denen die Konfessionsfreiheit auch weiterhin vernagelt zu bleiben droht. Höchste Zeit, unsere Bohrer zu schärfen. Immerhin, der Text enthält eine überraschend anmutende Genderung: "Ausbildungsprogramme für Imaminnen und Imame an deutschen Universitäten" zeichnen ein Islamverständnis, das ausgerechnet von den Verbänden, mit denen der deutsche Staat nicht selten kooperiert, sehr aktiv verhindert wird. Auch diese Frage wird also in einem inner- und außerparlamentarischen Diskurs beantwortet werden müssen: Soll der klerikale Nachwuchs aller Religionsgemeinschaften auf Steuerkosten geschult werden?

Folgerichtig wäre das ja, denn unsere Verfassung schreibt die Gleichbehandlung aller Weltanschauungsgemeinschaften vor. Solange also Kirchenglocken läuten, muss auch der Muezzin rufen dürfen, und solange Berufschristen an staatlichen Universitäten ausgebildet werden, haben auch Islamverbände ein Anrecht darauf. Allerdings müssten dann auch alle anderen Privilegien der Kirchen auf alle anderen Weltanschauungsgemeinschaften übertragen werden – übrigens auch auf die säkular-humanistischen. Die neue Regierung und die gesamte Gesellschaft werden also diskutieren müssen, welche Privilegien auf- und welche abgebaut werden sollten. Als Zentralrat der Konfessionsfreien stehen wir in jedem Fall für die Gleichbehandlung aller Weltanschauungsgemeinschaften.

Enttäuscht hat uns der Koalitionsvertrag in jenen säkularen Themen, die auf dem Weg von den starken Wahlprogrammen bis hier verloren gegangen sind: Die Abschaffung von Tanzverboten (FDP) kommt ebenso wenig vor wie die ersatzlose Streichung des Blasphemieparagraphen § 166 StGB (Die Grünen). Der systematische und systematisch vertuschte sexuelle Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen wird nur in Verbindung mit anderen Formen des Missbrauchs erwähnt; die staatlich legitimierte Paralleljustiz der Kirchen, die dies ermöglicht hat, wird gar nicht erwähnt. Auch die Beschränkung der Kooperation des Staates auf solche Religionsgemeinschaften, "die das Grundgesetz achten", sowie das Bekenntnis zum "säkularen Staat und seinem Neutralitätsprinzip" (beides Die Grünen) haben es nicht in den Koalitionsvertrag geschafft – was wirklich wichtige und weitreichende Konsequenzen hätte. Diesen Satz aus dem Wahlprogramm der Grünen hätten wir ebenso gern wiederentdeckt: "Auch Konfessionsfreie haben einen Anspruch auf umfassende Berücksichtigung ihrer Belange und auf gleichberechtigte Teilhabe" – denn das wäre nicht nur verfassungskonform, sondern für aktuell 33,8 Millionen Deutsche doch wirklich nicht zu viel verlangt. Und hinter dem starken Positionspapier der Jungen Liberalen, die das gegenwärtige deutsche Religionsrecht als ungeeignet für eine freiheitliche, plurale Gesellschaft halten, bleibt der Koalitionsvertrag gleich meilenweit zurück.

Frischer Wind mit Luft nach oben

Zugegeben: Wir messen den Koalitionsvertrag an hohen säkularen Standards – aber genau das ist unser Job. Wir freuen uns dennoch, dass "Mehr Fortschritt wagen" erste Türen für Konfessionsfreie öffnet, sehen aber zugleich, dass dem "Weiter so" mächtige Scheunentore offengehalten werden. Dass der Koalitionsvertrag von katholischer Seite als Zumutung betrachtet wird, ist zwar ein gutes Zeichen. Aber trotz mutiger erster Schritte, die die säkularen Kräfte in den Ampelparteien sicherlich viel Energie gekostet haben, hinkt auch ein solcher Koalitionsvertrag noch hinter der gesellschaftlichen Realität her: Immer mehr Menschen entscheiden sich für ein Leben in Konfessionsfreiheit. Die politischen Zustimmungen zu konfessionsfreien Positionen gehen oft noch weit über diese 41 Prozent hinaus, weshalb unsere Botschaft lautet: Wer auch morgen noch von politischer Bedeutung sein möchte, kommt an den Interessen der konfessionsfreien Mehrheit nicht mehr vorbei. Umso wichtiger, dass die zarten säkularen Impulse des Koalitionsvertrags im Laufe dieser Wahlperiode konstruktiv und konsequent geschützt, begleitet und perspektivisch ausgebaut werden – und genau das ist unser Plan.

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