Das Urteil gegen die Ärztin Kristina Hänel

"Mehr Unklarheiten als Klarheiten"

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Ärztin Kristina Hänel beim Prozess in Gießen im Oktober 2018.

Der gestrige Prozess gegen Kristina Hänel zeigt, wie Ärzt*innen den Abtreibungsgegner*innen durch den §219a StGB weiterhin schutzlos ausgeliefert werden. Die Gießener Ärztin wurde durch ihren Kampf für das Informationsrecht von ungewollt Schwangeren bekannt. Gestern wurde sie vor dem Landgericht Gießen zum dritten Mal nach §219a StGB verurteilt. Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt hatte den Fall zurück an das Landgericht verwiesen, damit dieses ihn nach der Neufassung des §219a StGB nochmals verhandele.

Das Urteil beweist: Rechtssicherheit gibt es auch seit der Reform des §219a StGB nicht. Ärzt*innen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen und damit fachliche Expert*innen in diesem Bereich sind, dürfen auf ihren Webseiten weiterhin nicht über den Schwangerschaftsabbruch informieren.

Viele ärztliche Kolleg*innen entscheiden sich in diesem bedrohlichen Klima mittlerweile dagegen, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. In Deutschland gibt es bereits gravierende Versorgungslücken und die Hürden für ungewollt Schwangere werden immer größer. Umso irrsinniger ist die Kriminalisierung, wenn man bedenkt, dass fundamentalistische Abtreibungsgegner*innen, die auf ihren unzähligen Webseiten mit Falschinformationen gegen die Selbstbestimmung von Frauen arbeiten, in Deutschland straflos bleiben - im Gegensatz zu Frankreich, wo das Verhindern von Schwangerschaftsabbrüchen durch Falschinformationen strafbar ist.

Die seit der Neufassung des §219a eingeführte Liste der Bundesärztekammer, die Adressen von Abbruchsärzt*innen bundesweit listet, ist unübersichtlich und enthält nur äußerst rudimentäre Informationen. Sie ist absolut ungeeignet, die ärztliche Informationspflicht zu ersetzen. Zudem wird diese zentrale Liste bereits von Abtreibungsgegner*innen missbraucht.

Daran sieht man, dass der "Kompromiss" des §219a StGB auf allen Ebenen nicht funktioniert. Zu dieser Schlussfolgerung kamen im heutigen Prozess überraschend einstimmig sowohl Verteidiger als auch Staatsanwalt und Richterin.

"Die Ehrenrunde nach dem Ehrentitel"

Mit diesen Worten begrüßte der Staatsanwalt Kristina Hänel im Gießener Landgericht. Sowohl die Richterin Enders-Kunze als auch der Staatsanwalt betonten, dass ihnen der Auftrag vom OLG zur Neuverhandlung nicht ganz verständlich sei. Überhaupt machten beide für juristische Verhältnisse überraschend deutlich, dass sie vom neuen §219a nicht viel hielten. Die Richterin bezeichnete ihn als "nicht gelungen", da er widersprüchlich und missverständlich sei; er schaffe "mehr Unklarheiten als Klarheiten". Es mache außerdem wenig Sinn, sachliche Informationen zu medizinischen Eingriffen zu verbieten; selbst bei Schönheitsoperationen gebe es kein solches Verbot. Und drittens sei fraglich, ob der Paragraph in seiner neuen Form verfassungsgemäß sei. Es bleibe unklar, was das zu schützende Rechtsgut sei, außerdem werde nicht zwischen rechtswidrigen und rechtmäßigen Abbrüchen unterschieden. Sie machte auch den wichtigen Hinweis, dass Abtreibungsgegner diesen Paragraphen für ihre Zwecke instrumentalisierten, und dass das Gericht ihnen im Grunde ausgeliefert sei. Die Vorgehensweise der Anzeiger sollte nicht toleriert werden – klare Worte also! Dennoch wollte die Richterin den Fall nicht direkt dem Verfassungsgericht vorlegen, wie es Kristina Hänels Verteidiger gefordert hatte. In ihren Augen sprachen formale Gründe dagegen.

Der Staatsanwalt überraschte mit einer politischen Analyse, in welcher die SPD schlecht weg kam. Die Neufassung des Paragraphen sei aus juristischer Sicht nicht verständlich. Man müsse den politischen Hintergrund kennen. Er legte dar, dass die meisten Parteien, inklusive der SPD, für eine Abschaffung des Paragraphen gewesen seien, und nur durch die Gründung der Großen Koalition und die Richtungsänderung der SPD sei dieser juristisch schwer nachvollziehbare Kompromiss herausgekommen. Wieder einmal wurde deutlich, dass die Politik in dieser Sache versagt hat und dass hier dringender Handlungsbedarf besteht.

Hänels Verteidiger Karlheinz Merkel beeindruckte das durch eine Glasscheibe abgetrennte Publikum mit seinen überzeugenden Ausführungen. So sei der grundlegende Fehler, dass seit einem Bayreuther Urteil von 2006 stets wiederholt würde, der §219a sei nötig, um das "ungeborene Leben" zu schützen. Es sei jedoch unlogisch, dass eine "konkrete Gefährdung", z.B. die Schädigung des Embryos durch äußere Gewalteinwirkung, kein eigener Straftatbestand sei, wohl aber die "abstrakte Gefährdung", nämlich die Information zum Schwangerschaftsabbruch (vgl. Mitsch KriPoZ 2019, S. 214 ff). Kristina Hänel selbst sagte es in einfacheren Worten: "Eine ungewollt Schwangere hat Gründe für den Abbruch, und der Grund ist nicht, dass ich sage, dass sie eine Binde zum Abbruch mitbringen sollen."

Merkel argumentierte weiter, dass es beim §219a nicht um den "Schutz des Ungeborenen" ginge, sondern darum, eine Normalisierung des Schwangerschaftsabbruches zu verhindern. Diese Aufrechterhaltung einer "kollektiven Moral" sei aber nicht die Aufgabe des Strafgesetzes. Die Moralauffassung habe sich seit 1974 zudem erheblich gewandelt. Auch sei es unverhältnismäßig, aufgrund des moralischen Schutzes Art. 5 (Meinungs-, Informations- und Publikationsfreiheit) und Art. 12 (Berufsfreiheit) des Grundgesetzes einzuschränken.

Kristina Hänel berührte das Publikum in ihrem Schlusswort mit dramatischen Beispielen aus ihrer Praxis, in denen sie darstellte, dass die Informationsdefizite zu einer Bedrohung für Leib und Leben der Betroffenen führen. Auch wenn der direkte Weg zum Bundesverfassungsgericht trotz der hervorragenden Argumentation ihres Anwalts nicht frei gegeben wurde und sie nun den längeren Weg über das OLG Frankfurt gehen muss - aufgeben will sie auf jeden Fall nicht!

Stimmungsvolle Kundgebung vor dem Gerichtssaal

Aufgeben wollen auch ihre zahlreichen Unterstützer*innen nicht. In einer bunten Menge drückten sie vor dem Prozess ihren Unmut über den ungerechten Paragraphen aus. Reden wurden unter anderem von den beiden Doctors for Choice-Mitgliedern Eva Waldschütz und Nora Szász gehalten, die beide selbst vom §219a betroffen waren.

"Am Anfang waren wir nur eine Handvoll, die sich gegen den § 219a wehrten, mittlerweile ist eine Bewegung entstanden, die sich für die Abschaffung des § 219a und die Streichung des § 218 aus dem Strafgesetz starkmacht. (...) Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie wichtig Solidarität und eine gute Vernetzung sind." Eva Waldschütz, Gynäkologin

"Es gibt kein einziges weiteres westeuropäisches Land, in dem Ärzt*innen bei Geld - und Gefängnisstrafe heute noch verboten ist, Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen zu geben." Nora Szász, Gynäkologin

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