Wir alle wissen, dass unsere Sicht auf die Welt nicht immer der Realität entspricht. Erkennen zu können, dass die Überzeugung eines Anderen sich von den realen Gegebenheiten unterscheidet, schien bislang ausschließlich dem Menschen vorbehalten zu sein. Aber neue Forschung mit Schimpansen, Bonobos und Orang-Utans zeigt jetzt, dass unsere nächsten Verwandten ebenfalls verstehen können, wenn etwas nur im Kopf ihres Gegenübers existiert. Geleitet wurde die Studie von Wissenschaftlern der Duke University, der Kyoto University, der University of St. Andrews und des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie.
Die falschen Überzeugungen anderer zu erkennen, ist ein entscheidender Meilenstein der menschlichen kognitiven Entwicklung. Menschen entwickeln diese Fähigkeit noch vor ihrem fünften Geburtstag. Von diesem Zeitpunkt an beginnen die Kinder dann die Gedanken und Emotionen anderer vollständig zu verstehen. Psychologen bezeichnen dies als die Theory of Mind.
Diese Fertigkeiten sind unentbehrlich, um mit anderen Menschen zurechtzukommen und ihre Handlungen vorherzusehen. Auf ihnen basiert auch unsere Fähigkeit, andere Menschen zu manipulieren und sie etwas glauben zu lassen, das gar nicht stimmt. Nicht auf die Gedanken und Gefühle anderer schließen zu können, ist dagegen ein frühes Zeichen für Autismus. "Diese kognitive Fähigkeit liegt so vielen sozialen Fertigkeiten des Menschen zugrunde", sagt Christopher Krupenye von der Duke University, der die Studie zusammen mit dem vergleichenden Psychologen Fumihiro Kano von der Kyoto University geleitet hat.
Wissen, was andere denken
Menschenaffen können bis zu einem gewissen Grad ebenfalls Gedanken lesen. Studien zufolge verstehen sie erstaunlich gut, was andere wollen und – basierend auf dem, was sie sehen und hören können – was andere wissen. Doch Menschenaffen fielen bisher immer durch, wenn es darum ging zu verstehen, was andere denken, auch wenn diese Gedanken gar nicht mit der Realität übereinstimmen. "Um Annahmen als falsch erkennen zu können, muss man verstehen, dass nicht alles auch wirklich der Realität entspricht, was in unseren Köpfen existiert", erklärt Ko-Autor Michael Tomasello, Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie und Professor für Psychologie und Neurowissenschaften an der Duke University. "Das bedeutet ein Verständnis dafür zu entwickeln, dass es eine mentale Welt gibt, die sich von der physikalischen Welt unterscheidet", sagt Tomasello.
In der Studie schauten sich die Menschenaffen zwei kurze Videos an. In dem einen beobachtet ein Mann, wie sich eine andere Person in einem King Kong-Kostüm in einem von zwei großen Heuhaufen versteckt. Anschließend verschwindet der Mann durch eine Tür, und King Kong schlüpft aus dem Heuhaufen und läuft unbeobachtet davon. In der letzten Szene kommt der Mann zurück, um nach King Kong zu suchen. Das zweite Video ist ähnlich, nur kommt der Mann diesmal zurück, um einen Stein zu finden, den King Kong seiner Überzeugung nach in einer von zwei Kisten versteckt hat. Doch dieser hatte sich hinter dem Rücken des Mannes mit dem Stein davon gemacht. "Wir haben mit den Menschenaffen quasi einen Kinotag veranstaltet. Das hat ihnen offenbar wirklich Spaß gemacht", sagt Krupenye, der jetzt als Postdoc am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie forscht.
Blickrichtung verrät Erwartungen
Um die Gedanken der Tiere zu lesen, zeichneten die Forscher mithilfe eines Eyetrackers mit Infrarotkamera die Blickrichtung der Tiere auf, während diese sich die Videos anschauten. Das Blickverhalten der Tiere zeigt, dass sie vorhergesehen haben, dass der Mann dort nachschauen würde, wo er glaubte, dass King Kong sich noch versteckte, auch wenn der sich gar nicht mehr dort aufhielt. Die Ergebnisse ähneln denen aus Studien mit Kindern im Alter von weniger als zwei Jahren und zeigen, dass Menschenaffen die erste Hürde hin zum vollständigen Verständnis der Gedanken anderer genommen haben. "Dies ist das erste Mal, dass ein nichtmenschliches Tier eine Version des false belief-Tests bestanden hat", sagt Krupenye.
"Unsere Entdeckung ist für Entwicklungspsychologen auch der bisherige Höhepunkt der Eyetracking-Methode. In jahrelanger Kleinstarbeit haben wir die Methode verfeinert und angepasst, um herauszufinden, wie genau wir Menschenaffen für Eyetracking-Aufgaben interessieren und wie wir ihre Vorhersagen in Form von vorausschauenden Blicken interpretieren können", sagt Fumihiro Kano.
Die Ergebnisse zeigen, dass nicht nur Menschen über diese Fähigkeit verfügen, sondern dass sie bereits seit wenigstens 13 bis 18 Millionen Jahren im Stammbaum der Primaten existiert. "Wenn zukünftige Studien bestätigen können, dass Menschenaffen die Aufgabe lösen und dem Schauspieler eine falsche Annahme zuschreiben können, müssen Wissenschaftler neu überdenken, wie tiefgreifend Menschenaffen einander verstehen können", sagt Krupenye. (MPG SJ/HR)
1 Kommentar
Kommentare
Claudia am Permanenter Link
Interessante Erkenntnis, gewonnen in Verhaltensexperimenten mit in einem Zoo (Leipzig) gefangengehaltenen Menschenaffen.
Nähme man die verhaltenswissenschaftlich interessanten Erkenntnisse, die einmal mehr die große kognitive Ähnlichkeit zwischen Menschenaffen und Menschen belegen, auch auf ethischer Ebene ernst, müsste die Gefangenhaltung von Menschenaffen in Zoos sofort eingestellt werden.