Die menschliche Sprachfähigkeit ist möglicherweise nicht so einzigartig wie bisher angenommen. Schimpansen verfügen über ein komplexes Kommunikationssystem, mit dem sie Rufe zu neuen Bedeutungen kombinieren können, ähnlich der menschlichen Sprache. Forscher haben im Gehirn von Schimpansen eine neuronale Verbindung entdeckt, die mit Sprache in Zusammenhang steht.
Menschen sind die einzige Spezies auf der Erde, die Sprache benutzt. Sie tun dies, indem sie Laute zu Wörtern und Wörter zu Sätzen kombinieren und so unendlich viele Bedeutungen schaffen. Dieser Prozess basiert auf linguistischen Regeln, die festlegen, wie die Bedeutung von Lauten in verschiedenen Satzstrukturen verstanden wird. Zum Beispiel kann das Wort "Affe" mit anderen Wörtern kombiniert werden, um zusammengesetzte Sätze zu bilden, in denen eine Bedeutung hinzugefügt wird: "Der Affe frisst", oder um eine Bedeutung zu erweitern: "großer Affe", oder um nicht zusammengesetzte idiomatische Sätze zu bilden, die eine völlig neue Bedeutung schaffen: "affig sein". Ein wesentlicher Bestandteil der Sprache ist die Syntax, die bestimmt, wie die Reihenfolge der Wörter die Bedeutung beeinflusst, zum Beispiel wie "affig sein" und "der Affe frisst" unterschiedliche Bedeutungen haben.
Eine grundlegende Forschungsfrage ist, woher diese außergewöhnliche Fähigkeit zur Sprache kommt. Um die evolutionären Ursprünge der menschlichen Sprache zu erforschen, wird häufig ein vergleichender Ansatz gewählt, bei dem die Vokalisationen anderer Tiere, insbesondere von Primaten, mit denen des Menschen verglichen werden. Im Gegensatz zum Menschen verwenden andere Primaten in der Regel Einzelrufe (so genannte "Ruftypen"), und obwohl einige Tierarten Einzelrufe miteinander kombinieren, gibt es pro Art nur wenige Kombinationen, die meist dazu dienen, Artgenossen vor Raubtieren zu warnen. Dies deutet darauf hin, dass ihre Kommunikationssysteme möglicherweise zu begrenzt sind, um als Vorläufer des komplexen, offenen Kombinationssystems der menschlichen Sprache zu gelten. Es könnte aber auch sein, dass wir noch kein vollständiges Bild von den sprachlichen Fähigkeiten unserer nächsten lebenden Verwandten haben, insbesondere davon, wie sie Rufkombinationen nutzen könnten, um ihr Bedeutungsrepertoire erheblich zu erweitern.
Bedeutung von Vokalisationen bei Schimpansen
Forscherinnen und Forscher der Max-Planck-Institute für evolutionäre Anthropologie und für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig sowie des Cognitive Neuroscience Center Marc Jeannerod (CNRS/Université Claude Bernard Lyon 1) und des Neuroscience Research Center (CNRS/Inserm/Université Claude Bernard Lyon 1) in Lyon haben Tausende von Vokalisationen von drei Gruppen freilebender Schimpansen im Taï-Nationalpark in der Elfenbeinküste aufgezeichnet. Sie untersuchten, wie sich die Bedeutung von zwölf verschiedenen Schimpansenrufen verändert, wenn sie zu Zweierkombinationen zusammengesetzt werden.
"Die Erzeugung neuer oder zusammengesetzter Bedeutungen durch die Kombination von Wörtern ist ein charakteristisches Merkmal der menschlichen Sprache. Um die Ursprünge der menschlichen Sprache zu entschlüsseln, ist es daher wichtig zu untersuchen, ob unsere nächsten lebenden Verwandten, die Schimpansen und Bonobos, eine ähnliche Fähigkeit besitzen", sagt Catherine Crockford, leitende Autorin der Studie. "Die Aufzeichnung der Lautäußerungen von Schimpansen über mehrere Jahre in ihrer natürlichen Umgebung ist entscheidend, um die Gesamtheit ihres Kommunikationsvermögens zu dokumentieren. Aufgrund der zunehmenden Bedrohung der Schimpansenpopulationen durch den Menschen wird dies jedoch immer schwieriger", sagt Roman Wittig, Co-Autor der Studie und Direktor des "Taï Chimpanzee Project".
Das komplexe Kommunikationssystem der Schimpansen
Die Studie beschreibt vier Möglichkeiten, wie Schimpansen Bedeutungen verändern, wenn sie Einzelrufe zu 16 verschiedenen Kombinationen von Zweierrufen zusammensetzen – ähnlich den wichtigsten linguistischen Prinzipien der menschlichen Sprache. Die Schimpansen verwendeten sowohl bedeutungsergänzende (z.B. A = Fressen, B = Ausruhen, AB = Fressen + Ausruhen) als auch bedeutungspräzisierende (z.B. A = Fressen oder Fortbewegung, B = Aggression, AB = Fortbewegung) Zusammensetzungen. Sie verwendeten auch nicht zusammengesetzte idiomatische Kombinationen, die völlig neue Bedeutungen schufen (z.B. A = Ausruhen, B = Zugehörigkeit, AB = Nestbau). Entscheidend ist, dass die Schimpansen in dieser Studie – im Gegensatz zu früheren Studien, in denen meist nur Rufkombinationen in einem begrenzten Kontext beschrieben wurden, wie zum Beispiel Begegnungen mit Raubtieren – das Bedeutungsrepertoire ihrer Rufe erweiterten, indem sie die meisten ihrer Einzelrufe zu einer großen Vielfalt von Rufkombinationen zusammensetzten und diese in einem breiten Spektrum von Kontexten anwendeten.
"Unsere Ergebnisse deuten auf ein hochgradig generatives vokales Kommunikationssystem hin, das im Tierreich beispiellos ist und die jüngsten Erkenntnisse über Bonobos bestätigt, wonach komplexe Kombinationsfähigkeiten bereits bei den gemeinsamen Vorfahren des Menschen und dieser beiden Menschenaffenarten vorhanden waren", sagt Cédric Girard-Buttoz, Erstautor der Studie. Er fügt hinzu: "Damit ändert sich die Sichtweise des letzten Jahrhunderts, die die Kommunikation der Menschenaffen als statisch und an emotionale Zustände gebunden betrachtete und deshalb davon ausging, dass sie uns nichts über die Evolution der Sprache sagen könne. Stattdessen sehen wir nun deutliche Hinweise darauf, dass die meisten Ruftypen des Repertoires in Kombination mit anderen Ruftypen ihre Bedeutung variieren oder erweitern können. Die Komplexität dieses Systems deutet entweder darauf hin, dass die Kommunikation der Hominiden tatsächlich etwas Einzigartiges ist – dass komplexe Kommunikation bereits bei unserem letzten gemeinsamen Vorfahren entstand, den wir mit unseren nächsten lebenden Verwandten teilen – oder dass wir die Komplexität der Kommunikation auch bei anderen Tieren unterschätzt haben, was weitere Untersuchungen erforderlich macht." (mpg)
Nervenfasern für Sprache beim Schimpansen entdeckt
Eine weitere aktuelle Studie legt zudem nahe, dass die Architektur für komplexe Kommunikation bereits vor etwa sieben Millionen Jahren bei den gemeinsamen Vorfahren von Menschen und Schimpansen vorhanden war.
Der Fasciculus arcuatus verbindet beim Menschen die Sprachareale und weist nicht nur beim Menschen, sondern auch bei Schimpansen eine Verbindung zum mittleren Schläfenlappen auf. "Unsere Ergebnisse legen nahe, dass die für Sprache entscheidende neuronale Architektur beim Menschen nicht völlig neu entstanden ist", erklärt Erstautor Yannick Becker. "Sie hat sich wahrscheinlich aus einer evolutionär älteren, bereits vorhandenen Struktur weiterentwickelt. Die Verbindung ist bei Schimpansen viel schwächer ausgeprägt als beim Menschen und erlaubt möglicherweise deshalb nicht die komplexe menschliche Sprache."
Für ihre Studie konnten die Forschenden auch Gehirne von wildlebenden Schimpansen aus dem Urwald, die auf natürliche Weise gestorben waren, mit hochauflösender Magnetresonanztomografie untersuchen. "Mit bisher unerreichter Präzision konnten wir so den detaillierten Verlauf der Nervenfasern zwischen den verschiedenen Hirnarealen sichtbar machen", beschreibt Alfred Anwander, Letztautor der Studie, die Methode. Dabei zeigte sich, dass in allen der zwanzig untersuchten Schimpansen-Gehirnen eine solche Nervenfaserbündel-Verbindung zum mittleren Schläfenlappen nachweisbar war – ein Merkmal, das bislang als ausschließlich menschlich galt.
Alte evolutionäre Wurzeln
Wie die Autorinnen und Autoren der Studie schreiben, ist es wahrscheinlich, dass diese neuronale Architektur, die eine komplexe Kommunikation unterstützt, bereits beim letzten gemeinsamen Vorfahren der Menschen und der Schimpansen vor sieben Millionen Jahren vorhanden war und die Evolution der Sprache beim Menschen erst ermöglichte. Da das Gehirn des gemeinsamen Vorfahren von Menschen und Schimpansen aber nicht erhalten ist, kann die evolutionäre Entwicklung der Grundlage unserer Sprache also nur im Vergleich mit unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen, aufgeklärt werden.
"Bisher ging man davon aus, dass die anatomischen Strukturen der Sprache erst beim Menschen entstanden sind. Unsere Ergebnisse verändern nun das Verständnis der evolutionären Entwicklung von Sprache und Kognition insgesamt", erklärt Angela D. Friederici, Mitautorin der Studie und Direktorin der Abteilung Neuropsychologie am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften.
"In unserem internationalen Konsortium mit Partnern aus afrikanischen Wildreservaten und Auffangstationen sowie europäischen Zoos können wir künftig die zur Lebenszeit erhobenen Verhaltensdaten von Menschenaffen mit den von uns gesammelten Gehirndaten verknüpfen", betont Yannick Becker. Auf diese Weise können die neuronalen Grundlagen der kognitiven Fähigkeiten von Menschenaffen genauer erforscht werden. (mpg)





