Warum neue Medikamente gegen die Vermehrung des Coronavirus entwickeln, wenn bereits zugelassene Substanzen dasselbe könnten? Eine solche Umwidmung von Wirkstoffen verspricht schnelle Hilfe gegen bisher wenig erforschte Erreger. Wissenschaftler um Thomas F. Meyer am Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie in Berlin wollen auf Basis dieses Prinzips ein klinisch erprobtes Medikament gegen das neuartige Coronavirus testen.
Viren nutzen zur Vervielfältigung Proteine ihrer menschlichen Wirtszellen. Welche das sind, können Forschende herausfinden, indem sie Gene inaktivieren und prüfen, ob sich ein Erreger dann noch vermehren kann. Ist dies nicht der Fall, muss das betreffende Gen für den Vermehrungsprozess relevant sein.
Thomas F. Meyer und seine Kollegen nutzen für ihre Untersuchungen die Genschere CRISPR/Cas9 sowie die sogenannte RNA-Interferenz (RNAi) – eine zelleigene Abwehrfunktion gegen Krankheitserreger, mit der die Zelle ein Protein gezielt ausschalten kann. "Wir haben auf diese Weise einen Großteil von Wirtszellproteinen entdeckt, den Grippeviren für ihre Vermehrung benötigen", sagt Meyer. Auch für das Chikungunya- und Zika-Virus haben die Wissenschaftler solche essentiellen Proteine identifiziert.
Bei ihren Versuchen stellten die Wissenschaftler fest, dass unterschiedliche Viren zum Teil auf die gleichen Signalwege in den Wirtszellen angewiesen sind. Die Berliner Forscher haben die zu diesen Signalbahnen gehörenden Moleküle analysiert und herausgefunden, dass gegen mehrere bereits Wirkstoffe bekannt sind. Einige davon sind sogar von der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA gegen andere medizinische Indikationen zugelassen und bereits im Handel.
Thomas F. Meyer und seine Kollegen wollen nun bereits erprobte Wirkstoffe testen, die sich bereits im Reagenzglas (in vitro) als antiviral erwiesen haben, ob sie auch die Vermehrung des Virus Sars-CoV-2 hemmen können. Sofern diese Wirkstoffe schon an Tieren und menschlichen Probanden getestet worden sind, würden langwierige pharmakologische Entwicklungsprozesse und klinische Studien entfallen, wie sie für völlig neue Wirkstoffe erforderlich sind. "Auf diese Weise könnten wir sehr viel Zeit sparen", erklärt Meyer.
Ein Wirkstoff hat es den Forschern dabei besonders angetan. Eine der Substanzen, die ursprünglich zur Behandlung von Krebs und zur Bekämpfung von Hepatitis-C-Viren entwickelt wurde, hemmt auch die Vermehrung von MERS-Coronaviren, einem engen Verwandten des neuen Virus Sars-CoV-2. Sie steht auf oberster Stelle der Liste aller jetzt zu testenden Wirkstoffen. (TH/mpg)