Zähe Tiere – Humanismus, Hoffnung und Corona

sony-center_leer.png

Auch das Sony-Center in Berlin ist menschenleer.
Auch das Sony-Center in Berlin ist menschenleer.

Am 22. März 2020 meinte der bayerische Ministerpräsident Markus Söder in einer der zu vielen Talkshows im deutschen Fernsehen, es sei angesichts der Corona-Krise nun ratsam zu beten, jedenfalls sofern man gläubig sei. Das wirkte zwar dann doch etwas überdramatisiert, warf aber zugleich auch die Frage auf, worauf jemand in einer solchen Situation hoffen kann, wenn bei ihm oder ihr die Hoffnungen an einen Gott oder andere jenseitige Kräfte ausscheiden.

Wir sind aktuell mit Worst-Case-Szenarien konfrontiert, die – nach allem, was bislang bekannt ist – zumindest nicht völlig unwahrscheinlich sind: Notstand im Gesundheitswesen, hohe Zahl an Todesfällen, wirtschaftliche Krise. Aber es gibt auch realistische Better-Case-Szenarien, die darauf beruhen, dass wir immer noch zu wenig über das Virus wissen. Seriöse Wissenschaft, die verschiedene Verlaufsmodelle berechnet, betont dabei redlicherweise, sie nehme keine wissenschaftliche Evidenz für sich in Anspruch.

Es kann sein, dass man in einigen Monaten sagen wird, man habe die Todesfallrate des Virus deutlich überschätzt, weil diese sich nur auf die gemeldeten Diagnosen bezog, die große Mehrzahl der Infektionen aber mit milden Erkältungssymptomen oder gar symptomfrei verlief, überhaupt nicht registriert worden sind und für die notwendige "Herdenimmunität" gesorgt hat; wohingegen die Todesfälle vollständig erfasst worden sind. So müssen uns die Ungewissheiten nicht nur beunruhigen, sondern sie können auch ein Grund für Hoffnung sein; genauso wie das Wissen um das Potential der Wissenschaften, Medikamente und Impfstoffe zu entwickeln.

Es ist jetzt anscheinend auch die Zeit einer bestimmten Sorte von Gesellschaftskritikern oder Visionären1, die frohlocken, dass die von ihnen schon lange geforderten Gesellschaftsveränderungen nun dank des Virus endlich verwirklicht werden. Sie fühlen sich in ihren Einsichten durch das Virus bestätigt und sehen es als Bündnispartner für ihre Anliegen. Sie freuen sich darüber, dass sie recht bekommen und hin und wieder klingt sogar so etwas durch wie die Befriedigung über eine gerechte Strafe derjenigen, die nicht auf sie gehört haben. Wir lesen dann, die kreative Destruktivität des Virus forciere den Wandel hin zu einer sozialeren, gerechteren und ökologischen Welt, den wir selbst nicht auf die Reihe kriegen. Es beende die Naturzerstörung und helfe dem Mangel an Mitmenschlichkeit ab. Dank Corona: Städte für Menschen statt für Autos, Beziehungspflege statt Egoismus, Rücksichtnahme statt Ellenbogen, Digitalisierung statt Ressourcenverschwendung. Gefeiert wird die Lehre der Natur für die Hybris der Menschen, so wie man einst menschliche Sünden gerne mit einer göttlichen Strafe bedacht sah. Das geht bis zu Evolutionsbiologen, die auf globale Überbevölkerung verweisen und es ganz nüchtern als einen natürlichen evolutionären Prozess betrachten, wenn ein Virus wie Corona dieses Problem löst. All das sind Corona-Partys der besonderen Art. Aber wenn man das Ganze vielleicht drei Etagen tiefer hängt und auch die Opfer, das Leiden und die Verluste nicht einfach übergeht, dann kann man durchaus nach positiven Nebeneffekten der gegenwärtigen Situation fragen und darin eine Hoffnung erblicken. So nerven die Rechtspopulisten aktuell etwas weniger und viele US-Amerikaner wollen jetzt anscheinend doch lieber wieder einen richtigen Präsidenten.

Wassili Grossman beschreibt in seinem Roman "Leben und Schicksal",wie sich inmitten des stalinistischen Terrors in der Sowjetunion und des von Deutschland begonnenen Zweiten Weltkriegs im Miteinander der Menschen immer wieder "die kleine Güte" zeigt. Nicht die große caritative Geste, nicht die Spende mit Spendenbescheinigung und öffentlichem Prestigegewinn, sondern die kleine alltägliche Gabe oder Unterstützung. Ein ganz anderer Kontext und doch universell: Menschlichkeit inmitten unmenschlicher Bedingungen und existenzieller Herausforderungen. Auch aktuell sehen wir neben großen Hilfspaketen der Politik viele Beispiele für Solidarität und Unterstützung im sozialen Miteinander, materiell wie vor allem auch emotional. Man sollte diese Perspektive nicht übertreiben: Hamsterkäufe, Corona-Partys, Diebstahl von Desinfektionsmittel und Klopapier aus öffentlichen Toiletten, teurer Schwarzmarkthandel mit knappen Produkten und anderes mehr sprechen auch die andere Sprache. Und dennoch kann man darauf hoffen, dass Menschen sich in schwierigen Situationen beistehen können und viele dies auch tun: Hier ist Ansteckung gefragt. Irgendwo schrieb eine Autorin sinngemäß: "Sagen Sie Ihren geliebten Eltern, Großeltern: 'Ich möchte nicht, dass Du stirbst'" und war in den Kommentaren für ihre Sentimentalität belächelt worden. Sie hatte es vermutlich gemeint als ein schönes Liebesbekenntnis in schwieriger Zeit, als Aufmunterung dazu, etwas zu sagen, was allzu oft ungesagt bleibt. Bei dieser Art von Verwundbarkeit gibt es überhaupt nichts zu belächeln. Es sind nicht so sehr heroische menschliche Fähigkeiten wie Vernunft, Rationalität, wissenschaftlich-technischer Fortschritt und auch nicht die stets vielbeschworenen "Werte", die zu solidarischem und fürsorglichem Verhalten führen. Viel eher ist das die den Menschen gemeinsame und ganz unheroische Fragilität und Verwundbarkeit, was vielleicht auch eine Antwort auf die vor Corona vielbeklagte "Spaltung der Gesellschaft" ist.

Hoffnung dank Ungewissheit. Hoffnung auf positive Nebeneffekte. Hoffnung auf Humanität. Der Mensch ist ein zähes Tier. Wir wissen das sowohl aus eigener Erfahrung wie aus der Resilienzforschung. Menschen können Krisen meistern und sie tun dies auch. Nicht alle, nicht immer, nicht alle im gleichen Maße, und doch ist es im Grunde schon ohne Corona wie ein kleines Wunder, was Menschen in ihren Leben so alles wegstecken können. Auch darauf kann man hoffen. Und Hoffnung ist eine Motivation dafür, Einschränkungen in Kauf zu nehmen, die man vielleicht sonst mangels Evidenz ablehnen würde. Selbst das Netzwerk für evidenzbasierte Medizin, das in seiner ausführlichen Stellungnahme vor allem auf den grundsätzlichen Mangel an halbwegs gesichertem Wissen hinweist, kommt nicht um das Fazit herum: "Aber es ist nicht auszuschließen, dass die COVID-19 Pandemie eine ernstzunehmende Bedrohung darstellt, und NPIs (nicht-pharmakologische Interventionen wie "social distancing", Anm. d. A.) – trotz weitgehend fehlender Evidenz – das einzige sind, was getan werden kann, wenn man nicht einfach nur zusehen und hoffen will."

Erstveröffentlichung auf humanismus-aktuell.de

Unterstützen Sie uns bei Steady!
  1. Zum Beispiel Matthias Horx, der kein Sterbenswort über diejenigen verliert, die seinen bunten Herbst nicht mehr erleben, in ebendiesem um verlorene Angehörige, Freunde usw. trauern oder über andere Verluste hinwegkommen müssen:

    https://www.ebm-netzwerk.de/de/veroeffentlichungen/covid-19, aufgerufen am 26. März 2020.