Eine Frau weigert sich. Sie tut dies mit wortloser Entschlossenheit. Sie will kein Fleisch mehr essen. Sie magert ab. Ihre pflanzenhafte Sanftheit weckt das Begehren ihres Schwagers, vielleicht auch ihre Rebellion. Er macht sie zu seinem Modell, zum Objekt seiner Kunstphantasie und treibt sie in den Wahnsinn. Der nun auf Deutsch erschienene, bereits verfilmte Roman "Die Vegetarierin" der südkoreanischen Autorin hat tragische Größe.
Dieser kleine Roman ist kaum in einem Stück zu lesen. Was darin passiert, ist fürchterlich, so dramatisch, dass ich das Buch mehr als einmal zur Seite gelegt habe. Es geht um eine, die sich als Täterin fühlt und immer wieder Opfer ist. Der Gewalt ihres Mannes, ihres Vaters, ihres Schwagers. Sie wähnt sich als Mörderin all der Tiere, deren Fleisch zum Verzehr im häuslichen Kühlschrank eingefroren ist. Sie erfährt sich als blutrünstiges scharfkralliges Raubtier, in traumatischen Bildsequenzen quält ihr Vater einen Hund zu Tode. Sie wird Vegetarierin, unternimmt einen Suizid-Versuch, schließlich verweigert sie jegliche Nahrung, ersehnt nur noch zu werden wie eine Pflanze, nur noch von Licht zu leben.
Ob der Eros diese finale verkappte Todessehnsucht erzeugte oder diese sich in Gestalt des Eros camouflierte, wissen wir Leser am Ende mit Bestimmtheit nicht zu sagen. Oder ob Yong-Hye am Ende nur eine Verführte ist – der künstlerischen Phantasien ihres Schwagers.
Solche Fragen helfen dem Leser auch, sich von dem Geschehen zu distanzieren, das ihm schier die Gurgel zuschnürt. Es beginnt mit Szenen einer arrangierten Ehe, die sich beim ersten Bruch mit den Konventionen sofort wie von selbst auflöst, führt über Szenen, die fast an solche zu grenzen drohen, wie man sie auf einschlägigen Webseiten findet, direkt in die Psychiatrie, wo Yong-Hye schließlich zwangsernährt wird. Der Roman endet, ohne dass wir erfahren, ob Yong-Hye noch im Krankenwagen auf dem Weg zur Intensivstation stirbt, weil dieser Eingriff eine innere Blutung in ihr ausgelöst hat.
Dazwischen liegt eine Abfolge auch berückend schöner Bilder, ja Bilder. Dieser Roman, in dem so wenig gesprochen wird, lebt von den Bildern, welche die Autorin evoziert. Und die haben meistens etwas mit Pflanzen zu tun. Wenn der Künstler-Schwager die Anverwandte mit Blumen bemalt, auch seinen Malerkollegen, um die beiden als Liebespaar in Aktion zu filmen. Wenn Yong-Hye aus der Psychiatrie in den Wald flieht, den auch die Schwester später als grün lohenden Flammenwald erlebt. Um zu werden wie die Pflanzen, stellt sich Yong-Hye stundenlang auf den Kopf, auf dass ihr Schritt nur noch vom Regen benetzt werde und ihr Kopf im Boden Wurzeln schlage. Eine Revolte im allerbuchstäblichsten Sinne. Und der sie nicht gewachsen ist.
Das Werkchen hat die Eindringlichkeit einer griechischen Tragödie. Yong-Hye ist eine fernöstliche Antigone. Ihre Schwester, In-Hye, eine Alkmene. So weltzugewandt die eine, so weltabgewandt die andere. So konziliant die eine, so unverstellt die andere. Und doch steckt auch etwas von Yong-Hye in der anderen, denn sie ist gleichsam Katalysator des Geschehens, in ihrer Hilflosigkeit und Unversöhnlichkeit ob des Ehebruchs. Doch die Abwehr In-Hyes speist sich auch aus dem Wissen, selbst schon einen Blick in die Welt der blutigen Wahnbilder getan zu haben.
Davon was geschieht, wenn die Welt der Träume und der Alpträume Richtschnur für das Handeln in der wirklichen Welt wird, davon handelt mit unvergesslicher Eindringlichkeit dieses schmale großartige Buch und davon, wie ein Mensch Stück für Stück alles verliert, ihm alles abhanden kommt, selbst das Recht, über den eigenen Körper zu verfügen. Der emanzipatorische Impetus kommt hier aufs Äußerste stilisiert daher, und der Traum der Vernunft gebiert nun seelenfressende Pflanzen.
Han Kang: "Die Vegetarierin", aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee, Aufbau Verlag Berlin 2016, 190 S., 18,95 Euro