Die Frage, warum Gott – falls gütig und mächtig – so viel Leid zulasse, gehört zumindest seit Hiob zu den großen Themen der Theologie und Religionsphilosophie. Zahlreiche Menschen haben damit gerungen, und eine der prominentesten Antworten auf diese Frage ist die Pädagogisierung von Leid.
Gott, so heißt es, schuf die bestmögliche Welt, was unter anderem an der Tatsache erkennbar wird, dass es ethisches Verhalten gibt. Ein solches setzt jedoch Leid voraus, das uns zwar zunächst als ein Übel erscheinen mag, das aber bei richtiger Betrachtung gerechtfertigt ist. Denn es ist eine notwendige Voraussetzung sittlichen Verhaltens. Eine Welt mit Moralität ist ungleich besser als eine Welt ohne sie.
Alles Leid erfüllt somit eine wichtige Funktion, dient es doch der Ausbildung moralischer Tugenden wie Solidarität, Mitgefühl, Tapferkeit oder Pflichtbewusstsein. Damit jemand verzeihen, sich als mutig erweisen, Mitleid üben oder einer Versuchung widerstehen kann, bedarf es verschiedenster negativer Erfahrungen. Da es ohne diese keine Moralität geben kann, war Gott berechtigt, Leid zu schaffen.
Soweit das Argument, mithilfe dessen alles Leid und damit die Güte Gottes gerechtfertigt werden soll.
Aus Negativem folgt nicht immer Positives
Zwar führt Leid nicht selten zu Positivem wie Mitgefühl oder größerer Reife und Charakterstärke, aber – so der skeptische Einwand – dieser positive Effekt hängt von der Fülle und Größe des Leids ab. Für den Zusammenbruch ganzer Regelsysteme, für Tod und Vernichtung Unzähliger etwa bei einer Naturkatastrophe oder einem Genozid – für die Grauen der menschlichen Geschichte allgemein – gilt diese positive Konsequenz von Leid keinesfalls. Natürliche und moralische Katastrophen als Mittel zu einem guten Zweck zu interpretieren, ist blanker Zynismus. Denn viele können ob der Größe und Quantität von Leid, das sie unmittelbar oder mittelbar erleben, nichts Positives mehr empfinden. Sie sind emotional überfordert, werden verbittert und verhärmt. Wegen der Fülle an Leid, mit dem sie konfrontiert sind, verspüren viele keinen Wunsch, die Welt zu verbessern, sondern sie wollen – oft unbewusst – zerstören, was ihnen auch allzu oft gelingt. Aufgrund der Quantität an Leid empfinden Menschen oftmals das Gute, das die Welt zweifellos auch bietet, gar nicht mehr.
Nicht übergroßes Leid, sondern Verständnis, Zuneigung, Vertrauen und Geborgenheit sind der Nährboden des Wunsches, konkrete Situationen und damit die Welt ein wenig verbessern zu wollen. Weil dem so ist, hätte Gott allen Grund, die Leiden der Welt zu vermindern, und wäre er gütig, so täte er dies auch.
Angenommen, ein Kind erleidet aufgrund eines Blitzschlags unter fürchterlichsten Qualen langsam den Feuertod. Die Eltern sind außer sich und versuchen alles, um es doch noch zu retten. Aber ein allmächtiger Gott rechtfertigt sein Nichtstun so: "Ich wollte den moralischen Drang der Eltern, Leid zu vermindern, nicht stören." Ein solches Wesen, das in dieser Situation untätig bleibt, aber bei einer Hochzeit in großzügiger Weise angeblich Wasser in Wein verwandelte, ist nicht gütig, sondern dämonisch.
Zweifellos folgt aus Negativem manchmal Gutes – in der Ökonomie spricht man hier vom Wirken einer "Unsichtbaren Hand". Aber oft genug zieht Böses wieder Böses nach sich. "Wer Gewalt sät, wird Gewalt ernten", heißt es so treffend. Und im Alten Testament ist zu lesen, dass derjenige, der Wind sät, einen Sturm ernten wird.
Mitleid und Solidarität sind keine Werte an sich
Aber nicht nur folgt aus dem Negativen oftmals Negatives, also nichts Gutes. Der Versuch, Gott durch die Pädagogisierung von Leid zu entlasten, ist noch aus einem weiteren Grund wenig überzeugend: Dass Mitgefühl und Solidarität in einer Welt voll Leid große Güter sind, ist unbestritten. Aber die Frage stellt sich, warum der Allmächtige eine Welt mit so viel Leid kreiert hatte.
Gott verfügte nämlich über andere Möglichkeiten und hätte beispielsweise sogleich paradiesische, also leidfreie Zustände schaffen können. In einer solchen wären Mitgefühl und Solidarität keine überragenden Güter, aber anstatt sich um Krankheiten aller Art kümmern zu müssen, könnten Menschen sich in einer solchen Welt viel stärker anderen Dingen, der Kunst oder der Wissenschaft etwa, widmen.
Also nicht nur die Behauptung, dass aus Negativem stets Positives folgt, ist falsch; auch die Annahme, dass etwa Mitgefühl und Solidarität an sich große Güter seien, ist unrichtig. Somit ist die Behauptung, dass Gott die bestmögliche Welt geschaffen hat, wenig plausibel.
Von diesem Versuch, das Leid und die Güte Gottes durch den Hinweis auf Moralität zu rechtfertigen, existiert noch eine andere Variante, der zufolge Gott Leid nicht deshalb schuf, damit die Welt zu einem moralischen Ort würde, sondern um Menschen zu einem gottgefälligeren Leben zu erziehen. Leid gilt hier als ein notwendiges Mittel zum individuellen Du zwischen Gott und Seinen Geschöpfen. Diese Form einer "Vergöttlichung" des Negativen bildet die Folie verschiedener theistischer Behauptungen: "Das Leid ist die Hilfe Gottes, um die Seele aus den Händen des Feindes zu befreien"; "Das Leid beschleunigt den Weg zu Gott"; "Durch das Leid entzieht Gott der Seele den irdischen Trost und nötigt sie, himmlischen Trost zu suchen"; "Not und Leid wird den Menschen gesandt, damit sie vor Trägheit und Schlaffheit bewahrt bleiben". Und schließlich unüberbietbar: "Not lehrt beten!"
Aber erneut stellt sich die Frage nach dem Bestmöglichen: Warum sollte gerade Leid dasjenige sein, was Schöpfer und Geschöpf am engsten miteinander verbindet? Käme ein allgütiges Wesen auf keine bessere Idee? Irdische Eltern werden jedenfalls andere Möglichkeiten ersinnen, um einander nahe zu sein. Wie wäre es beispielsweise mit Liebe, Respekt, Verständnis oder einfach mit: aufmerksamem Zuhören?
Fazit
Das Vertrauen in einen gütigen und barmherzigen Gott ist in vielen Fällen menschlich, allzu menschlich, um das Leid in der Welt ertragen und hinter dem Schrecklichen noch an einen weisen Plan glauben zu können. Aber die Existenz eines höchsten Wesens, das alle positiven Eigenschaften in sich vereint, ist wenig plausibel. Denn so, wie die Welt nun einmal beschaffen ist, spricht dies dafür, dass Diesseits und Jenseits eher von einem Dämon regiert werden oder, was am wahrscheinlichsten ist, dass es überhaupt kein höchstes Wesen und keinen göttlichen Plan gibt.
Aber gehen wir einmal von dem für Theisten bestmöglichen Fall aus, dass doch begründet werden könne, dass alle Leiden entweder gerechtfertigt oder allein durch Menschenhand verschuldet seien. Aber damit wäre die Güte Gottes immer noch nicht gezeigt, denn es ist nicht einzusehen, wie ein solcher Gott auf die Idee kommen konnte, eine derart leidvolle Welt aus dem Nichts zu schaffen. Käme ein gütiges Wesen je auf die Idee, eine Welt zu planen, in der beispielsweise Folter notwendig und damit gerechtfertigt ist, und diesen Plan dann auch noch in die Tat umzusetzen?
Aus der Rechtfertigung allen Leids folgt also immer noch nicht die Güte Gottes.
Aber gehen wir erneut von dem für Theisten bestmöglichen Fall aus, dass es doch irgendwie gelänge, die Güte Gottes zu zeigen. Aber dann wäre nur begründet, dass Gottes positive Eigenschaften mit der Wirklichkeit verträglich sind. Es wäre noch nicht gezeigt, dass es einen solchen Gott auch gibt.