Das Anwachsen der Gruppe der Konfessionsfreien und das Hinzukommen des Islam unterziehen die deutsche Religions- und Weltanschauungsfreiheit einer Prüfung, die zu einem reformierten Religionsrecht führen sollte, das kein herkömmliches Staat-Kirchen-Recht mehr sein kann. So die Tendenz von Hans Markus Heimann im vorliegenden Buch. Seine Vorschläge haben eine gewisse Nähe zu denen des HVD, den der Autor aber wahrscheinlich gar nicht kennt. Eine große Distanz zu "laizistischen Puristen" durchzieht die Publikation, die von Horst Groschopp im Folgenden rezensiert wird.
Hans Markus Heimann (Jg. 1968) ist Jura-Professor an der politisch einflussreichen Verwaltungshochschule des Bundes. Er hat ein gut lesbares Buch über Deutschlands Religionsverfassung geschrieben und spricht darin historisch gewachsene Konflikte wie die Staatsleistungen seit 1803 und den Religionsunterricht ebenso an wie ganz neue, etwa die Burka-Frage. Deutschlands Religionsverfassung, so Heimann, wird geprägt durch ein "grundsätzlich säkulares Staatsverständnis" (S. 23), das an einen "staatskirchlichen Überhang" (S. 32) gefesselt ist. Beides ergibt sich aus dem Grundgesetz, interpretiert durch die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts.
Bei Bewertungen des Alten wie des Neuen kann ein "allein christliches oder abendländisches Verständnis von Religion … nicht maßgeblich sein" (S. 53). Bei religiösen Symbolen in staatlichen Räumen (vgl. S. 91 ff.), Schulgebeten (vgl. S. S. 95 ff.), ja sogar in Sachen Militärseelsorge (vgl. S. 97 f.) sieht der Autor dringenden Handlungsbedarf entsprechend dem Neutralitätsgebot des Grundgesetzes. Ein Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst wäre grundgesetzwidrig (vgl. 107). Anders liege die Situation bei Niqab und Burka. Sie seien zwar ebenfalls nicht zu verbieten, aber, wenn man von religiösen Gründen absehe und solche nicht anführe, seien Einschränkungen in bestimmten Bereichen angezeigt (öffentlicher Dienst).
Wenn das Schächten religiös plausibel begründet werde, habe Religionsfreiheit den Vorrang. Ähnliches gilt für Beschneidungen von Jungs, nicht aber von Mädchen (vgl. S. 116 ff.). Glockengeläut und Muezzinruf gehören in die Rubrik Lärmemission. Das Kirchenasyl stelle die Akzeptanz des Rechtsstaates in Frage (vgl. S. 120 f.). Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts seien "eine Chimäre: Sie können sich des öffentlichen Rechts bedienen, ohne Teil des Staats zu sein" (S. 142). Der Status sei veraltet und gar nicht nötig.
In Sachen "Blasphemie" zeige sich noch das 19. Jahrhundert und die überwundene Bindung des Staates an Religion: "Es spricht viel dafür, dass § 166 StGB gegen das Grundgesetz verstößt" (S. 132 f.). Weniger kritisch fällt seine Sicht auf die Theologischen Lehrstühle aus (vgl. S. 204 ff.), die er nicht aus dem Kanon der Wissenschaftsanbieter entlassen möchte, auch, weil er "die Einrichtung islamwissenschaftlicher Lehrstühle und Studiengänge in Deutschland trotz vieler damit verbundener Schwierigkeit (für) sinnvoll" hält (S. 208). In seine Argumentation fließt seine Überzeugung ein, dass eine reformierte Religionsverfassung "ohne eine gewisse Weiterentwicklung im Islam hin zu einer säkularen Orientierung nicht zu gehen" scheint (S. 203).
Heimann dekliniert die einzelnen Konfliktgebiete als Reformaufgaben durch. Nicht ganz schlüssig sind dabei die Ausführungen zum kirchlichen Arbeitsrecht. Dieses sei zwar problematisch, entspreche aber der Rechtsprechung des EGMR. Man werde sehen, wie sich künftig das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und die Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer zueinander verhalten (S. 121 ff.). Das Problem des erzwungenen Kircheneintritts bei Monopolstellungen des kirchlichen Arbeitgebers behandelt Heimann nicht, wie überhaupt ostdeutsche Besonderheiten vernachlässigt werden, obwohl gerade sie Reformnotwendigkeiten aufzeigen in einem weitgehend religionsfernen Umfeld. Bei der Kirchensteuer betont Heimann, dass dieses schließlich allen Gemeinschaften offen stünde, aber er übersieht, dass hier der Staat für die Kirchen nicht nur die "Vereinslogistik" betreibt, letztlich kirchliche Aufgaben wahrnimmt, sondern auch in der andauernden Verfolgung von "Kirchensteuerflüchtigen" in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz geradezu kriminalistischen Eifer entfaltet.
Der Autor unterbreitet zahlreiche Lösungsangebote, die sich durch Erfahrungen mit verwaltungsrechtlichen Vorgängen auszeichnen und dadurch Praktikabilität gewinnen. Dabei betont er immer wieder, dass der Staat Gesetze benötige, die auf seiner unbedingten Neutralität fußen, davon geleitet werden und diese stärken. Letztlich sei nicht der Staat "multireligiös", wie der Buchtitel behaupte, sondern die Gesellschaft (vgl. S. 17). Aber um die Herausforderungen an den Staat zuzuspitzen, spricht Heimann vom "multireligiösen Staat".
Wie sehr sich der Staat bei Werturteilen und Sinnvorgaben zurückhalten müsse, exemplifiziert der Autor streng säkular am Ethikunterricht. Seine Position wird vielen Säkularen allerdings missfallen, weil er das Problem konsequent zuendedenkt: Der Staat dürfe keine Werte-Erziehung betreiben, könne aber, ausgehend von der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, Werte-Diskussionen auch in staatlichen Schulen befördern, unter Beachtung, dass das Grundgesetz keine Sammlung von Glaubensartikeln sei (S. 172). Er dürfe dies allerdings nicht als "Ersatzunterricht" für das Fach Religion (S. 177).
Da Toleranz eine "Verhaltenstugend" (S. 46) sei und "kein Schlüssel zur staatlichen Bewältigung multireligiöser Konfliktlagen" (S. 37); und weil der Staat auf dem Feld der religiös-weltanschaulichen Bekenntnisse "nicht Gesinnungen, sondern nur Taten sanktionieren" (S. 43) könne, entwickelt Heimann ein Programm der Pluralität. Darin denkt er die "Konfessionsfreien" eher passiv. Sie nehmen zwar an Zahl ständig zu. Sie erreichen – teilweise gestützt auf Befunde von fowid – nahezu ein Drittel der Bevölkerung. Das stelle "das traditionell freundliche Verhältnis der Bundesrepublik zur Religion in Frage" (S. 11). Und: "Die rechtlichen Strukturen sind also auf ihre Legitimität hin zu untersuchen" (S. 13). Insbesondere Erziehungsziele wie "Ehrfurcht vor Gott" usw. seien "mit dem Grundgesetz nicht vereinbar" (S. 88). Aber: Die "Konfessionsfreien" treten nicht als handelndes Subjekt in Erscheinung.
Die "Konfessionsfreien", so ist der Heimann-Text zu lesen, der diesen Begriff nicht benutzt, sind im Gefüge der Sinngebungen, Gesinnungen und Glaubenswelten weltanschaulich nicht verifiziert. Sie agieren schon gar nicht als Großgruppe in den Strukturen, die das Verhältnis von Staat und Religion im Grundgesetz regeln. Für sie gelte vor allem die negative Religionsfreiheit, darunter das Geschütztwerden vor Religion (vgl. S. 64 f.). Das habe allerdings traditionell ein geringeres Gewicht als die positive Religionsfreiheit. Als Inhaber von Weltanschauungen unterscheiden sie sich von Religionen durch den von ihnen zurückgewiesenen transzendenten Bezug (vgl. S. 55 ff.). Weltanschauungen seien wie Religionen geschützt und diesen zwar grundsätzlich gleichgestellt. Jedoch gäbe es auf Seiten der Weltanschauung nur etwa 37.000 organisiert tätige Personen, zu wenig, um Relevanz zu bekommen (vgl. S. 18). Das ist eine freundliche, aber wohl richtige Zahl, gestützt auf Thomas Großbölting, Der verlorene Himmel, 2013, S. 185 (so auch REMID u.a.).
Die Konfessionsfreien profitieren zwar allgemein von der Neutralität des Staates. Auch sei der Staat verpflichtet, die "Parität nach der zahlenmäßigen Relevanz einer Religion in der Bevölkerung" (S. 30) zu berücksichtigen. Aber: Sie kommen im Grundgesetzkontext nicht gesondert vor, im Gegensatz zu den "Religionsgesellschaften", womit vor allem die Kirchen gemeint sind. Diese verlangen nun von den neuen Akteuren "Kirchenförmigkeit", wenn sie am "Privilegienbündel" beteiligt werden wollen.
Zu den Neuen rechnen vor allem die Muslime. Über sie herrsche Klarheit, dass der Islam eine Religion sei und die Gläubigen entsprechende Gemeinschaften bilden. Es gelte das Prinzip der absoluten Religionsgleichheit (vgl. S. 88 f.). Man könne von ihnen nicht verlangen, wie Kirchen zu werden. Dem Staat sei sogar wegen des Trennungsgebotes verboten, so etwas zu befördern. Entsprechende Versuche seien letztlich verfassungsfremd. Also müsse der Staat, der kein laizistischer sei, müssten vornehmlich die Länder den Muslimen etwa beim Religionsunterricht entgegen kommen, wenn die Muslime diesen überhaupt selbst wollen. Der Staat könne aus grundgesetzlichen Erwägungen nicht von sich aus diesen initiieren (vgl. S. 164). Mit Religionsunterricht dann auch noch eine bessere "Integration" erreichen zu wollen, widerspreche ebenfalls dem, was der Staat dürfe und Zweck des Religionsunterrichts sei.
Der von Heimann detailliert unterbreitete Vorschlag, "religiöse Vereinigungen" (hinzufügen wäre: und "weltanschauliche") zu gründen, die der "Religionspflege" ihrer natürlichen Mitglieder dienen (vgl. S. 182), als "Religionsunterrichtsgesellschaften" (S. 183 f.) auf diesem Feld wie Religionsgesellschaften zu behandeln, ist auch für humanistisch orientierte Konfessionsfreie interessant und würde z.B. den HVD entlasten, quasi als "Konfession", wie Kirche, aufzutreten:
"Religionsgemeinschaft" in Art. 7 Abs. 3 GG sollte also in einem weiten Sinne verstanden werden, gleichsam als "Religionsunterrichtsgemeinschaft". Hierunter fällt auch ein religiöser Verein, der in Ermangelung sonstiger organisatorischer Strukturen eines Bekenntnisses für die Einrichtung schulischen Religionsunterrichts eintritt und zumindest hinsichtlich des zu vermittelnden Lehrstoffes ein homogenes Bekenntnis unter seinen Mitgliedern aufweist. (S. 180)
Heimann entfaltet auch, wie das staatliche Eingriffs- und Aufsichtsrecht gestaltet werden könnte und dass diese "Religionsunterrichtsgesellschaften" berechtigte Ansprüche hätten (bekommen sollten) hinsichtlich ihrer Universitätsanbindung bei der Ausbildung von Lehrern.
Das Berlin-Brandenburger HVD-Schulfach "Humanistische Lebenskunde" ist Heimann unbekannt und es scheint wie bei anderen sehr weit westlich angesiedelten Autoren entweder mal wieder eine Verwechslung mit dem Brandenburger Fach LER (Lebensgestaltung, Ethik, Religionskunde) vorzuliegen oder Unkenntnis (vgl. S. 168).
Heimann legt in seinem Buch "Neutralitätsausnahmen" dar (vgl. S. 34 f.) und hält mit seiner Kritik an "Religionsverträgen", für ihn "vordemokratischen" Ursprungs, nicht zurück. Er sieht darin "kein geeignetes Regelungsinstrument mehr für das Verhältnis von Staat und Religion" (S. 216, 217). Es versteht sich, dass dieser kritischen Position auch seine Haltung zu den Staatsleistungen folgt (vgl. S. 154 ff.). Diese Zahlungen seien nicht mehr vermittelbar, vielmehr der Ablösungsauftrag des Grundgesetzes sei ein Kern der deutschen Religionsverfassung. Ausgehend von den Ländern seien entsprechende Initiativen geboten. Eine 15- oder Zwanzig-Jahre-Übergangszeit sei denkbar.
Von diesen klassischen Staatsleistungen grundsätzlich zu unterscheiden wären allerdings die Subventionen für öffentliche Aufgaben, etwa für den Religionsunterricht, die freie Wohlfahrtspflege oder andere Felder. Allerdings sieht Heimann auch hier Reformbedarf. So "muss sich die staatliche Seite fragen lassen, ob die Trägerauswahl in der freien Wohlfahrtspflege für eine religiös nicht mehr homogene Bevölkerung modifiziert werden muss." (S. 162) Doch kann man diese freien Träger, sei es in Form weiterer säkularer oder auch islamischer Anbieter, ebenfalls nicht "erfinden". Weitere Schritte in Richtung Pluralität setzt eben auch bei den "Säkularen" dienstleistungswillige Vereine voraus, die z. B. der Humanismuspflege dienen. Für einen schulischen Weltanschauungsunterricht gilt dies adäquat.
Hans Markus Heimann: Deutschland als multireligiöser Staat. Eine Herausforderung. Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag 2016, 250 S., mit einem Anhang relevanter Gesetzestexte, ISBN 978-3-10-002477-0, 22,99 Euro
3 Kommentare
Kommentare
Hans Trutnau am Permanenter Link
"Wenn das Schächten religiös plausibel begründet werde, habe Religionsfreiheit den Vorrang. Ähnliches gilt für Beschneidungen von Jungs, nicht aber von Mädchen" - inwiefern plausibel und warum Vorrang?
Martin Mair am Permanenter Link
Gibt es im Buch denn überhaupt eine Auseinandersetzunmg mit der Aufklärung, die ja gerade für das Rechtsverständnis sehr wichtig ist, ober bleibt der Auto beim Rechtsverständnis des absolutistischen Staates?
Markus Schiele am Permanenter Link
"Wenn das Schächten religiös plausibel begründet werde, habe Religionsfreiheit den Vorrang. Ähnliches gilt für Beschneidungen von Jungs, nicht aber von Mädchen."
Wer zu solchen Urteilen kommt, kann eigentlich nur einen Knoten im Hirn haben. Das Leiden geschächteter Tiere ist definitiv real, Religionen hingegen sind Hirngespinste. Wie also sollte Schächten "plausibel begründet" werden? Und Beschneidung (ohne driftigen Grund in der realen Welt) greift immer in das Recht der körperlichen Unversehrtheit ein, während Religionsfreiheit Selbstbestimmungsrecht (der Eltern) ist und kein Fremdbestimmungsrecht (über ihre Kinder).