Virtual Rationality Congress

Rationalität in Krisenzeiten

Wie schaffen wir es, als Einzelne und als Gesellschaft vernunftgeleitet zu entscheiden und zu handeln? Was ist überhaupt Rationalität? Und wie lauten die Kriterien, mit deren Hilfe wir rationale von irrationalen Argumentationen unterscheiden können? Mit diesen und anderen Fragen setzte sich der "Virtual Rationality Congress 2020" des Hans-Albert-Instituts und der Giordano-Bruno-Stiftung auseinander.

Gerade in Zeiten, in der Verschwörungstheorien großen Zuspruch finden und sämtliche Standards der Rationalität untergraben werden, braucht es eine starke Stimme der Vernunft. Doch so leicht es ist, Rationalität gegenüber anderen einzufordern, so schwer ist es, selbst den Anforderungen der Rationalität zu genügen. Denn wir alle leben in unseren jeweiligen Filterblasen, in unseren jeweiligen Echokammern und führen uns dies nur selten vor Augen. Um das Bewusstsein für die Fallstricke des Denkens zu schärfen, veranstaltete das Hans-Albert-Insititut (HAI) in Zusammenarbeit mit der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) einen Online-Kongress zum Thema "Rationalität in der Krise", dessen einzelne Vorträge inzwischen auf dem YouTube-Kanal des HAI abrufbar sind.

Sophie Strobl, Direktoriumsmitglied des HAI, betonte in ihrer Begrüßung die Notwendigkeit einer kritisch-rationalen, wissenschaftlichen Sicht auf die Welt: "Wir haben über die letzten Monate hinweg in vielen Ländern gesehen, was passiert, wenn in der Politik wissenschaftliche Fakten ignoriert werden. Und wir sehen auch die Auswirkungen von zunehmender Polarisierung und zunehmendem Lagerdenken in unserer Gesellschaft, wenn die Akzeptanz von Fakten davon abhängt, zu welchem politischen Team man gehört." Umso wichtiger sei es, dass sich politische Entscheidungen an der Realität messen lassen und die Regeln einer zivilisierten Streitkultur eingehalten werden.

Als erster Referent untersuchte Michael Schmidt-Salomon die Gründe dafür, warum es uns so schwerfällt, rational zu sein, und wie wir es vielleicht doch schaffen können, unsere Fehleinschätzungen und gefühlten Wahrheiten zu überwinden. Der Philosoph und Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung erklärte, dass Menschen insbesondere dann zur Irrationalität neigen, wenn sie "in eine sozio-kulturelle Matrix hineinsozialisiert werden, die sie mit irrationalen Gewissheiten ausstattet". Aufgrund der biologischen Beschränktheit des Menschen sei es grundsätzlich schwierig, vernünftig zu sein und die vermeintlichen Gewissheiten kritisch zu überprüfen. Statt bewusst und tief nachzudenken, so Schmidt-Salomon, ließen wir uns lieber von unseren Intuitionen leiten, die höchst fehleranfällig sind. Grund zur Resignation sei dies jedoch nicht: Denn wer sich die anstrengenden Techniken des rationalen Denkens erst einmal angeeignet habe, setze sie später "ganz intuitiv ein, ohne darüber nachdenken zu müssen". Rationalität könne demnach auch als "Lebensweise" verstanden werden, so wie es Hans Albert vor etwa 50 Jahren gefordert hatte.

Im Anschluss stellte der renommierte Hirnforscher und Neuropsychologe Lutz Jäncke die provozierende Frage, "ob das Hirn vernünftig ist". Er legte dar, wie unser Gehirn das Denken, Handeln und Fühlen beeinflusst – und dass das manchmal nur am Rande mit Vernunft zu tun hat. Um dies zu verdeutlichen, wies Jäncke darauf hin, dass der Mensch sich aus evolutionären Gründen bloß auf das Wesentliche, also Überlebensnotwendige konzentriere. Dabei sei der größte Teil der Hirnaktivität mit unbewussten Prozessen verbunden. Unsere Entscheidungen basierten meistens nicht auf analytischen und logischen Bewertungen, sondern auf Heuristiken, die individuell stark gefärbt und kulturell eingewoben sind.

Weiter ging es mit einem Vortrag der Bloggerin und Netzaktivistin Katharina Nocun, die sich mit Verschwörungstheorien auseinandersetzte und die Gründe aufzeigte, die uns Menschen für derartige Erklärungsmuster besonders anfällig machen. Zwar wirkten entsprechende Narrative mit ihrem Gut-Böse-Schema, ihrer Kritikimmunisierung und der Legitimierung von Gewalt insbesondere in der rechtsextremen Szene als Radikalisierungsbeschleuniger. Zugleich dürfe man sie aber auch nicht als Randphänomen missverstehen. Vielmehr seien sie quer durch die politischen Lager innerhalb der Gesellschaft verankert. Wichtig sei es, so Nocun, unter anderem Aufklärungsprojekte zu fördern und sich mit jenen Betroffenen solidarisch zu zeigen, die ins Fadenkreuz von Verschwörungsideologen geraten sind.

Der Philosoph und Ökonom Nikil Mukerji setzte den Kongress mit einem Vortrag über "Die zehn Gebote des gesunden Menschenverstands" fort. Darin erläuterte er die zentralen Grundsätze des vernünftigen Denkens. Diese erscheinen bei erstmaliger Betrachtung zwar trivial, sind aber – wenn es in der Praxis darauf ankommt – mitnichten einfach abzurufen und einzuhalten. Vieles sei jedenfalls gewonnen, wenn man "Ordnung ins Denken" bringt, also eine klare Kernfrage zu einem Problem formuliert und sich dabei nicht in assoziativen Gedankenspielen verliert.

Im anschließenden Vortrag ging der Philosoph Adriano Mannino der Frage nach, inwiefern Rationalität nicht nur für die Wahrheitssuche wichtig ist, sondern auch eine ethische Dimension besitzt. Er zeigte, wie Erkenntnistheorie, Risikoethik und Entscheidungstheorie bei existenziellen und schnell erforderlichen Herausforderungen ohne sichere Datengrundlage helfen können. Zur Risikoabsicherung sei es unabdingbar, rationale Entscheidungen unter Ungewissheit zu fällen – so wie es etwa in der Corona-Krise unter drängendem Zeitdruck erforderlich war. Rückblickend sei dabei klar geworden, dass die Gefahr der Pandemie zuerst verkannt wurde, dann viel zu spät reagiert wurde und deshalb ein eigentlich vermeidbarer Lockdown erfolgen musste.

Zuletzt führte die Ärztin Natalie Grams durch den Dschungel medizinischer Halbwahrheiten. Sie machte klar, wie wertvoll ein wissenschaftlicher Zugang bei der Bewertung von Behandlungsmethoden ist – gerade auch im Hinblick auf die hohe Attraktivität falscher Heilsversprechen durch alternativ- beziehungsweise pseudomedizinische Angebote. Eine faktenbasierte Medizin orientiere sich an strengen Standards wissenschaftlicher Forschung und Praxis, die es uns ermöglichen, rationale Gesundheitsentscheidungen zu treffen.

HAI-Direktoriumsmitglied Florian Chefai beendete den Kongress mit einem Ausblick auf die geplanten Aktivitäten des Instituts. In den nächsten Monaten wolle man sich weiter mit den Fragen der Rationalität auseinandersetzen. Dazu wird unter anderem eine Broschüre veröffentlicht, in der die wissenschaftstheoretische Position des Kritischen Rationalismus und ihre gesellschaftliche Relevanz allgemeinverständlich dargestellt wird.

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