Was wir aus COVID-19 für die Digitalpolitik lernen können

Reinheit vs. Resilienz

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Vernetzt
Vernetzt

Leugnung, Eingrenzung, Abmilderung, Laissez-faire. Aus den politischen Reaktionen auf die Corona-Pandemie lassen sich interessante Parallelen in andere Bereiche ableiten. Nicht zuletzt auf die Digitalpolitik.

Der Stau ist lang. Über 40 Kilometer und bis zu 30 Stunden lang stehen die LKW an der polnischen Grenze, mit teilweise dringend benötigten Gütern. Und vor allem mit unvorbereiteten, hungrigen und frierenden Insassen. Wer gut informiert ist, weiß: Keine Regierung wird ihr Land mit dieser mehr oder weniger populären Maßnahme gegen die Infektion schützen können. Bestenfalls wird Zeit gewonnen – und nur darum kann es gehen.

Mit der Corona-Krise durchleben wir einen exemplarischen Lernprozess. Archaisches Denken stößt auf die Moderne, auf eine unumkehrbar globalisierte Welt, und ist ihr nicht gewachsen. Nazivergleiche im Netz sind ein alter Witz, aber tatsächlich möchte ich die Faschismustheorie bemühen, um die sich gegenüberstehenden Gedankenwelten aufzuzeigen. Denn wie Eco oder Theweleit es lesenswert beschreiben, ist der Faschismus keine historische Epoche, sondern ein beständiges Denkmuster.

Wir alle haben einiges über das COVID-19-Virus lernen müssen. Wie schnell man sich auf welchen Wegen anstecken kann, wer am stärksten gefährdet ist, welche Maßnahmen helfen, was eine geeignete Strategie ist zur … Ja, was eigentlich? Hier geht es ans Eingemachte.

Verleugnung, Eingrenzung oder Milderung?

Die zunächst ungeschulten politischen Reaktionen auf das Virus folgten kurzfristigen und eigennützigen Zielen:

Phase eins: "Unterstellung!"

Zuerst wurde geleugnet und die Information unterdrückt. Ein erschreckend verbreiteter Zug in Autokratien: Bei uns kann so etwas nicht auftreten, sicher handelt es sich um eine böswillige Verleumdung! Mit fatalen Folgen. Der einzige Zeitpunkt, an dem man das Virus eventuell hätte vernichten können, wurde vergeben. Was folgte, war der Gang aller Epidemien – die mathematisch unerbittliche Ausbreitung gemäß dem Ansteckungsmuster.

Phase zwei: "Alles unter Kontrolle!"

Eindämmung – schon das Wort beinhaltet die Angst vor der Flut. Wenn wir das Gebiet eingrenzen, bewachen, so dass niemand rauskommt, haben wir gewonnen. Die drinnen haben halt Pech, sie tragen das Stigma. Doch hier wird es unrealistisch: Menschen und Viren lassen sich nicht absolut eingrenzen, nicht an Grenzübergängen, nicht an Zäunen oder bewachten Mauern – sogar Nordkorea wird feststellen müssen, dass es nicht wasserdicht ist. Auch in Deutschland gab es die Forderungen, jetzt schnell die nationalen Grenzen zu schließen. Tatsächlich mit der Hoffnung, die Epidemie damit fernzuhalten. Als seien wir nicht spätestens über zwei Ecken verflochten mit Wuhan. Als gäbe es "uns" und "die".

Phase drei: nach Wissensstand handeln

Erkennen, es hilft nichts. Es kommt allein auf die Zeit an, die das Virus auf seinem Durchseuchungszug braucht. An einer Immunität, einem schmerzhaften und manchmal tödlichen Lernprozess führt kein Weg vorbei. "Flatten" wurde das neue Wort für zuhause bleiben: Flatten the Curve. Die Kommunikation dieses schon relativ komplexen Vorgangs gelang mit der berühmten Infografik.

Flatten

Die Auswirkungen, Begründungen und die Verhältnismäßigkeit der massiven Verlangsamung des öffentlichen Lebens wurden viel diskutiert. Wie es sich für eine Demokratie gehört, gab es Stänkerer, Ignoranten, Leugner, Fake News, zahllose Appelle, Unvernunft und letztlich auch viel Vernunft. Und die Erkenntnis: Phase eins und Phase zwei sind gründlich schief gegangen. Weil sie einer falschen, chauvinistischen "Wir-gegen-die"-Logik folgten.

… und wenn man es einfach laufen lässt?

Randnotiz: Es gibt noch eine vierte, quasi-libertäre Variante, anfangs vertreten etwa von Boris Johnson. Ein leutseliges "wird schon nicht so schlimm kommen", "die Herdenimmunität wird das schnell regeln". Das kommt zunächst sympathisch unaufgeregt rüber, wäre aber im Falle COVID-19 wohl deplatziert gewesen. Zum Beispiel in den USA wäre nach dieser Methode mit mehreren Millionen Corona-Toten zu rechnen. Noch schneller als im medizinischen Bereich hat man diese quasi-libertäre Haltung im Bereich der Wirtschaft verlassen: Wo es sonst (je nach Argumentationslage) der Markt regeln soll, wird jetzt – zum Glück und wo immer möglich – mit beispiellosen Staatshilfen gestützt.

Denkschulen und Mentalitäten

Diese verschiedenen Haltungen stehen archetypisch für Mentalitäten, die sehr verschieden auf Herausforderungen reagieren.

Der autoritäre Geist möchte Gewissheiten, Homogenität, Kontrolle, Übersicht. Kulturell huldigt er dem (vermeintlich) ewig Wahren, Guten und Schönen, der (vermeintlich) wahren Religion und dem (vermeintlich) homogenen Vaterland. Das Fremde, Unbekannte und Amorphe ist ihm tief suspekt. Städte haben für die Obrigkeit überschaubar zu sein (Haussmann, Speer). In autoritären Staaten hat man es bekanntlich gern übersichtlich, fest und kontrollierbar. Fluten, Flüssigkeit, Schmutz, führen zu einem gefühlten Kontrollverlust und lösen tiefes Unbehagen bei den Regierenden aus.

Seinen Ausdruck fand dieser Geist in der Kolonialzeit, im Rassenwahn, im Deutschen Faschismus, aber auch in fast allen heutigen autoritären Staatsformen, von Putin bis Kim. Er beruht auf Trennung und scheinbarer Überlegenheit: der Protestanten über Katholiken (und umgekehrt), Muslime über Juden (und umgekehrt), Russen über Polen (und umgekehrt), Alteingesessene über Zugewanderte (und umgekehrt) etc. pp. Dieser Geist bestimmt die Agenden der autoritären Regierungen – von der Stadtplanung über das Gesundheitssystem bis zur Digitalpolitik.

Demgegenüber steht das liberale, moderne Denken. Es bemüht sich um ein realistisches Menschenbild, weiß um die Schwächen und Stärken der Menschen und der Gesellschaft. Es denkt in Kategorien von Immunität und der Resilienz einer ständig lernenden Gesellschaft. Ohne Pluralismus, ohne den Kontrast, ist eine Wahrnehmung des gegenwärtigen Zustandes nicht möglich. Das Fremde und das Experiment erwecken daher Neugier. Sprache darf sich verändern, neue Einflüsse sind willkommen oder zumindest selbstverständlich. Der Mischlingshund erscheint den aufgeklärten Menschen gesünder als der reinrassige, aber hüftkranke Deutsche Schäferhund.

Zusammengefasst: Totalitäre Geister glauben sich im Besitz der absoluten Wahrheit, passen diese nur in höchster Not an und behaupten dann, es schon immer gewusst zu haben. Liberal orientierte Menschen dagegen kultivieren den Zweifel und das Ringen um Erkenntnis.

Einmal Lernkurve und zurück

Konfrontiert mit Veränderungen (Digitalisierung) oder Krisen (Corona-Krise) reagieren diese Denkschulen, wie wir gesehen haben, auf völlig unterschiedliche Weise. In der Corona-Krise wurde zum Beispiel in China eine steile Lernkurve quer durch die drei beschriebenen Haltungen hingelegt – was zu erheblichen ideologischen Dehnungsfugen geführt hat.

Dass die chauvinistischen Rezepte diesmal in kürzester Zeit als wirkungslos überführt waren, hat zu erstaunlichen ideologischen Lockerungen unter den selbstzufriedenen Regenten geführt: Trump entdeckt den Sozialstaat und lässt sich sogar selbst zu einem Corona-Test herab. Xi lockert die Nachrichtensperre. Die Rechtspopulisten in Europa stimmen für mehr Staatsausgaben. Sogar die meisten Religionen vertrauen lieber dem Menschenverstand und zeigen sich flexibel: Der nationale Gebetstag soll nun doch lieber zuhause durchgeführt werden, auf Weihwasser verzichtet man, ausnahmsweise.

Doch kaum hat man sich besonnen, folgt der Backlash auf dem Fuße: In der Bevölkerung gibt es Toleranz gegenüber Eingriffen in die Grundrechte? Sofort weckt das Begehrlichkeiten, endlich mal Zugriff auf personalisierte Telefondaten zu bekommen. Und bald werden auch wieder Mythen und Verschwörungstheorien nachgereicht, mit denen den anderen Schuld an dem Desaster und niedere Interessen nachgewiesen werden: Trump nennt Corona das "Chinese Virus", in China verbreiten offizielle Stellen eine Theorie vom Freisetzen des Virus durch US-Militärs bei einem Besuch in Wuhan. Unvergessen die Ansprache des stellvertretenden iranischen Gesundheitsministers Harirchi, der Corona als ausländische Panikmache abtut, während er sich fortwährend den Fieberschweiß von der Stirn wischt.

Was wir daraus für die Netzpolitik lernen können

In der Digitalpolitik wirken dieselben Mythen, Denkschulen und Mentalitäten, wie für die Gesundheitspolitik beschrieben.

  • Computer-affine Menschen wissen, dass Bugs, Viren, Spyware zum digitalen Leben gehören und man sich ihnen nur durch Lernprozesse und einen Rüstungswettlauf erwehren kann. Das autoritäre Weltbild möchte die Urheber allesamt dingfest machen und im Zweifel lieber die Anonymität (und damit die Meinungsfreiheit) opfern, als zu akzeptieren, dass es unkontrollierbare (schmutzige, flüssige, frei flutende) Bereiche gibt. Der Schuss muss nach hinten losgehen: Wenn Anonymität kriminalisiert wird, haben schnell nur noch Kriminelle Anonymität.
  • Ähnliches haben wir im Urheberrecht erlebt: Computer-affine Menschen wissen, dass eine Autorenschaft relativ ist, dass der Austausch Neues gebiert und zum Beispiel die Zahl der Varianten von Melodien endlich ist. Es soll faire Bezahlmodelle geben, aber den Anreiz allein über das Urheberrecht zu setzen (oder gar nur die Verwerter zu belohnen), lehnen diese Menschen ab. Das autoritäre Weltbild geht dagegen von einer genialischen Schöpfung aus, die in vollkommener Transparenz (Uploadfilter) beschützt und belohnt werden muss.
  • Im Ausbau der Infrastruktur schwankt man ständig zwischen vollmundigen Versprechungen, die Allmachtsphantasien nahekommen, und selbstgeißelnden Katastrophenszenarien. Gestern Glasfaser, heute Flugtaxis und morgen 5G an jeder Milchkanne. Gelder für digitale Bildung werden aufgelegt, aber nicht abgerufen. Die Autobranche verschläft die Trends und erhofft sich vom Ministerium Schützenhilfe. Eine kluge Politik würde sich die Fakten anschauen, Innovation fördern und eine solide Grundversorgung sicherstellen, die auch die Schwächeren mitnimmt, anstatt die Standards im Land einer immer größeren Schere zu unterwerfen.
  • Auch gegen Hassrede und Fake News soll Kontrolle helfen: die Klarnamenpflicht oder zumindest ein staatlich kontrolliertes Pseudonym. Es kann ja nicht sein, dass hier ein rechtsfreier Raum entsteht! Dass die Kontrolle schon bei Hetze unter Klarnamen nicht durchsetzbar ist, die Plattformen Überforderung geltend machen, die Kriterien unklar sind … geschenkt. Bis die Justiz sich an die neuen Anforderungen angepasst hat, werden Jahrzehnte vergehen. Die Zivilgesellschaft setzt dagegen auf Immunisierung: Sie reagiert inzwischen durch Initiativen wie Ich bin hier oder Hateaid sowie Bildungsangebote und der Förderung von Medienkompetenz.
  • Terrorpropaganda und Kinderpornografie sind die liebsten Argumente gegen eine allzu große Freiheit im Internet. Mit Recht werden diese Inhalte verboten und und recht erfolgreich im öffentlich sichtbaren Teil des Netzes verfolgt und unterdrückt. Mit der verständlichen Angst, hier etwas Entscheidendes zu übersehen, wird offenbar jeder Innenminister bei Amtsantritt geimpft. Eine nachhaltige Bekämpfung dieser Phänomene braucht aber etwas anderes als die totalitäre Kontrolle aller Schaltstellen. Wer die Erfahrungen aus der Praxis beherzigt, weiß: hier braucht es deutlich mehr Mittel, mehr verdeckte Ermittler, mehr Sachkenntnis, eine Hands-on-Mentalität – nicht einfach mehr billige, scheinbar objektive, praktisch aber unüberschaubare Daten. Von Prävention, Aussteigerprogrammen, Waffenkontrolle, dem Verbot von Waffenexporten und einer nachhaltigen Außenpolitik gar nicht zu reden.
  • Nicht zuletzt Überwachungsthemen wie Gesichtserkennung, Verschlüsselung, Vorratsdatenspeicherung, Backdoors oder Privacy by Design entscheiden die autoritären Geister stets im Sinne der staatlichen Überwachung. "Wir sind die Guten" ist das Credo. Modernen Demokraten ist degegen bewusst, dass schon Nachbarn wie Polen und Ungarn bereits mächtige Defizite in Sachen Rechtsstaat aufweisen, dass Verfolgte aus Saudi-Arabien, China und vielen anderen Ländern den Schutz vor technischer Überwachung lebenswichtig brauchen. Weder die Konzerne noch der Staat dürfen darüber verfügen, was zu einer kompletten digitalen Kopie unseres Selbst geworden ist.
  • Die Aufzählung ließe sich fortsetzen.

Fazit

Mit einem Mentalitätswandel, hin zu einer modernen Auffassung, die mit Unübersichtlichkeit und Konflikten klar kommt, können wir die Herausforderungen meistern, die die Digitalisierung für unsere pluralistische, lebendige und wehrhafte Demokratie bedeutet. Zu der durchaus auch Dissidenten, ja Revolutionäre und sogar Kriminelle gehören.

Mit einer "Haussmannisierung" des Internets sind wir auf dem Holzweg:

Analog zur Erneuerung der Stadt Paris durch den Stadtplaner George-Eugène Haussmann seien fast alle dunklen Ecken und kleinen Gassen im Netz abgeschafft. Stattdessen dominieren die weiten Sichtachsen großer Konzerne im virtuellen Raum, der sich fortan nur noch schlecht für Gegenöffentlichkeit und Revolutionen eignet. (Sascha Lobo)

Erstveröffentlichung auf digitalhumanrights.blog.

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Anmerkung der Redaktion: Am 27.03.2020 wurde eine missverständliche Stelle im Artikel korrigiert.