Ob bei den sozialen Zusammenkünften zum Jahresende oder in der Politik – überall wiegt der christlich-religiöse Ballast noch viel zu schwer. Auch dort, wo längst weniger als die Hälfte der Bevölkerung Mitglied christlicher Kirchen sind wie in Deutschland oder England.
Nicht nur in Deutschland wenden sich immer mehr Menschen von den Kirchen ab, so dass die Kirchenmitglieder im vergangenen Jahr erstmals weniger als 50 Prozent der Bevölkerung ausmachten. Das Gleiche gilt auch für andere Länder, wie beispielsweise Großbritannien. Auch hier waren beim letzten Weihnachtsfest weniger als die Hälfte der Menschen in England und Wales Christen. Nach dem letzten Zensus fiel dort die Zahl der Menschen, die sich als Christen bezeichnen, in einem Jahrzehnt von 59 auf 46 Prozent. Tatsächlich dürften es noch weniger sein, da vermutlich viele Menschen das Kästchen "christlich" allein als ihre kulturelle Identität ankreuzen, ohne religiös gläubig zu sein.
"Weihnachten bringt frohe Festtagsstimmung – Das Tragische daran ist das religiöse Gepäck, das es mit sich trägt", so titelt, frei übersetzt, der weihnachtliche Guardian. Die Verfasserin des Textes, die britische Journalistin, Bürgerrechtlerin und Präsidentin der British Humanist Association Polly Toynbee, spürt, wie sehr Weihnachten die meisten Rationalisten nahezu gleichermaßen wie die Gläubigen berührt und tief in jenen Herzenswinkeln verankert ist, in denen Kindheitserinnerungen und Familienbande ihren Platz haben und meint: In allen Weihnachtsbotschaften machen sich die Armen die Welt zu eigen. Stall und Krippe stehen für Obdachlose und Flüchtlinge. Seltsam nur, warum es so wenig des guten Ansinnens vom Rauschgold in die Politik schafft. Sentimental um die Weihnachtskrippe beisammen zu stehen, resultiere nicht in Empörung über zurückgewiesene Flüchtlinge oder Kinder, die hungrig zur Schule gehen.
Eine Mittwinterfest des Lichts in der Dunkelheit, eine Wiedergeburt in den kürzesten Tagen bekommt jeder Kultur gut. Sowenig der Humanistin Polly Toynbee das Meiste am christlichen Glauben gefällt, kann sie doch in der Ikonographie von Stern, Stall, Krippe, Königen und Schäfern zur Begrüßung eines Neugeborenen ein allgemeingültiges Emblem von Humanität erkennen. Der Rest indes erscheint ihr abstoßend: Warum ein Symbol barbarischer Tortur tragen? Märtyrertum ist ihr eine abstoßende Tugend ebenso wie das Aufsichnehmen einer ewigen Schuld. Nonnen hätten ihrer Mutter als kleines Kind eingetrichtert, dass Jesus jede ihrer Unartigkeiten als Dorne in seiner Krone spürt. Unmöglich erscheint es ihr, einen allgütigen und allmächtigen Gott zu verehren, einen Gottvater und Gottkönig, der seinem Volk willkürlich Schreckliches zufügt und dabei Lob, Dank und Verherrlichung verlangt. Da lieber noch die unflätigen, streitsüchtigen Götter im Walhalla oder jene der Griechen und Römer.
Toynbee prangert die politische Situation in ihrem Land an: Die Kirche habe die Politik in zur abnehmenden Zahl ihrer Mitglieder ganz unverhältnismäßiger Weise im Griff. Bei seiner Krönung wird König Charles als Verteidiger des Glaubens gesalbt, wobei er sagen wird, dass er allen Glaubensrichtungen dient (nicht Atheisten). Etwas Harmloses? Ganz und gar nicht. Die etablierte Kirche hat 26 Bischöfe im Oberhaus sitzen, die die Pläne der Labour-Partei, dieses abzuschaffen, durchkreuzen. Ein Drittel der staatlichen Schulen sind immer noch konfessionell und viele davon sehr selektiv. Als schlimmsten schädlichen religiösen Einfluss, der früher oder später jeden Einzelnen betrifft, sieht sie die Blockierung des Rechts in Würde und zu einem Zeitpunkt eigener Wahl zu sterben. Denn ein unverhältnismäßiger Anteil sowohl im Unter- als auch im Oberhaus ist religiös und tritt mit dem Standpunkt an: Nur ihr Gott kann über den Zeitpunkt unseres Ablebens entscheiden. Derweil leiden tagtäglich Menschen unnötig.
So also die Situation in Großbritannien. Gerade letzteres Problem stellt sich in Deutschland ebenso. Auch hier liegen Gesetzesentwürfe auf dem Tisch, die das vom Bundesverfassungsgericht festgestellte Recht auf einen selbstbestimmten Tod unter Inanspruchnahme von Hilfe dabei wieder einschränken wollen.