Seelsorger Thomas Hanstein will seine kritische Bestandsaufnahme, wie er in seinem Vorwort schreibt, "nicht als Schwarzmalerei verstanden" wissen. Vielmehr geht es ihm um Anregungen zu grundlegenden Veränderungen. Sein Buch will "milieuspezifische Hintergründe von Missbrauch und Übergriffigkeit in der katholischen Kirche deutlich machen und zur Systemanalyse und Systemkorrektur der Amtskirche anregen". Der Diakon nahm eine Auszeit vom kirchlichen Dienst.
Hansteins konstruktive, mit vielen Beispielen aus der Praxis veranschaulichte und mit konkreten Verbesserungsvorschlägen abschließende Kritik am Machtapparat der römisch-katholischen Kirche kann nicht nur LeserInnen, die dem kirchlichen Milieu angehören, sondern allen Menschen, die sich in einer Institution mit Missbrauch und Übergriffigkeit in jeglicher Form konfrontiert sehen und daran etwas ändern möchten, nützen. Die Kombination theoretischer Erörterungen mit Fallbeispielen lässt auch Außenstehenden die Ambivalenz, die Gleichzeitigkeit menschlicher Wärme und institutioneller Unterdrückung und Willkür im kirchlich-katholischen Gefüge nachvollziehbar werden. Thomas Hanstein in seinem persönlichen Vorwort zu der Kirche, der er angehört: "Sie versteht sich als Familie. Wer aufmuckt, gilt als Nestbeschmutzer, weil er das 'heimelige' Gefühl verletzen könnte."
Der Autor hat als Ausgangspunkt für seine genaue Analyse der Institution und ihrer Systematiken ihren Umgang mit und ihre Haltung zu sexuellem Missbrauch gewählt. Er beschreibt und untersucht dazu auch geistlichen und strukturellen Missbrauch mit dem Fokus auf die Mittel der Machtausübung und deren Wirkung auf die Menschen, die ihr ausgesetzt sind. Hanstein geht dabei auf systemische, theologische und kirchenrechtliche Aspekte ein. Fußnoten mit Quellenangaben und ein ausführliches Schlagwortregister erlauben einen guten Überblick, das Querlesen sowie das gezielte Nachschlagen.
"Von Hirten und Schafen. Missbrauch in der katholischen Kirche – Ein Seelsorger sagt Stopp" ist sinnvoll gegliedert und mit praktischen Beispielen angereichert, in denen der Autor eigene Erfahrungen mit denen anderer Personen, mit denen er gesprochen hat, verknüpft und die Begebenheiten humorvoll, in einer präzisen, klaren, trotz aller Kritik immer wertschätzenden, respektvollen Weise skizziert. Hanstein nimmt dabei, ganz im Sinne systemischen Denkens, auch die Situation der Kleriker unter die Lupe und versucht, deren Perspektive darzustellen. Er setzt sich dabei kritisch mit verbreiteten Vorannahmen auseinander, zum Beispiel über den Umgang katholischer Priester mit dem Zölibat (Abschnitt "Sexualität und Enthaltsamkeit" unter dem Kapitel "Moral und Sittenlehre"). Dazu führt der Autor sowohl die Arbeitsergebnisse von Kirchengelehrten als auch die Beiträge von Kirchenkritikern und Fachleuten aus den Bezugswissenschaften sowie eigene Beobachtungen an. Sehr zweckmäßig sind die Zwischenerträge, mit denen jedes Kapitel endet und wo deren Kernpunkte aufgeführt werden, die auf den jeweils folgenden Abschnitt überleiten.
Gleich am Anfang seines Buches leitet Thomas Hanstein aus Geert Hofstedes Zwiebelmodell der Kultur eine Arbeitsthese ab. Nach Meinung des Autors erfordert das Vorhandensein des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche und ihr Umgang damit für diese einen radikalen Wandel: "Es geht nicht nur um einen Mentalitätswandel – wie während der Antimissbrauchskonferenz gefordert –, sondern um einen buchstäblich radikalen Kulturwandel."
Seine Schlussfolgerung greift Hanstein am Ende seines Buches noch einmal auf, indem er in 44 thesenhaften Forderungen ausführt, was sich seiner Ansicht nach in der katholischen Kirche ändern müsste, damit dieser Machtmissbrauch aufhört. Dabei kommt klar zum Ausdruck, wie stark Thomas Hanstein seiner Kirche verbunden ist, denn er beschreibt mehrfach, wie viel Gutes seiner Meinung nach in ihr enthalten ist und fasst auf der letzten Seite zusammen, wie die Konfrontation mit dem kirchlichen Missbrauch auf ihn gewirkt hat: "Auch für mich war es eine erschreckende Erkenntnis: Ja, das Böse existiert in der 'Kirche Gottes' – hinter bunten Bleiverglasungen und warmen Gesten."
Ohne diese innere Verbundenheit – Hanstein schildert am Anfang des Buches, wie positiv seine Erfahrungen im kirchlichen Milieu der Basis waren, bevor er seinen Dienst bei der Bistumsleitung antrat – wäre der Autor möglicherweise noch einen Schritt weiter gegangen und hätte im systemischen Sinne gefragt, welche nützlichen Effekte die missbräuchliche Machtausübung für Kirchenleitung und Kirchenvolk entfalten. In seinem Vorwort schreibt Thomas Hanstein, er habe für seine Einsetzung zum Diakon das Lied: "Ich träume von einer Kirche, in der kein Mensch mehr lügt" gewählt. So nachvollziehbar der Wunsch, einer idealen Gruppe anzugehören, womöglich in einer Welt des Guten zu leben, ist, so unrealistisch erscheint er doch. Möglicherweise ist es aber der Kern des christlichen Glaubens, der sich damit nicht von anderen Ideologien unterscheidet. Gemäß Hofstedes Zwiebelmodell, auf das Hanstein sich im Buch mehrfach bezieht, sind ihre Werte der Kern einer Kultur; die Mitglieder beginnen diese Wertvorstellungen schon in frühester Kindheit zu verinnerlichen, manche sind ihnen bewusst, viele nicht. Während Rituale, Identifikationsfiguren, Symbole und Praktiken, die die weiteren Schichten des kulturellen Zwiebelmodells bilden, sicht- und greifbar sind.
Übertragen auf den Umgang der Mitglieder der katholischen Kirche mit den an Kindern und Jugendlichen in ihrer Institution verübten Sexualstraftaten müsste man sich also fragen, welche Werte diese Kirche konkret hat und welchem Wertemodell das Agieren ihrer Mitglieder in Bezug auf sexuellen Missbrauch eigentlich entspricht. Da es in der Hinsicht frappante Unterschiede zwischen der kirchlichen Führungsebene und vielen Menschen, die ihr unterstellt sind, gibt, kann sich, Hansteins Reflektionsfaden folgend, die Frage anschließen, wie weit und worin sich das Wertegefüge von hohen Klerikern und dem Rest der KatholikInnen, zu denen nicht nur Laien, sondern auch viele Priester, Diakone und Ordensschwestern gehören, unterscheidet.
Abweichende ethische Grundüberzeugungen des Klerus
Prof. Norbert Lüdecke, Kirchenrechtler in Bonn, beschrieb im Februar 2013 auf einer Podiumsdiskussion in Trier einen Prozess der auf die Institution gerichteten Veränderung der allgemein gültigen Werte, denen seiner Meinung nach Priesteranwärter während ihrer Ausbildung unterzogen werden. Lüdecke nennt diese moralisch-ethische Wandlung eine "Ontologische Umgestaltung". Möglicherweise sieht der moralische Kern vieler katholischer Priester anders aus als der der meisten nicht-klerikalen KatholikInnen. Und entsprechend weichen die ethischen Grundüberzeugungen des Klerus dann von denen ab, die der große Rest der Bevölkerung hegt. Dies würde die Rigidität, Kälte und Egozentrik im Umgang mit den Missbrauchsfällen erklären, die klerikale Entscheidungsträger und auch etliche Ordensfrauen und Laien, die sich im höheren kirchlichen Dienst befinden, an den Tag legen. Haltungen und Verhaltensweisen, die in der Öffentlichkeit für große Empörung gesorgt haben, welche mit jeder weiteren Meldung steigt. Wobei aber immer noch nicht die Frage geklärt ist, welche Werte es denn sind, die die katholische Kirche in ihrem Innersten zusammenhält.
Diskutabel bleiben darüber hinaus zwei weitere von Thomas Hanstein behandelte Punkte. Sie könnten auf tieferliegende Ursachen des katholischen Missbrauchssystems weisen: Die nicht nur in kirchlichen Kreisen verbreitete Sicht auf Sexualität und das Bild, das man dort von den Tätern und den Opfern der eigenen Institution hat. Über Sexualität schreibt der Autor auf S. 128: "Jeder, der Sexualität lebt, weiß, dass man in der – auch körperlichen – Liebe mehr erhält, als man gibt. Erfüllte Sexualität ist ein tiefer Brunnen der Lebensenergie, ganz unabhängig von den gesundheitsfördernden Nebeneffekten. Anders die katholische Lehre, die auf die Funktionalität einer Ehe abzielt." Hier wäre eine Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Ambivalenten, Abgründigen, Perversen, Verbotenen, Tabuisierten im Bereich des Sexuellen interessant. Denn nicht nur in kirchlichen Kreisen macht gerade das für viele Menschen einen Teil der Attraktivität der sexuellen Aktivität aus – ein Umstand, der zum sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen beitragen kann. Inwieweit der Geschlechtsverkehr ein Ausdruck von Liebe ist, halte ich für ebenso diskutabel wie Thomas Hansteins Feststellung, man erhalte dabei mehr, als man gibt. Nicht nur viele Frauen könnten da eine ganz andere Ansicht vertreten und man muss kein Opfer sexuellen Missbrauchs sein, um zu wissen, wie leicht intime Zuwendung in gierige Übergriffigkeit und Freude am sexuellen Kontakt in tiefe Enttäuschung umschlagen kann.
Auf S. 78 skizziert der Autor seine Sicht auf Täter und ihre Opfer: "Anfällige Erwachsene – Kleriker oder 'Laien' – suchen sich 'schwache' Kinder" und etwas weiter unten auf der Seite: "Daher müsste der Anfang aller Präventionsarbeit gerade in der Stärkung des Kindes, seines Willens, seiner Bindungen, seiner Wahrnehmung und seines Wollens bestehen". Hier gibt Thomas Hanstein eine Perspektive wieder, die nicht nur innerhalb der katholischen Kirche verbreitet ist, die die Täter als "anfällig" betrachtet und von den Kindern und Jugendlichen als potentiellen Opfern erwartet, sich vor dem Sexualagieren dieser Menschen zu schützen, indem sie Eigenschaften, Wissen und Fähigkeiten entwickeln, über die sie entwicklungsmäßig noch gar nicht verfügen können. Der Autor hat hier, vermutlich unabsichtlich, auf eine Kernproblematik der kirchlichen Aufarbeitung hingewiesen: man beginnt nämlich, Präventionskonzepte zu etablieren, ohne wirklich die Hintergründe sexuellen Missbrauchs aufgeklärt, die eigenen Ambivalenzen, die eigenen ethisch-moralischen Schatten, das individuelle und kollektive Versagen reflektiert und sich als Erwachsene zur Übernahme der Verantwortung für den Schutz von Minderjährigen verpflichtet zu haben.
Thomas Hanstein, "Von Hirten und Schafen. Missbrauch in der katholischen Kirche – Ein Seelsorger sagt Stopp", Tectum Sachbuch, 2019, 246 Seiten, 25 Euro, ISBN 978-3-8288-4320-2