Am 17. und 18. Dezember 1927 tagt in Dortmund die Gründungsversammlung des "Reichsverbandes für dissidentische Fürsorge". An ihr nehmen 71 Delegierte sowie führende Vertreter der freigeistigen Bewegung in Deutschland wie Carl Peter (Reichsarbeitsgemeinschaft freigeistiger Verbände – Rag) und Max Sievers (Verband für Freidenkertum und Feuerbestattung, dem späteren Deutschen Freidenker-Verband) teil. Diese Gründung ist ein Resultat mehrjähriger Bemühungen, auch in den freigeistigen Verbänden und humanistischen Gemeinschaften die Sozialarbeit und freie Kinder- und Jugendhilfe zu organisieren und dabei die rechtlichen Möglichkeiten des Subsidiaritätsprinzips zu nutzen. Am 22. Januar 1928 wird der Reichsverband Mitglied der Rag.
Eine zentrale Rolle spielt dabei der Lehrer H. Grein, der 1927 auch der 1. Vorsitzende des Reichsverbandes wird. Insbesondere in den rheinisch-westfälischen Gebieten baut er in den zwanziger Jahren mit Erfolg mehrere dissidentische Fürsorgevereine und Einrichtungen auf. Er ruft die Freigeister, Freireligiösen und Freidenker auf, sich ähnliche Einrichtungen der Jugendwohlfahrt - wie die konfessionellen Organisationen – in der Weimarer Republik zu schaffen und eine Jugendfürsorge durch dissidentische Fürsorgevereine zu entwickeln.
"Ihre Aufgabe ist die Mitwirkung bei allen Arbeiten der Jugendämter, … also beim Schutz der Pflegekinder, bei der Bestellung von Vormündern (dissidentische Listen einreichen), bei der Fürsorge für hilfsbedürftige Minderjährige. Mitwirkung bei der Schutzaufsicht und der Fürsorgeerziehung, Stellung von Jugendrichtern, Mitwirkung bei der Beaufsichtigung der gewerblichen Kinderarbeit und der Arbeit jugendlicher Erwachsener und dergleichen. Das allerwichtigste bleibt: Verhütung konfessioneller Vormundschaften über Dissidentenkinder und Mitwirkung bei der Fürsorgeerziehung."1
Die dissidentischen Fürsorgevereine sind meist aus dem Zusammenwirken der "Freien Schulgesellschaften" mit den verschiedenen Freidenkerorganisationen und aus dem Bedürfnis, die Kinder und Jugendlichen der weltlichen Schulen auch sozial zu betreuen, hervorgegangen.2 Das Jugendwohlfahrtsgesetz der Weimarer Republik eröffnete Möglichkeiten, auch die Kinder konfessionell unabhängiger und dissidentischer Familien eigenständig und kirchenfrei zu unterstützen. 1927 betont der preußische Wohlfahrtsminister, dass bei der Übertragung erzieherischer Aufgaben bestimmte Weltanschauungen wesentliche Bedeutung haben.3 Dies träfe auch auf freigeistige bzw. freidenkerische Welt- und Lebensauffassungen zu.
Kindern, die konfessionell unabhängig aufwachsen, sind die Bedingungen zu gewähren, eine freie humanistische Entwicklung und Erziehung zu bekommen. Daher tritt der Reichsverband auch für die Errichtung dissidentischer Fürsorgeheime ein. Es entstehen z.B. das Erziehungsheim der Lehrerin Krause in Ohligs und das Fürsorgeheim Heimstatt in Frankfurt/Main.
Leider ist diese Entwicklung 1933, wie das demokratische Gemeinwesen der Weimarer Republik überhaupt, abgebrochen und beseitigt worden. Viele freigeistig-humanistische Menschen haben sich bis dahin für die dissidentische Fürsorge engagiert und sie organisiert. Nach der Nazidiktatur haben einige freigeistige Vereinigungen in der Bundesrepublik Deutschland versucht, eigene soziale Einrichtungen aufzubauen. Dies ist im Ausnahmefall insbesondere bei Alten- und Pflegeeinrichtungen gelungen, reicht aber bei weitem nicht.
Nach der staatlichen Einheit Deutschlands 1990 gibt es gerade im Osten Deutschlands stärkere Aktivitäten, säkulare Sozialarbeit und freie Jugendhilfe erfolgreich zu entwickeln. Doch auch hier steht die Frage einer bundesweiten Bündelung der freigeistig-humanistisch motivierten Sozialarbeit. Hierbei sind die Bemühungen des "Reichsverbandes für dissidentische Fürsorge" eine wichtige Anregung, konzeptionell und organisatorisch Neues zu durchdenken und auf den Weg zu bringen.
- Meyer und Grein: Dissidentischer Fürsorgeverein Dortmund. In: Die Geistesfreiheit, 32. Jahrgang, 1923, Nr. 10, S. 76. Vgl. zur Gründung des Reichsverbandes u. a.: H. Grein: Gründet dissidentische Fürsorgevereine! In: Atheist. 21. Jahrgang, 1925, Nr. 4, S. 35; Grein: Kann dissidentische Fürsorge mit Erfolg betrieben werden ohne Gründung und Anmeldung eines dissidentischen Fürsorgeausschusses bei den Jugendämtern? In: Die Geistesfreiheit, 36. Jahrgang, 1927, Nr. 10, S. 153f.; Volker Mueller: Reichsverband für dissidentische Fürsorge. In: Kristall. Heft 1/1998. Neustadt 1998. S. 13 – 14. ↩︎
- H. Grein: Über die Zusammenkunft dissidentischer Fürsorgeverein des rheinisch-westfälischen Industriegebiets am 3.1.1926 in Dortmund. In: Die Geistesfreiheit, 35. Jahrgang, 1926, Nr. 1, S. 14. ↩︎
- H. Grein: Ein wichtiger Erlass des preußischen Wohlfahrtsministers. In: Die Geistesfreiheit, 36. Jahrgang, 1927, Nr. 8, S. 123. ↩︎
2 Kommentare
Kommentare
Thomas Heinrichs am Permanenter Link
Ein schöner Artikel und eine wichtige Erinnerung an unsere Traditionen und auch ein richtiger Aufruf konzeptionelle und bundesweit weiter zu denken. Danke.
Resnikschek Karin am Permanenter Link
Zu wenig bekannt die Sozialarbeit der Konfessionsfreien! Verfolgt und verboten von den Nazis wurden Freidenker. Die BRD-Staatskiche verheimlicht das den Bürgern.