"Der fliegende Holländer" bei den Opernfestspielen

Schauerromantik in Heidenheim an der Brenz

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Vincent Wolfsteiner, Antonio Yang, Inga-Britt Andersson
Vincent Wolfsteiner, Antonio Yang, Inga-Britt Andersson

Geplant war die Premiere "Der fliegende Holländer" im Rittersaal auf Schloss Hellenstein. Doch ein Gewitter machte den Plan zunichte und verdonnerte die Show ins Congress Centrum nebenan. Trotz wohliger Überdachung schauerte es auf der Bühne dennoch gewaltig. Die Opernfestspiele Heidenheim haben sich in der Ära Marcus Bosch (Festspielleitung seit 2010) zu einem Event nationalen Ranges gemausert.

Der Aufstieg auf den Schlossberg erinnert an Pilgerfahrten auf den Grünen Hügel in Bayreuth und oben angekommen führt ein roter Teppich ins "Festspielhaus" Congress Centrum. Die Premiere am 7. Juli war ausverkauft – Abendroben im großen Stil wurden vorgeführt. Die Heidenheimer sind stolz auf ihre Festspiele. Und das völlig zurecht.

Was dem Konzertsaal an Burgkulisse fehlt, macht er durch eine atemberaubende Akustik wett. Schon die Ouvertüre kann von Fortissimo bis Pianissimo alle Facetten von Dynamik leisten, die Ohr und Herz brauchen, um sich auf einen Abend voll menschlicher Höhenflüge und Abgründe einstellen zu können. Die Stuttgarter Philharmoniker sind in Bestform und Marcus Bosch am Pult führt sie sicher durch den Abend.

Das Bühnenbild verrät seine Konzeption für den Rittersaal offensichtlich. Furchtbar gut hätte diese plastikplanen-überzogene Schiffs-Silouette vor die Burgmauer gepasst, hätte der Holzkasten mit der schiefen Ebene und den Leitern sich vor den hohen Fenstern integriert und unzählige Bespielungsmöglichkeiten eröffnet. Doch wer das nicht weiß, dem fehlt es nicht. Die Kulissen von Stefan Brandtmayr funktionieren auch indoor.

Chor, Statisterie, Foto: © Oliver Vogel
Chor, Statisterie, Foto: © Oliver Vogel

Open Air hin oder her - Regisseur Georg Schmiedleitner umschifft schon im ersten Akt gekonnt ein paar "Fallen": Der Holländer tritt vom oberen Ende der Tribüne aus dem Zuschauerraum, begleitet von finsteren Bodyguards, auf und arbeitet ich während seiner großen Rezitativ-Arie bis vor an die Rampe, wo er Daland begrüßend stehen bleibt. Der Zuschauer findet sich so unvermittelt als Teil der Mannschaft auf dem Geisterschiff wieder. Dabei ist es vollkommen unmöglich, sich Antonio Yangs Interpretation der Titelrolle zu entziehen. Das satte Stimmmaterial, das einen da tief in den Sessel drückt, gibt eine kleine Vorschau darauf, was der Bariton nach diesem Rollendebüt (!) in den nächsten Jahren noch auffahren wird. Statt einem langen Monolog passiv beizuwohnen wird man gezwungen, sich auf die Seite des tätowierten Mannes im schwarzen Mantel (Kostüme: Cornelia Kraske – alle Typen ausnahmslos scharf gezeichnet!) zu schlagen. Der Mann ist kein alter Geist aus dem Jenseits, sondern eine durchaus attraktive Erscheinung. Groß und düster überschreitet er die Schwelle zur Menschenwelt und provoziert unweigerlich eine Gänsehaut, wenn er mit seinem "Wann alle Toten auferstehen…" das Schicksal verflucht. So beobachten wir aus Perspektive des Untoten die Menschenwelt, in die der Verfluchte sich voll Verzweiflung sehnt.

Doch das wohlige Heim, das er bei den Menschen vermutet, hat mehrere Facetten. Es ist eine kapitalistische ausbeuterische Realität, die durchaus als Kritik an unserer globalisierungswütigen Gesellschaft zu verstehen ist. Daland der Kaufmann und Seefahrer kommt dabei am schlechtesten weg. Geldgierig treibt er seine Mann- und Frauschaft an und schreckt nicht davor zurück, seine Tochter an den erstbesten Bräutigam zu verschachern – Hauptsache die Knete stimmt. Die Interpretation des Daland geht hier sogar noch einen Schritt weiter: Die Vaterliebe, die er Senta gegenüber vielfach äußert, wird als inzestuöse Missbrauchs-Geschichte etabliert. Und wenn er mal nicht gerade böse und gierig ist, dann ist Daland einfach tollpatschig und weiß nicht, mit Menschen umzugehen. Randall Jakobsh macht das darstellerisch so gut, dass man sich tatsächlich ein bisschen vor dem Mann ekelt; stimmlich kennt er leider nur die grobe Seite der Figur.

Antonio Yang, Inga-Britt Andersson, Foto: © Oliver Vogel
Antonio Yang, Inga-Britt Andersson, Foto: © Oliver Vogel

Doch auch der Rest der Mannschaft ist schillernd angelegt. Allen voran der Steuermann. Martin Platz macht Lust auf mehr Tenor, wie er sich so mühelos in seinem Lied an den Südwind verliert. Und während er als Charakter zunächst die Verklemmung pur ist, wird sein Feiern der Schluss-Orgie das impulsivste und entfesseltste sein. Erik ist einerseits so lieb, dass es einem die Tränen der Rührung in die Augen treibt, wenn er mit einem Blumenstrauß vor seine geliebte Senta tritt. Und doch ist ein latenter Hang zur Gewalt offensichtlich, wenn er sie brutal bedrängt und an ein in der Kindheit gegebenes Treueversprechen gemahnt. Vincent Wolfsteiner bringt hierzu den nötigen Schmelz in der Stimme mit und zeigt einen Mann, der blind vor Liebe zum Gewalttäter mutiert.

Senta schließlich ist zum einen das missbrauchte Mädchen, die verschacherte Ware. Auf der anderen Seite weiß sie aber auch genau, was sie will. Sie will den fremden Mann, weil er so verdammt gut zu ihr passt. Und weil er ihre Fluchtmöglichkeit ist – vor den Klauen des kapitalistischen notgeilen Vaters und dem spießbürgerlichen Leben an der Seite eines Mannes, den sie weder anziehend findet noch respektiert. Die Fronten zwischen Senta und Erik sind durchsichtig geklärt: Er schlägt sie, weil er es kann und sie verhöhnt ihn, weil er nicht anders kann als es sich von ihr gefallen zu lassen. Inga-Britt Andersson debütiert an diesem Abend in der Rolle. Dabei ist sie eine Senta die stimmlich funkelt dass es blitzt und übertrifft darstellerisch mit dieser so ambivalent angelegten Figur jede Erwartung.

Der Holländer schließlich ist am deutlichsten Opfer seiner ihn permanent triggernden negativen Erfahrungen hinsichtlich zwischenmenschlicher Beziehungen. Holzhammer-deutlich sehen wir alle, dass Daland Senta missbraucht und zerstört, dass Erik sich einbildet, sie empfinde etwas für ihn, dass sie selbst dem Fremdling bedingungslos überall hin folgen würde, kaum dass er den Raum betreten hat. Dennoch sieht jener in Daland nur seinen Schwiegervater und Geschäftsfreund, in Erik die Bedrohung schlechthin und in Senta die treulose Gattin. Er ist gefangen in seinem Trauma von Enttäuschungen und unfähig, Vertrauen zu schenken. Voraussetzung für eine funktionierende Liebesbeziehung ist unter anderem aber auch Vertrauen. Doch wir wollen nicht vergessen, dass es in dieser Oper nicht um Liebe geht, sondern um ewige Treue – nicht mehr und nicht weniger.

Wie findet die Regie nun aus diesem Dilemma? Man orientiert sich am "Tatort": es wird herumgeballert und das Ende versteht niemand. Senta und Holländer stehen im Sonnenuntergang am Kai und knutschen. Ein Container kippt und es kullern kleine Kisten heraus, während weitere Protagonisten sich angeschossen (blutspurend) durch den Keller wälzen.

Musikalisches Sahnehäubchen des Abends ist im Übrigen der Festspielchor. Der Tschechische Philharmonische Chor Brünn glänzt durch saubere Intonation, engagierten Gesang und nicht zuletzt mit einer Artikulation, die die Übertitel schon fast überflüssig werden lässt.

Antonio Yang, Inga-Britt Andersson, Foto: © Bönnigmann
Antonio Yang, Inga-Britt Andersson, Foto: © Bönnigmann

Auf der abschließenden Premierenfeier hört man munkeln, dass es bei einer Vorstellung im Rittersaal ein anderes Ende gegeben hätte, bei dem gemäß der Partitur gemeinsam gestorben wird. Ob es dafür technische Gründe gibt oder der Holländer in Heidenheim eben zweifach alternativ zu sehen ist, wird wohl ungeklärt bleiben. Ebenso wie die Frage, welche Fassung (Dresden oder Paris) gespielt wurde. In der Heidenheimer Bosch-Fassung hat die Senta-Ballade drei Strophen, das Ende kommt (musikalisch) ohne Erlösung daher, wir befinden uns augenscheinlich in g-moll und der Steuermann singt gar aus der Urfassung die berühmten Zeilen "Ach liebes Mädel blas' noch mehr" - und dennoch heißt Erik nicht Georg... Ergebnis: auf der kulinarisch hervorragend gestalteten Party will einem der Stoff für Diskussionen nicht mehr ausgehen. Festlicher Spaß!