Wer Sterbehilfe kriminalisiert, nimmt den Pflegemord in Kauf

Wieder einmal – oder noch immer – druckst das Bundesgesundheitsministerium um die verfassungsrichterlich geforderte Neuregelung von Paragraph 217 StGB, dem "Sterbehilfeparagraphen", herum. Warum die Kriminalisierung des Freitods die falschen Vorzeichen setzt, erläutert Adrian Beck in einer persönlichen Einschätzung.

Mitte Juli wurde ein 79-jähriger Mann aus Baden-Württemberg zu drei Jahren Haft verurteilt, nachdem er in einem Akt der Verzweiflung seine 84-jährige Ehefrau erdrosselt hatte. Nach Jahren häuslicher Pflege, die den Mann psychisch und physisch zermürbt hatten, tötete er die Frau in einer Affekthandlung, als diese sich weigerte, einen zuvor gemeinsam ausgesuchten Pflegeheimplatz anzutreten. Das Gericht erkannte eine verminderte Schuldfähigkeit an.

Was uns in Deutschland fassungslos zurücklässt, dafür gibt es in Japan bereits einen Begriff: "Kaigo Satsujin", "Mord durch Pflegende". In der rasant alternden Gesellschaft Japans, die von strengen Hierarchien und einem Fokus auf Leistungsbereitschaft durchdrungen ist, steigen die Zahlen der Todesopfer, die durch Angehörige oder Pflegepersonal sterben, seit Jahren kontinuierlich: Zwischen 1997 und 2003 stieg die Anzahl solcher Tötungsdelikte von 14 auf 23 pro Jahr. Im Zeitraum 2007 bis 2014 zählte das Land durchschnittlich bereits etwa 50 solcher Delikte jährlich.

Im Juli 2016 rückte eine schier unvorstellbare Tat das Konzept "Kaigo Satsujin" schließlich in den Fokus: Ein ehemaliger Altenpfleger drang in eine Behinderteneinrichtung ein, erstach 19 Bewohner*innen und verletzte 27 weitere Menschen. Einige Monate zuvor hatte der Täter einen Brief an den japanischen Parlamentspräsidenten geschickt, in dem er davon sprach, mehrere hundert Menschen "auszulöschen", um Wirtschaft und Staat zu entlasten. Wer nicht mehr vom familiären Umfeld gepflegt werden könne, der würde der Gesellschaft unnötig zur Last fallen.

Wer nun glaubt, ein solch ethischer Dammbruch sei in der sozialpolitisch gesättigten BRD nicht möglich, der irrt: Der Senizid ist auch bei uns bereits angekommen, wie unter anderem die Fälle Stephan L., Irene B. und Niels H. zeigen. Erst seit den 2010er-Jahren ist die mögliche Existenz eines den Senizid begünstigenden gesellschaftlichen Klimas in Deutschland Teil wissenschaftlicher Untersuchungen. Einen ersten, wenngleich unvollständigen und nicht-repräsentativen Einblick bietet Raimund Poussets 2018 erschienene Arbeit "Senizid und Altentötung – Ein überfälliger Diskurs".

Motive für den Senizid

Wieland Wagner, langjähriger Mitarbeiter des Spiegel in Tokyo, arbeitet in seinem 2018 erschienenen Buch "Japan – Abstieg in Würde" Fälle auf, in denen Angehörige ihre eigenen Verwandten töteten. Die meisten davon lesen sich so tragisch wie das Gerichtsprotokoll der eingangs erwähnten Verhandlung in Baden-Württemberg: Die Rede ist von überforderten Angehörigen, die die pflegerischen Leistungen nach Jahren des Wartens auf einen Heimplatz nicht mehr erbringen können, von überarbeiteten Töchtern und Söhnen, die die Beiträge für Pflegeversicherungen oder die Mietzahlungen der Eltern nicht mehr zu schultern vermögen. Und von der Ohnmacht, mit der die japanischen Gerichte Menschen begegnen, die keinen anderen Ausweg mehr sehen, als ihre Verwandten zu ersticken, zu ertränken oder zu erdrosseln.

Es zeigen sich somit zwei grundverschiedene Motivationen für einen Senizid: Die eine ist eine zutiefst intime, persönliche. In real empfundener Ermangelung aller anderen Optionen werden Angehörige, die sich mit den pflegerischen Aufgaben im Regen stehen gelassen fühlen, zu Mörder*innen.

Die andere ist eine zutiefst verstörende, weil sie das menschliche Leben zu einem von zahlreichen Faktoren einer gesellschaftlichen Kosten-Nutzen-Rechnung herabwürdigt. Die Fälle, in denen Heimbewohner*innen von Pflegekräften malträtiert oder gar getötet wurden, weisen in Japan wie in Deutschland eine Gemeinsamkeit auf: Das völlige Fehlen einer Perspektive, die Pflegebedürftige als Menschen wahrnimmt. Der rote Faden all dieser Fälle ist die Apathie, es scheint den Täter*innen unvorstellbar, dass beispielsweise Demenzkranke noch immer so etwas wie Persönlichkeit, Wünsche und Interessen haben könnten.

Womit wir beim wirtschaftlichen Faktor in diesen Überlegungen angelangt wären. Kritiker*innen der geschäftsmäßigen Sterbehilfe führen häufig das Argument ins Feld, ein liberaler Umgang mit dem eigenen Ableben führe dazu, dass Angehörige altersschwache Personen aus finanziellen Gründen, beispielsweise um die Kosten für eine Pflegekraft oder einen Heimplatz zu sparen, oder um die Erbmasse zu schonen, zum "Frei"tod drängen würden. Hintergrund dieser Befürchtung ist eine schleichende Ökonomisierung intimster Lebensbereiche, ein ideologischer Wandel, der die einstmals per Religion zementierte, sakrosankte Unantastbarkeit eines menschlichen Lebens durch die gleichsam sakrosankte Frage nach der wirtschaftlichen Leistung, die das Individuum (noch) erbringen kann, ersetzt. "Eigeninteresse" und "Leistungsfähigkeit" wurden zum neuen Götzen gesellschaftspolitischer Fragestellungen erhoben.

Eine bittere Ambivalenz kommt in diesem Denken zum Ausdruck: Einerseits wird Menschen, die an kognitiv einschränkenden Krankheiten wie Demenz oder Alzheimer leiden, das Eigeninteresse abgesprochen, da ihre Fähigkeit zur Bildung und Verbalisierung eben dessen vermeintlich eingeschränkt ist. Andererseits, und perfiderweise doch gleichsam, wird die Validität der eigenen Interessen unterminiert, indem der Wunsch nach dem eigenen Tod a priori als abwegig betrachtet wird, ob er nun von einem geistig gesunden Menschen in der Patientenverfügung präventiv zum Ausdruck gebracht oder von einem bereits pflegebedürftigen Menschen als ultima ratio gegen einen Leidensdruck geäußert wird. Wie so oft dreht sich der Diskurs nicht um die Wünsche und Bedürfnisse der Betroffenen, sondern um die Befindlichkeiten derer, die am Spielfeldrand sitzen.

Dieses Phänomen habe ich bereits am eigenen Leib erleben dürfen. Trotz meines jungen Alters von gerade Mitte Zwanzig habe ich bereits das ein oder andere Jahr mit pflegerischen Tätigkeiten, der Sterbebegleitung von unheilbar krebskranken Verwandten und dem Lesen humanistischer Grabreden verbracht. Nie kam es mir in den Sinn, die Validität der Wünsche dieser Menschen infrage zu stellen, nie hatte ich den Eindruck, dass Demenz oder Krebs "weniger Mensch" aus jemandem machen. Man muss ihnen nur zuhören, so schwer ist das nicht.

Und doch habe ich bisweilen genau das erlebt: Je weiter die Krankheiten fortschritten, je näher der Tod einer Person rückte, desto tauber wurden Angehörige und Offizielle für die Anliegen der Sterbenden. Bis ich irgendwann verstand: Auch das ist nur latente Furcht. Die Vernachlässigung der Wünsche Betroffener ist ein direktes Resultat der unweigerlich empfundenen Ohnmacht, wenn mensch mit dem Tod konfrontiert wird. Ein Individuum, das die eigene Endlichkeit verkennt, ist nicht fähig, im sterbenden Menschen noch einen "echten Menschen" zu sehen. Und dies ist, wie ich finde, die eigentliche Tragödie: Nicht, dass Menschen sterben. Sondern, dass wir Sterbenden die Menschlichkeit nehmen.

Demographie ist zuerst eine ideelle, keine ökonomische Herausforderung

Wieland Wagners eindrückliche, weil mit zahlreichen persönlichen Geschichten gespickte Schilderung der japanischen Gesellschaft hält der deutschen Leserschaft einen Spiegel vor, der unsere unmittelbare Zukunft abbildet, wie die 14. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung deutlich macht: Kamen 1950 noch 16 Personen im Rentenalter auf 100 Personen im Erwerbsalter, so hat sich dieses Verhältnis im Jahr 2017 bereits um mehr als das Doppelte verschoben: Auf 100 Personen im Erwerbs- kommen 36 Personen im Rentenalter. Die Zahl der Erwerbstätigen wird sich dieser Projektion zufolge bis 2035 um weitere vier bis sechs Millionen und damit etwa zehn Prozent reduzieren, wie die interaktive Bevölkerungspyramide zeigt.

Wir werden diesen Trend nicht umkehren können, Punkt. Doch wir könnten unsere Gesellschaft auf ihn vorbereiten. Es gibt kein Naturgesetz, das uns daran hindert, den Fokus unserer Wirtschaft von exportorientierten Produktions- auf binnenorientierte Pflegetätigkeiten zu lenken. Es ist ohne weiteres vorstellbar, Anreize zu setzen, die nicht mehr den Berufsstand der international tätigen Bänker*in oder Automobilingenieur*in zum Statussymbol erklären, sondern soziale Tätigkeiten wie Pflege, Erziehung sowie Lebens- und Sterbebegleitung in den Mittelpunkt der – sozialen wie finanziellen – Anerkennung rücken. Der demographische Wandel fragt nicht, ob wir ihn uns leisten können, er stellt vielmehr die klare Forderung nach einer Evaluation unserer Prioritäten.

Wir können also konstatieren, dass es nicht die Existenz von geschäftsmäßigen Angeboten zur Sterbehilfe ist, die Menschen dazu treibt, einen Senizid zu begehen. Es sind subversive Strukturen und Denkweisen, die ein Leben durch die betriebswirtschaftliche Brille zu betrachten suchen. Es ist das allzu menschliche Gefühl der völligen Überforderung, wenn mensch als, beispielsweise, gelernte Handwerker*in die eigene Großmutter waschen, ankleiden und bekochen muss. Wer die Sterbehilfe, und damit einen selbstbestimmten, freien Umgang mit dem eigenen (Ab-)Leben, kriminalisiert, der schafft eben das Klima der Apathie oder Verzweiflung, das letzten Endes zum Senizid führt. Wir kennen dieses Prinzip aus den erschöpfenden wissenschaftlichen Arbeiten zur Bekämpfung des Drogenkonsums: Prävention sticht Kriminalisierung.

Abschließend noch ein Lichtblick für Humanist*innen und alle anderen, die selbstbestimmt zu gehen wünschen. Während Jens Spahn die Forderungen des Bundesverfassungsgerichts erneut zu filetieren versucht, hat der Verein Sterbehilfe im Juli 2020 erstmals einen Bewohner eines Altenheims bei der freiverantwortlichen Selbsttötung unterstützt: Der 90-jährige Mann entschied sich einige Zeit nach dem Ableben seiner Frau für den medikamentös induzierten Freitod. Das zweite Gesetz der Thermodynamik habe ihn selig.

Unterstützen Sie uns bei Steady!