Kolumne: Sitte & Anstand

Wie Ur-Homöopath Hahnemann vor Kaffee warnte

In Meißen, habe ich jetzt gelesen, wollen sie das Gedenken an Samuel Hahnemann ausbauen. Touristen lieben so was. Ein jährliches Hahnemann-Fest soll es geben, und am Hahnemannsplatz wird zu Ehren des großen Sohnes der Stadt, na was wohl, ein Denkmal gebaut.

Samuel Hahnemann, wer war das noch mal?

Das ist der Ur-Urheber der magischen Zuckerkügelchen, die nahezu jede Krankheit besiegen – der Erfinder der Homöopathie. Zu seinem Glück war er in einer Zeit tätig, als man es mit der Empirie nicht so hatte und die Medizin sich mehr aus dem Nachdenken ergab und aus glücklichen Eingebungen. Philosophie, Naturerkenntnis, Vorurteil und Verdauungsprobleme bildeten noch eine Einheit, Fake News und ausgedachte Evidenz wurden nicht so als Problem gesehen wie heute, in dieser entseelten, wissenschaftlichen Zeit. Selbst die Homöopathie, dieses wunderhübsche Zaubermärchen, scheint ja heutzutage im Schwinden begriffen. Sollte Meißen doch davon absehen, dem großen Sohn der Stadt ein Denkmal zu setzen am Hahnemannsplatz?

I wo. Selbst wenn die Homöopathie in ein paar Jahren endgültig versickert sein sollte, lohnt es sich, den Körperdurchdenker Hahnemann mal zu lesen. Gestern habe ich mir etwa sein Traktat über den Kaffeegenuss zu Gemüte geführt, schön langsam, Wort für Wort, Satz für Satz, um meine Augen und Sehnerven und mein Gehirn nicht übermäßig zu überlasten mit neuen Informationen. Denn was konnte man da nicht alles über den Kaffee erfahren! Über geschätzte 20 Normseiten steigert sich Hahnemann in eine tief empfundene Analyse hinein, die ein rechter Wachmacher ist: Kaffee ist ihm eine "arzneiliche" Substanz, sein Konsum mithin die Induktion eines künstlichen Krankheitszustands. Wie bei allen Drogen ist am Anfang alles noch knorke:

"Seine Anfangswirkung ist im Allgemeinen eine mehr oder minder angenehme Erhöhung der Lebenstätigkeit; die tierischen, die natürlichen und die Lebensverrichtungen (wie man sie nennt) werden durch ihn die ersten Stunden künstlich erhöht. (...) Die Gegenwart des Geistes, die Aufmerksamkeit, das Mitgefühl wird wacher als im gesunden, natürlichen Zustand. Alle äußeren Gegenstände bekommen gleichsam einen Wohlbehagen erregenden Anstrich, einen, wenn ich so sagen darf, freudigen Firnis. (...) Aus dem Kaffeetrinker lächelt die ersten Stunden Zufriedenheit mit sich selbst und mit allen äußeren Gegenständen, und dies vorzüglich erhob den Kaffee zum Gesellschaftstrank. Alle mitgeteilten angenehmen Gefühle werden schnell bis zum Enthusiasmus erhöht (obgleich auf kurze Dauer). Alle Arten unangenehmer Erinnerungen oder unangenehmer natürlicher Empfindungen schweigen in dieser Art von seligem Fieber."

Fieber! Da haben wir es. Der Aufputschtrunk ist dem Meister verdächtig – vielleicht ja, weil er eine spürbare Wirkung hat. Sehr ausgiebig beschreibt Hahnemann, wie die Verdauungsprozesse apokalyptisch aus den Fugen geraten bis hin zur Endkontrolle: "Der Unrat geht dünn, fast ohne Anstrengung und öfter fort, als bei gesunden, keinen Kaffee genießenden Menschen." Auch Persönlichkeitsveränderungen ergreifen die Menschen:

"Bei einer Person von vorzüglich reizbarem Temperament, oder die schon durch häufigen Kaffeegenuss und Stubensitzen entnervt worden, leuchten die bisher erzählten Wirkungen in noch weit grellerem Licht. Allen bei diesen Personen durch Kaffee erregten Körperumstimmungen und Gefühlen sieht dann jeder Unbefangene das Unnatürliche, das Überreizte an. Eine übertriebene Empfindsamkeit oder eine Lustigkeit, die oft weit über die Natur des Gegenstandes geht, eine bis ins Konvulsivische gehende Zärtlichkeit, eine übertriebene Wehmut, ein nicht völlig vom Verstande gezügelter Witz, eine stärkere Verziehung der Gesichtsmuskeln bis zur Karikatur, wo nur ein Lächeln, ein kleiner Spott, eine mäßige Betroffenheit, eine mäßige Äußerung von Schwermut oder Mitleid stattfinden sollte. Selbst die Muskeln des übrigen Körpers zeugen dann von unnatürlicher, übertriebener Regsamkeit – alles ist Leben, alles ist Beweglichkeit (...) innerhalb der ersten Stunden nach dem Genusse eins starken (...) Kaffees. Die Ideen und die Bilder der Phantasie laufen in gedrängten Reihen und beschleunigterem Strome vor dem Sitz der Vorstellung und Empfindung im Gehirn vorüber – ein künstlich beschleunigtes, künstlich erhöhtes Leben!"

Vade retro, Künstlichkeit! Wohin das alles führt, diese immense Reizbarkeit, all das dämliche Lachen, all der unnatürliche Spaß, ist auch klar:

"Selbst den Geschlechtstrieb (...) macht die Anfangswirkung des Kaffees mehr als jedes andere künstliche Mittel rege. Blitzschnell entstehen wollüstige Bilder bei mäßiger Veranlassung, und die Erregung der Geschlechtsteile bis zur Ekstase bedarf nur weniger Augenblicke; die Ergießung ist fast unaufhaltbar. Zehn bis fünfzehn Jahre zu früh wird der Geschlechtstrieb schon im zartesten, unreifsten Alter bei beiden Geschlechtern durch Kaffee erregt."

Herrje! Was aus der maßlosen, ungezügelten Geilheit der Kaffeetrinker folgt, mag man kaum zu Ende denken und muss aber doch. Diese ganze Drogennummer zerstört ja nicht nur das Individuum, sie hat auch eine politische Dimension:

"Der kalte, überlegte Ernst unsrer Vorfahren, die solide Festigkeit des Willens, der Beschlüsse und Urteile, die Ausdauer der nicht schnellen, aber kräftigen, dem Zweck angemessenen Bewegungen des Körpers, die sonst den ursprünglichen Nationalcharakter der Deutschen bezeichnete – dies ganze hehre Urgepräge unsrer Abkunft schwindet vor diesem arzneilichen Trank und geht in übereilte Eröffnungen, voreilige Entschließungen, unreife Urteile, Leichtsinn, Veränderlichkeit, Schwatzhaftigkeit, Wankelmut, flüchtige Beweglichkeit der Muskeln ohne ausdauernden Nachruck und in theatralischen Anstand über. Ich weiß wohl; um in Phantasien zu schwelgen, um leichtfertige Romane und leichte spielende, witzige Dinge zu dichten, muss der Deutsche Kaffee trinken – die deutsche Dame bedarf starken Kaffee, um geistreich und feinfühlig in Modezirkeln zu glänzen."

Modezirkel! Geistreich! Phantasien! Das wäre ja furchtbar, Sitte und Anstand eines erdverbundenen Schollenvolks geraten hier in Gefahr ... Ob Hahnemann beim Schreiben doch ein bisschen zu tief in die Tasse geguckt hat? Wir wissen es nicht. Aber wir empfehlen den Meißenern, auf ihrem Hahnemannsplatz nicht nur eine Statue aufzustellen, sondern auch einen Ort zum Verweilen einzurichten: ein schickes Café. "Chez Samuel". Da kann dann jeder die grässlichen Auswirkungen eines Americano, Espresso, Latte oder Cappuccino am eigenen Leibe erfahren, und hier könnten auch all die Zuckerkügelchen endlich eine sinnvolle Verwendung finden.

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