Von den alten Mythen zu einer zeitgemäßen Weltsicht

Warum das Christentum stirbt

Der Autor widerspricht zu Recht der Auffassung, dass die allgemeinen Menschenrechte auf den Mythen aufbauten, die uns über jene alten Texte – gleichgültig welcher der drei großen Religionen – vermittelt werden. In einem Punkt allerdings – so der Autor – sei Jesus von Nazareth revolutionär gewesen: “Er setzt die Nächstenliebe mit der Gottesliebe gleich. Die horizontale Dimension gewinnt gegenüber der vertikalen an Bedeutung. Der direkte Umgang mit Gott, das liturgische Element, wie z.B. die Heiligung des Sabbats, muss zurückstehen, wenn tätiges Eingreifen geboten ist. Sozialverhalten zählt mehr als Regeltreue gegenüber den Ritualen.”. Diesen mythengeschichtlich revolutionären Aspekt deutet der Autor als eine Wende, als einen “säkularen Ansatz” in der Evolution der Mythen. (Angespielt wird hier auf das Jesus-Wort (Markus 2,27): “Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht, und nicht der Mensch um des Sabbat willen.”)

Das größte Ärgernis und wohl abstoßendste Element des christlichen Glaubens ist der Opfertod von Jesus. “Dass ein Gott seinen eigenen Sohn sich selbst zum Opfer bringt, um seine Liebe und Barmherzigkeit gegenüber den sündigen Menschen zu beweisen, das ist eine der absurdesten, um nicht zu sagen: ‘ungeheuerlichsten’ Erzählungen der Mythengeschichte.”’ Weiter schreibt der Autor: “Für die Gläubigen mag der Opfertod des Jesus von Nazareth das Erschütterndste und Wunderbarste sein, was der Menschheit geschehen konnte. Nüchtern betrachtet war Golgatha in der Geschichte menschlichen Leids eine relativ unbedeutende Randbemerkung. … Der Blutdurst eines beleidigten Gottes hätte sich mit dem Meer von Blut, das im Laufe der Geschichte vergossen wurde, zufrieden geben können. … Ganz zu schweigen von den Naturkatastrophen, die unzähligen Menschen unermessliches Leid zufügten.”

Kapitel 4 widmet sich der Wirkungsgeschichte des Christentums und fragt, was diese Lehre so attraktiv machte. Es war, stellt der Autor fest, die frohe Botschaft von der Vergebung der Sünden und dem ewigen Leben im Paradies, das den “Mühseligen und Beladenen”, den Sklaven Roms und den kleinen Leute so verlockend erschien. Das Überleben dieser Lehre über die Jahrhunderte verdankte sie ihrer Institutionalisierung als Kirche und ihrer Verbindung mit den jeweiligen Machthabern. Mit der Instrumentalisierung dieser Religion durch die jeweils Herrschenden setzte allerdings auch die Pervertierung der Lehre des Jesus von Nazareth ein. “Im Bündnis mit der politischen Macht mutierte sie von einer Gemeinschaft der Armen und Schwachen zu einer Kirche der Reichen und Mächtigen.” Und der Autor fährt fort: “Auch hierin unterscheidet sich die Geschichte des Christentums nicht von der anderer Mythen. Seit jeher wurden unter dem Banner des Mythos Machtkämpfe und Kriege geführt. ‘Im Namen Gottes…’” Die Parallelen zu einer anderen großen Weltreligion in Bezug auf Institutionalisierung und Instrumentalisierung durch die jeweils Mächtigen sind offenkundig.

Wenn auch äußerlich das Christentum sich über Jahrhunderte siegreich geben konnte, so blieben dieser Lehre auf dem Höhepunkt der Macht die innerkirchlichen Auseinandersetzungen und Abspaltungen nicht erspart. Darüber hinaus bestritten “Säkularisierung und Aufklärung” ihren bisher exklusiv erhobenen Anspruch, Mensch und Welt erklären zu können. Das Wirken göttlicher Kräfte wurde jetzt zunehmend durch die Gesetze der Natur ersetzt. Schließlich untersuchten die Theologen die Texte des Alten und Neuen Testaments mit der historisch-kritischen Methode, stellten Querverbindungen zu anderen Mythen fest, trennten den historischen Kern von den Legenden und entzauberten die Wundergeschichten und die Auferstehung. Oft blieb von dem Gottessohn Jesus nur ein moralisch vorbildlicher Mensch übrig. Der subversiven Kraft der Vernunft und der Evidenz der Argumente konnte sich das Christentum immer schwerer erwehren. Eine Entwicklung, die dem Islam noch bevorsteht. Erste Ansätze, den Islam wenigstens von seinen expliziten Gewaltgeboten zu befreien, um ihm ein “menschliches Gesicht” zu verleihen, versucht unter großen Anfeindungen der orthodoxen Islamvertreter der Münsteraner Theologe Mouhanad Khorchide mit seinem Projekt “Islam ist Barmherzigkeit”.

Wenn auch durch Säkularisierung und Aufklärung in eine Existenzkrise geraten, so spricht der Autor dem Christentum die positive Funktion zu, dass seinerzeit die Armen und Schwachen, das große Heer der Unterprivilegierten sich gegenüber den Reichen und Mächtigen aufgewertet und sich von ihrem “Vater im Himmel” geliebt fühlen konnten. Erwartete sie doch als entschädigende Belohnung das himmlische Paradies. Der Preis war die Unterwerfung unter die rigide Moral der Kirche und das demütige Hinnehmen ihrer erbärmlichen Situation. Gesellschaftliches Bewusstsein und das vorwissenschaftliche Weltbild erlaubten damals dem einfachen Volk noch kein kritisches Hinterfragen. Ein Blick in die heutige Welt der islamischen Gottesstaaten zeigt auch hier eine geradezu vollkommene Parallele zur damaligen Zeit auf.

Der Autor resümiert: “Den positiven, ›spirituellen‹ Wirkungen auf die Gläubigen steht das historische Versagen des Christentums gegenüber. Grob gesagt, das Christentum trug nicht zu einem humanen Fortschritt der Völker unter dem Zeichen des Kreuzes bei. Das ‘christliche Abendland’ zeichnete sich in seiner Gesamtheit weder politisch noch moralisch durch eine spezielle christliche Haltung aus.”

“Die Saga von der Religion als ‘Garant für Werte und Moral’ wurde und wird täglich Lügen gestraft. Es gibt keine moralische Trennlinie zwischen Religiösen und Säkularen, so wenig wie zwischen christlichen und nichtchristlichen Kulturen. Die Guten und die Bösen sind auf beiden Seiten gleichermaßen vertreten.” … “Die moralischen Vergehen der Vergangenheit sind zwar vergessen und vergeben; doch schon tut sich mit den Verfehlungen pädophiler Priester ein nicht für möglich gehaltener Abgrund auf. Skandale häufen sich, die man schwer mit dem Slogan ‘Kirche der Sünder’ entschuldigen kann.” Der Autor beschreibt den Zustand und die Auflösungserscheinungen der christlichen Kirchen anhand des breiten Spektrums der “Gläubigen” und “Ungläubigen”.

Und auch mit einer von den Kirchen und ihren Anhängern ständig wiederholten Unwahrheit räumt Ebersberg auf: “Das, worauf das Abendland samt Ableger in der Neuen Welt zu Recht stolz sein könnte – Säkularisierung und Aufklärung und die damit verbundenen philosophischen, wissenschaftlichen, technischen und auch sozialen Fortschritte – kann nicht, wie unverbesserliche Optimisten behaupten, mit dem Christentum und dessen ‘Werten’ in Verbindung gebracht werden. Der moderne Sozialstaat ist nicht die späte Frucht der christlichen Nächstenliebe, sondern durch Revolutionen und Streiks erkämpft. Demokratie und Menschenrechte mussten gegen den Widerstand der Kirche erstritten werden. Sie waren auch nicht Thema des Jesus von Nazareth. Alle Versuche, ihn für die Ziele der Aufklärung, der Emanzipation, soziale Gerechtigkeit, individuelle Freiheitsrechte, für Umweltschutz, Nachhaltigkeit u.ä. in Anspruch zu nehmen, ihn für moderne, säkulare Utopien zu instrumentalisieren, sind vielleicht gut gemeint; sie verfehlen jedoch völlig die Intention seiner Botschaft und seines ›messianischen Auftrags‹, die Menschheit von der Sündenlast zu erlösen.”

Im 5. und letzten Kapitel kommt der Autor noch einmal auf die Rolle, das Für und Wider der Mythen zu sprechen – auf ihre positive Kraft und ihre historisch bedingte Problematik. Er stellt fest, dass in der Geschichte die Kulturen und ihre Mythen geografisch isoliert waren (man nahm allenfalls über die Literatur und durch Reisen voneinander Kenntnis). In Zeiten der globalen Kommunikation und Wanderungsbewegungen hat sich ein radikaler Wandel eingestellt. Heute treffen Weltbilder unterschiedlichen Entwicklungs- und Erkenntnisstandes aufeinander und produzieren die inzwischen weltweit zu beobachtenden heftigen inner- und zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen.

Zum Schluss versucht Ebersberg den Mythen, die für ihn “Momentaufnahmen der kulturellen Evolution” sind, eine neue Interpretation zu geben. Er tut das mit dem zentralen Begriff der “Transzendenz” und elementaren Begriffen des Mythos wie Sinn, Sünde, Moral, Erlösung und Paradies und gibt ihnen ohne Bezug auf göttliche Offenbarungen eine diesseitige und weltliche Bedeutung. Er sieht “die Geschichte der Menschheit nicht als Heilsgeschichte, sondern als Entwicklungsgeschichte, als Aufstieg von primitiven Anfängen zu differenzierteren, sublimeren, ‘reicheren’ Lebensformen und Lebensentwürfen.” In diesem Sinne sieht er im Vertrauen auf den Fortschritt, in der Hoffnung auf eine bessere Welt den tastenden Versuch, die gegebenen Möglichkeiten auszuloten, ohne dabei utopischen Erlösungsmodellen nachzujagen. Ebersberg lässt keinen Zweifel daran, dass nur eine konsequente Trennung von Staat und Religion diese Entwicklungsmöglichkeiten bietet. In der Wiederbelebung der christlichen Religion und auch in der Verbrüderung der monotheistischen Konkurrenzreligionen mittels eines “interreligiösen Dialogs”, der eher dem Selbsterhalt dient, sieht er folglich nicht die Antwort auf einen uns aggressiv gegenüberstehenden Islam. Die eigentliche Frontlinie verläuft seiner Meinung nach nicht mehr zwischen den Religionen, sondern zwischen religiösem und säkularem Weltbild. Der Autor weist jedoch auch auf den nicht minder fragwürdigen säkularen Nachfolgemythos der Religionen, den globalen Kapitalismus, hin. Trotz des Versuchs der sukzessiven Aneignung des “Gottesmythos” in Richtung “Allmacht, Allwissenheit, Allgegenwart und Unsterblichkeit” wird der Mensch, so resümiert der Autor, seine Endlichkeit akzeptieren und auf Heilsmythen gleich welcher Art verzichten müssen.

Ein schmales Bändchen, das es verdient, in die Hand genommen zu werden. In wohltuend klarer und eleganter Sprache verfasst, ist es ein Abschied von den Religionen und eine Anleitung zur Besinnung auf heutige Einsichten und die konstruktive Vernunft, immer argumentativ, ohne apodiktisch zu werden. Der Rezensent hat es mit viel Gewinn und intellektuellem Vergnügen gelesen. Zudem ist es angesichts der heute auf uns einwirkenden Informationsfülle erfreulicherweise an einem Wochenende durchzulesen. Thomas Ebersberg, ehemals Mitglied des Jesuitenordens, weiß als “Insider” wovon er spricht. Er hat “Glauben erfahren”, was seinen Worten und Einsichten besondere Authentizität verleiht.

Thomas Ebersberg: Christentum adieu! Das leise Sterben eines Mythos. Verlag BoD, Norderstedt 2014, 112 S. Paperback 7,90 Euro, E-Book 4,49 Euro