Monika Marons neuer Roman: "Munin oder Chaos im Kopf"

Die Weisheit der Krähen

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Nebelkrähe (Corvus cornix)
Nebelkrähe (Corvus cornix)

Vor zwei Jahren erschien mit "Krähengekrächz" aus der Feder von Monika Maron eine Recherche und Essay in einem über den schlauen schwarzen Unglücksvogel, die Rabenkrähe; vor allem aber schrieb die Autorin mit dem schmalen Bändchen damals eine Vorstudie zu einem Roman, in dem dieses unerschrockene und doch geheimnisvolle Tier eine Rolle spielen sollte. Mit "Munin oder Chaos im Kopf" ist dieser nun  erschienen.

Munin, eine Nebelkrähe mit nur einem Fuß, landet eines Tages auf dem Balkon, lässt sich mit Wurstscheiben bis in die Wohnung locken, wird so zur regelmäßigen Besucherin im Zwielicht des Morgens, und die freischaffende Journalistin Mina hört sie verblüffend klare Antworten auf die großen Menschheitsfragen geben. Die braucht Mina, die gerade an einer Auftragsarbeit über den Dreißigjährigen Krieg für eine westfälische Kleinstadt sitzt und beunruhigt ist von den Krisennachrichten der Gegenwart.

Mina schreibt nachts, denn dann ist es still. Tagsüber singt eine verrückte Nachbarin Opernarien auf dem Balkon und braut sich nachbarlicher Unmut über die Sangeskünstlerin zusammen, der die Straße zur Kampfzone macht.

Um mehr über ihren Gast im Morgengrauen zu erfahren, macht Mina sich in einer Vorstudie einer Autorin kundig, die einen Roman zu schreiben beabsichtigt, in der die Figur einer Krähe vorkommt. So schmuggelt sich Monika Maron mit einem Augenzwinkern kurz mit einem Loop selbst als Nebenfigur in ihren eigenen Roman hinein, die von ihr geschaffene Romanfigur gerät ihrer eigenen Autorin auf die Spur.

Cover

Monika Maron hat mit diesem Roman eine Parabel geschrieben, wie Ressentiments um sich greifen, Wirkungslosigkeit in Aggression kippen, Frustration in Wut umschlagen und Vorurteile auf Ohnmächtige projiziert werden. Die Nachbarn wollen die Verrückte loswerden, doch spalten sie sich bald in zwei Lager: in das der Wohlhabenden und das der ökonomisch weniger Favorisierten, in die Wortgewaltigen und die, die zum Mob werden. In die Toleranten und die Engstirnigen, welche die Sängerin bekämpfen wollen, aber die Flüchtlinge meinen. Schließlich gehen beide Seiten verbal oder tätlich aufeinander los. Die einen verfügen über die Gabe des geschliffenen Wortes, die anderen ballen ihre Fäuste. Wer schließlich Autoreifen aufschlitzte und gar ein Auto abfackelte, muss die Polizei herausfinden.

Unsere Autorin fühlt sich erinnert an Vorkriegszeiten und plötzlich den Menschen im Dreißigjährigen Krieg sehr nahe. Ob der Söldner, der sich mal auf dieser, mal auf jener Seite verdingt, ob Herzog Christian in Annette von Droste-Hülshoffs Gedicht "Die Krähen" über die Schlacht von Stadtlohn 1623, der in den Krieg zieht, um nicht Bischof zu werden, alle kämpfen sie im Grunde für sich allein, auch wenn sie Gott auf ihre Fahnen geschrieben haben.

Lange schien solcher Atavismus überwunden. Nun bricht er sich wieder Bahn. Nationalfahnen tauchen in den Fenstern auf, und eine unbestimmte Rage sucht sich, wenn schon kein potentieller Terrorist weit und breit in der kleinen Straße anzutreffen ist, eine verrückte Sängerin als gemeinsamen Gegner.

Die Zeiten wiederholen sich. Weil die Menschen unfähig sind aus der Geschichte zu lernen, meint Munin, die Krähe, von Mina benannt nach einem der beiden Raben auf Odins Schulter, "Erinnerung" geheißen, Pendant zu "Denken", wie der andere der germanischen Mythe nach gerufen wird. Munin kennt die Geschichte der Menschheit. Alles ist in seinem Kopf abgespeichert, all die Kriege der Menschen. Als Unglücksvogel waren seine Vorfahren auf allen Schlachtfeldern, auf Galgen und Friedhöfen zugegen. Was sie erlebten, trägt er in den Genen.

Mina umwirbt ihren seltsamen Gast im Morgengrauen, der an den Menschen kein gutes Haar lässt, und wartet immer angespannter auf das Gespräch mit ihm. Sie denken stets alles zu können und können nichts lassen, auch nicht zulassen, wie den Tod, meint der. Sie betrachten sich hundertmal am Tag im Spiegel – ob Munin die Smartphones meint? Sie vergöttern sich selbst.

Die Tiere dagegen machten automatisch alles richtig, weil es für sie kein Richtig und Falsch gäbe. Sie bräuchten keine Wunder, weil für sie auch keine Erklärungen für Geschehnisse existierten. Sie benötigten aber auch keine Technik, um sich zu orientieren, das leistet – etwa bei den Zugvögeln – das Gehirn schon selber. Sie sei Gott, behauptet die Krähe schließlich, obwohl sie, ja, über 90 Prozent der Gene mit uns teile. Alles sei Gott, das Meer und der Mond. Das sei dann dasselbe wie ohne Gott auszukommen, kann ihr die von mehreren Gin Tonic benebelte Dichterin nur noch matt entgegnen.

Allein Mina kann Munin hören, ihre Freundin, versteckt in der Küche, nicht. Munin spricht nur in Minas Kopf. Eine Gabe, die man bei keinem Kind verwunderlich finden würde, rückt die Journalistin als Erwachsene in bedenkliche Nähe zu dem prekären Bewusstseinszustand der selbsternannten Operndiva heran. Wer ist verrückt, wer ist im Besitz der Wahrheit, das wird umso unklarer, je mehr die Menschen vereinzeln und über je eigene inkommensurable Wahrheiten verfügen. Das demonstriert der neueste absolut souverän komponierte und erzählte Roman von Monika Maron.

Der Dreißigjährige Krieg begann mit einem Fenstersturz. Der Nachbarschaftskrieg findet mit einem wahrhaft opernbühnenreifen Treppensturz sein tödliches Ende. Die Verrückte rammt sich dabei im Fallen versehentlich selbst ein Messer in den Leib. Was den Nachbarschaftsfrieden wiederherstellt.

Monika Maron: "Munin oder Chaos im Kopf", S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018, 222 S., 20,00 Euro