Die Freiheit der Wissenschaft steht von sehr vielen politischen und weltanschaulichen Seiten unter Druck. Das zeigt ein Blick auf die jüngsten Ereignisse an der US-amerikanischen Elite-Universität Harvard. Aber auch in Deutschland versuchen Aktivisten, unliebsame Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen mundtot zu machen. Ein Appell für Aufklärung, Skepsis, Offenheit und den Mut zur Debatte.
Harvard und die USA
An der Universität Harvard hatten sich zuletzt heftige Kontroversen entzündet. Themen waren unter anderem Cancel Culture, Meinungsfreiheit und der Umgang mit antisemitischen Protesten. Besonders geriet die damalige Präsidentin Claudine Gay nach einer Anhörung vor dem US-Kongress in die Kritik. Sie wirkte sichtlich überfordert, als sie gefragt wurde, ob Aufrufe zum Völkermord an Juden gegen die Richtlinien der Universität verstoßen. Ihre Antwort – "Das kommt auf den Kontext an" – löste heftige Empörung aus. Zwar war dies juristisch korrekt – aber mehr als ungeschickt formuliert: Die Präsidentin hätte jüdische Studenten klar in Schutz nehmen müssen.
Hierzu muss man wissen: Aufrufe zum Völkermord können in den USA unter bestimmten Umständen durch den ersten Verfassungszusatz (First Amendment) geschützt sein, solange sie nicht die Schwelle zu "unmittelbarer Anstiftung zu Gewalt" (incitement) oder "echten Drohungen" (true threats) überschreiten. Genau letzteres ist allerdings das Problem: Jüdische Studenten an Universitäten konnten sich nicht mehr sicher fühlen – und das nicht nur in den USA und selbst ohne ein entsprechendes erstes Verfassungszusatzgesetz. Es ging also um viel mehr als darum, dass sie unangenehme und abscheuliche Meinungen ertragen mussten: Um die Sicherheit von Leib und Leben.
Auch der Fall des afroamerikanischen Ökonomen Roland Fryer macht deutlich, wie stark der Umgang mit Wissenschaftsfreiheit inzwischen politisiert ist. Fryer wurde 2019 suspendiert, obwohl die Mehrheit der Vorwürfe gegen ihn abgewiesen wurde. Kritiker sprechen von einem politischen Verfahren, das eher mit seinen Forschungsergebnissen zu tun hatte, die manchen missfielen. Er forschte über Polizeigewalt und kam unter anderem zu dem Ergebnis, dass Schwarze und Weiße gleichermaßen von tödlichen Polizeieinsätzen betroffen sind.
Trotz dieser problematischen Entwicklungen muss man festhalten: Die Mehrheit der Forschung in Harvard ist exzellent, und die Universität trägt ihren guten Ruf nicht von ungefähr. Sie zieht Studenten aus aller Welt an. Die Universität hatte zudem lange vor der Wahl Trumps proaktiv reagiert, etwa mit studentischen Initiativen und dem Council on Academic Freedom, der sich für akademische Freiheit, gesellschaftlichen Diskurs und Meinungsvielfalt einsetzt. Der Kognitionspsychologe Steven Pinker sieht eine Verschlechterung der akademischen Freiheit seit 2020, aber auch Hoffnung durch Gegenbewegungen. Andere sind der Ansicht, dass der Höhepunkt der "Wokeness"-Bewegung bereits lange vor Trumps zweiter Präsidentschaft überschritten wurde.
Pinker betont auch eine weitere, leider in Vergessenheit geratene Tatsache: Die freie Meinungsäußerung wird heute fälschlicherweise als "rechtes" Thema dargestellt, obwohl sie historisch stets ein Anliegen der Linken gewesen ist. Pinker sagt: "Ideologie ist wie Atem, man riecht nie den eigenen” ("Ideology is like breath; you never smell your own. "). Wurde die Wissenschaft früher in Fragen wie der Evolution von Vertretern der Religion unter Beschuss genommen, kommen heute die Angriffe auf die Wissenschaft eher von der "woken" Seite.
Der amerikanische Sprachwissenschaftler John McWhorter hat die "Woke"-Bewegung als eine Art Religion bezeichnet. In seinem 2021 erschienenen Buch "Die Erwählten” argumentiert er, dass der moderne Anti-Rassismus – insbesondere in seiner dogmatischen Ausprägung – religiöse Züge angenommen habe. Ziel dieser "neuen Religion” sei nicht, Schwarze zu unterstützen, sondern zu demonstrieren, dass man selbst ein guter Mensch sei.
McWhorter bezeichnet die Anhänger dieser Bewegung sogar als "Erwählte" – eine Anspielung auf religiöse Konzepte – und beschreibt ihre Praktiken als performativ, moralistisch und intolerant gegenüber Abweichungen – dies erinnere ihn an religiösen Fundamentalismus.
Mit der Wahl von Donald Trump, der mit eigenen Motiven auf den "Anti-Woke"-Zug aufgesprungen ist, hat sich die Situation für die Wissenschaft noch dramatisch verschlechtert. Die Regierung unter Trump hat im Jahr 2025 massive Kürzungen bei den Instituten für Gesundheitsforschung (NIH) und der Nationalen Wissenschaftsstiftung (NSF) durchgesetzt: Bis zu 67 Prozent weniger Mittel stehen nun für die Grundlagenforschung zur Verfügung. Begründet wurde dieser Schritt mit dem Kampf gegen "woke" Forschung, tatsächlich handelte es sich jedoch um ein Exempel ohne Rücksicht auf Kosten. Andererseits empfing Trump Neonazis, wodurch seine angebliche Solidarität mit jüdischen Anliegen unglaubwürdig wird. Die Einschüchterung durch staatliche Macht sei gefährlicher als die interne "Cancel-Kultur", schreibt Steven Pinker. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung meinte Pinker, im Vergleich zu früheren Eingriffen habe Trump es über die Ebene der Wissenschaftsleugnung hinausgebracht: "Das ist die komplette Verachtung der Wissenschaft."
Auch die University of Austin (UATX), die als Alternative zur "woken" Hochschullandschaft gegründet wurde, nahm zusehends ideologische Züge an. Pinker trat aus dem Beirat zurück, als sich die Ausrichtung radikalisierte. Seine Kritik: Anstelle echter Wissenschaftsfreiheit gehe es um die Pflege von Kränkungen (grievances) gecancelter Stimmen – und ist somit nicht anders als das, was sie angeblich bekämpfen.
In ihrem Artikel "Is the University of Austin Betraying Its Founding Principles? " beschreibt Ellie Avishai in Quillette sehr präzise, was bei UATX schiefläuft. UATX – ursprünglich als Zufluchtsort für freie Denker gegründet – führt zunehmend selbst ideologische Prüfsteine ein. Wer nicht explizit "anti-woke" genug sei, werde ausgegrenzt – so geschehen mit ihrer eigenen Organisation, dem Mill Institute. Es wurde wegen moderater Positionen gegenüber DEI (Diversity, Equity, Inclusion) von der Universität entkoppelt, weil es nicht in das zunehmend dogmatische, "anti-woke” Profil passte. Avishai warnt davor, dass die UATX Gefahr laufe, genau jene Intoleranz zu reproduzieren, gegen die sie ursprünglich angetreten war – nur mit umgekehrten ideologischen Vorzeichen.
Man sieht: Nicht nur "woke", sondern auch "anti-woke" kann zum Problem werden – und wie man hier sieht, noch schlimmer, da "anti-woke" mit staatlicher Macht ausgestattet ist.
Was kann Deutschland daraus lernen?
Auch hierzulande ist die Wissenschaftsfreiheit nicht selbstverständlich. Ein Beispiel hierfür ist der Fall von Marie-Luise Vollbrecht. Die Biologin wollte 2022 an der Humboldt-Universität zu Berlin einen Vortrag mit dem Titel "Geschlecht ist nicht gleich Geschlecht. Sex, Gender und warum es in der Biologie nur zwei Geschlechter gibt” halten. Aufgrund angekündigter Proteste sagte die Universität den Vortrag jedoch kurzfristig ab – offiziell aus Sicherheitsgründen. Dabei entsprach Vollbrechts Aussage dem aktuellen Stand der biologischen Forschung. Die Absage wurde als Beispiel für "Cancel Culture” gewertet. Die Universität holte den Vortrag später nach, doch der Schaden war bereits entstanden. Man kann die Frage stellen, ob Vollbrecht immer geschickt argumentiert hat, oder ihren Stil kritisieren, ihren Vortrag abzusagen bleibt unakzeptabel.
Dieser Fall zeigt, dass selbst wissenschaftlich korrekte Aussagen durch sozialen Druck unterdrückt werden können. Das ist gefährlich – nicht nur für die betroffene Person, sondern für die offene Debattenkultur insgesamt. Was können wir daraus lernen, um sowohl der "Cancel Culture” als auch einer Reaktanz wie in den USA vorzubeugen?
Die Kernprinzipien der Wissenschaft zeigen uns den Weg. Der einflussreiche US-Wissenschaftler und Sachbuchautor Carl Sagan sagte einmal: "Die Wissenschaft ist mehr als ein Wissensfundus; sie ist eine Denkweise, eine Art, das Universum skeptisch zu hinterfragen, mit einem guten Verständnis für die menschliche Fehlbarkeit.” Richard Feynman, Physiker und Nobelpreisträger, sagte: "Es ist völlig egal, wie schön deine Theorie ist, wie klug du bist oder wie berühmt dein Name ist – wenn sie nicht mit dem Experiment übereinstimmt, ist sie falsch." Und: "Keine Regierung hat das Recht, über die Wahrheit von wissenschaftlichen Prinzipien zu entscheiden.” Man könnte hier ergänzen: Das gilt auch für selbsternannte interne Moralwächter.
Der Philosoph John Stuart Mill betonte:
"Wir können nie sicher sein, dass die Ansicht, die wir zu unterdrücken suchen, falsch ist; auch wenn wir sicher sein könnten, wäre die Unterdrückung immer noch ein Übel. Wenn die Meinung richtig ist, sind wir ihrer Wahrheit beraubt; wenn sie falsch ist, bietet sie uns die Gelegenheit, die Wahrheit gegen sie zu verteidigen."
Erkenntnisse der Wissenschaft können der einen oder anderen weltanschaulichen oder politischen Position gefallen oder missfallen. Wenn dies jedoch ein Kriterium für die Akzeptanz innerhalb von Wissenschaftseinrichtungen wäre, dann wäre die Wissenschaftsfreiheit und damit die Wissenschaft selbst am Ende. Wie an der Harvard University müssen deshalb interne Mechanismen greifen, sonst sind Entwicklungen wie in den USA auch bei uns möglich.
Die Wissenschaftsfreiheit braucht Schutz – gegen ideologische Vereinnahmung, egal von welcher politischen, moralischen oder weltanschaulichen Richtung sie kommt. Wissenschaftliche Einrichtungen müssen den Druck von innen ("Wokeness”) und von außen (autoritäre "Anti-Woke”-Bewegungen) standhalten. Institutionen wie Harvard zeigen, dass dies gelingen kann, wobei der Erfolg keineswegs sicher ist. Andere Universitäten sind vor Trump eingeknickt wie zuvor vor dem Mob. Harvard wird hier seinem Ruf mit einer konsequenten Haltung gerecht.
Es gibt also einen Weg nach vorn, auch wenn der Erfolg keineswegs garantiert ist: Aufklärung, Skepsis, Offenheit und der Mut zur Debatte – insbesondere dann, wenn der wissenschaftlichen Community die Meinung der "anderen” nicht passt. Wenn sie Unrecht haben, wird sich das in der Debatte herausstellen. Wenn nicht, habe hat man etwas Neues gelernt! Ganz im Sinne von John Stuart Mill.
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A.S. am Permanenter Link
Auch Wissenschaftler brauchen Rückgrat - gegen Unwissenschaftlichkeit.
Jede "Haltung" muss korrigierbar sein, denn Menschen sind fehlbar.