Lehren aus "Just Stop Cooking"

Pragmatisch für Mensch und Klima

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Wie lässt sich effektiver Klimaschutz mit Wohlstand und besserer Gesundheit für Milliarden Menschen vereinen? Der Streit um Bill Gates' Plädoyer für pragmatische, menschenzentrierte Klimapolitik verdeutlicht ein Dilemma: Während die globale Debatte sich oft an Symbolen und Maximalforderungen festbeißt, brauchen viele Menschen im Globalen Süden vor allem Zugang zu sauberer Energie und gesunder Ernährung. Am Beispiel der Initiative "Just Stop Cooking" zeigt sich, wie risikoorientierte Prioritätensetzung und wissenschaftliches Denken wirkungsvolle Ansätze ermöglichen statt einseitigen Parolen zu folgen.

In seinem Essay "Drei harte Wahrheiten über das Klima" erinnert Bill Gates daran, dass Klimapolitik den Menschen Vorrang vor Parolen oder abstrakten Temperaturzielen einräumen muss, siehe auch watson.ch, taz und Spiegel online. Gates' Beitrag löste in Deutschland wie international heftige Debatten aus: Während einige Kritiker aus dem Lager der Wissenschaftsleugner weiterhin Klimarisiken kleinreden, werfen andere Gates einen "Strategiewechsel" oder sogar "Verrat am Klimaschutz" vor – und ziehen dabei teils polemische Vergleiche, etwa mit Donald Trump. Diese Polarisierung ist jedoch eine grobe Fehlinterpretation von Gates' Bilanz: Sein Ansatz basiert auf langjährigem Engagement für Klimaschutz und Armutsbekämpfung, insbesondere in Afrika, und steht damit für Kontinuität – nicht für eine Kehrtwende.

Gates' Kernargument wird häufig übersehen: Der Klimawandel bleibt eine enorme Herausforderung, aber für Milliarden Menschen – vor allem im Globalen Süden – sind unmittelbare Bedrohungen wie Armut, Unterernährung und Krankheit nach wie vor weitaus dringender. Nur durch Investitionen in Gesundheit, Innovation und modernen Zugang zu Energie können widerstandsfähige Gesellschaften entstehen, die sich erfolgreich an ein wärmeres Klima anpassen (Vereinte Nationen, 2024). Diese Sichtweise spiegelt sich auch in den Zielen für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen wider: Klimaschutz ist eines von vielen miteinander verbundenen Zielen für globales Wohlergehen.

Entscheidend ist, dass Resilienz, Entwicklung und Klimaschutz keine Gegensätze sein müssen: Wer sich zu einseitig auf Emissionsminderung oder abstrakte Temperaturziele fokussiert, läuft Gefahr, die Lebensrealität von Entwicklungsländern und ihre dringendsten Prioritäten zu verkennen. Viele Menschen im Globalen Süden benötigen zuerst Zugang zu bezahlbarer Energie, Nahrung und Gesundheit – das rasche Abschaffen fossiler Brennstoffe ist für sie oft weniger dringlich als das Überwinden der Armut. Ein ausgewogener Ansatz muss die vielfältigen globalen Realitäten respektieren und sowohl kurzfristige als auch langfristige Ziele im Blick behalten.

Die afrikanische Kampagne "Just Stop Cooking"

Rasche Fortschritte erfordern skalierbare, kontextsensitive Lösungen. Wo die vollständige Elektrifizierung nicht absehbar ist, kann selbst Flüssiggas (LPG) – trotz fossilen Ursprungs – die Luftverschmutzung drastisch reduzieren, das Leben von Frauen verbessern und Wälder schützen (siehe auch hier). Den Menschen im Globalen Süden den Zugang zu Flüssiggas (LPG) aus ideologischen Gründen zu verweigern, ist deshalb weder "grün" noch gerecht – es bedeutet schlichtweg, eine vermeidbare Gesundheitskrise zu verlängern.

Kochen mit Biomasse versus saubere Energie

Alt gegen Neu: Kochen mit Biomasse versus saubere Energie (Solarenergie, Flüssiggas als Übergangslösung und Kernenergie) zur Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung.
(KI-generierte Illustration für redaktionelle Zwecke; keine realen Personen abgebildet.)

Drei Milliarden Menschen sind immer noch auf Holz, Dung oder Holzkohle zum Kochen angewiesen – mit fatalen Folgen für Menschen und Natur, laut der WHO: "Häusliche Luftverschmutzung war im Jahr 2020 für geschätzt 3,2 Millionen Todesfälle jährlich verantwortlich, darunter mehr als 237.000 Todesfälle von Kindern unter fünf Jahren." Beinahe die Hälfte aller Todesfälle durch untere Atemwegsinfektionen bei Kindern unter fünf Jahren wird durch das Einatmen von Feinstaub (Ruß) aus der häuslichen Luftverschmutzung verursacht."

Doch oft stehen westliche Länder und NGOs dem tatsächlichen Fortschritt im Wege. So verweigerte die Weltbank unter dem Einfluss Deutschlands jahrelang die Finanzierung von Kernenergieprojekten in Afrika – Millionen Menschen bleibt damit der Zugang zu zuverlässiger sauberer Energie verwehrt. Ähnlich verhinderten internationale Geber und NGOs den Einsatz von Gentechnik wie die Reissorte "Golden Rice", was gravierende Folgen für die Ernährungssicherheit und die Gesundheit im Globalen Süden hatte. Bangladesch zeigt mit Bt-Auberginen, welche Chancen smarte Innovationen bieten.

Deutschland als warnendes Beispiel

Die Erfahrungen in Deutschland dienen als warnendes Beispiel. Einst das "Vorzeigeland" für Aktivisten in aller Welt, hat es seit der Stilllegung seiner Kernkraftwerke sowohl der Minderung von Emissionen als auch der öffentlichen Gesundheit einen Bärendienst erwiesen.

Basierend auf WHO-Methodik schätzen die Autoren des Reports von WePlanet/Anthropocene Institute, dass die erhöhte Kohleverbrennung durch den Atomausstieg 19.200 vorzeitige Todesfälle und 177.000 schwere Erkrankungen durch Luftverschmutzung verursacht hat. Hinzu kommen 4 Tonnen Quecksilber, 2,5 Tonnen Cadmium und 20 Tonnen Blei, die zusätzlich in die Umwelt gelangten (WePlanet/Anthropocene Institute, 2025, S. 2–3, 12–15).

Die wirtschaftlichen Auswirkungen sind beträchtlich: Die zusätzlichen CO₂-Emissionen entsprechen beim aktuellen ETS-Preis von 78 Euro pro Tonne Kosten von etwa 57 Milliarden Euro oder 1.390 Euro pro Haushalt – Kosten, die sich in Europas höchsten Strompreisen widerspiegeln, die dieses ehemals führende Industrieland nun hat. Sie liegen 37 Prozent über dem EU-Durchschnitt. Im Jahr 2025 lag der durchschnittliche Strompreis für deutsche Haushalte bei 0,38 bis 0,39 Euro pro kWh. Diese steigenden Kosten verschärfen die Ungleichheit, schaden wichtigen Industriezweigen und gefährden die Arbeitsplatzsicherheit sowie die Wettbewerbsfähigkeit.

Der Bericht bilanziert: "Der deutsche Atomausstieg zählt zu den folgenreichsten energiepolitischen Entscheidungen des 21. Jahrhunderts. Er sollte Risiken verringern, hat sie jedoch erhöht; er sollte Klimaziele voranbringen, hat sie jedoch untergraben; er sollte die öffentliche Gesundheit schützen, hat jedoch Tausende vermeidbare Todesfälle verursacht." (WePlanet/Anthropocene Institute, 2025, S. 20)

Die deutschen Erfahrungen zeigen, dass gut gemeinte politische Maßnahmen unbeabsichtigte und schwerwiegende Nebenwirkungen haben können – ein starker Hinweis auf die Notwendigkeit einer wissenschaftsbasierten, bezahlbaren und gerechten Energie- und Klimapolitik.

Rationaler Diskurs statt persönlicher Angriffe

Die Kritik an Bill Gates' Plädoyer für Pragmatismus in der Klimapolitik war in der öffentlichen Debatte mitunter von persönlichen Angriffen oder Vorwürfen einer "sanften Leugnung" geprägt und verfehlte damit den wesentlichen Punkt: die Frage, wie tatsächliche Fortschritte in den Bereichen Resilienz, Wohlstand und Anpassung gelingen können. Bemerkenswert ist, dass viele derjenigen, die Gates für seinen pragmatischen Ansatz angriffen, schweigend oder sogar zustimmend zusahen, als in Deutschland zahlreiche kohlenstoffarme Atomkraftwerke stillgelegt wurden – was die globalen Klimaziele massiv untergrub.

Wichtiger als solche rhetorischen Auseinandersetzungen sind die objektiven Ergebnisse vor Ort und weltweit. Trotz vieler Naturkatastrophen zeigen internationale Statistiken, dass die Zahl der Todesfälle durch klimabedingte und wetterbedingte Gefahren im letzten Jahrhundert massiv gesunken ist. So fiel die Zahl der Opfer von 181 pro Million Menschen weltweit im Jahr 1900 auf nur noch 11 pro Million in den 2000er Jahren – weniger als sechs Prozent der historischen Rate (Gapminder 2025). Die jährliche Zahl der Todesopfer durch Naturkatastrophen weltweit ist von etwa 500.000 (1900) auf unter 30.000 gefallen – trotz der Vervierfachung der Weltbevölkerung. Diese Zahlen werden auch ausführlich in den Büchern von Hans Rosling (Rosling 20201) und Steven Pinker (Pinker 20182) dargestellt und kontextualisiert.

Die finanziellen Verluste durch Katastrophen steigen zwar – das liegt aber vor allem daran, dass es heute mehr Menschen und Sachwerte in gefährdeten Gebieten gibt, nicht an einer gesunkenen Widerstandsfähigkeit. Unsere Gesellschaften sind heute wesentlich besser darin, Stürme und Katastrophen zu bewältigen.

Klimapolitik

Fossile Brennstoffe stellen eine nachweisbare Gefahr für die öffentliche Gesundheit dar – jedes Jahr sterben Millionen Menschen an Luftverschmutzung, die unabhängig vom Klimawandel entsteht. Der Ausstieg aus Kohle und Öl bleibt ein wichtiges Ziel – aber er darf nicht auf Kosten von Energiezugang, Wohlstand und Widerstandsfähigkeit erfolgen.

Die eigentliche Lehre lautet: Mitgefühl und Fakten, nicht Parolen oder Alarmismus, sollten die Klimapolitik leiten. Sauberes Kochen, pragmatische Energie-Entscheidungen und innovative Ernährungslösungen sind für die Menschenwürde und unseren Planeten von grundlegender Bedeutung – und kein "Nebenkriegsschauplatz". Die Zahlen von Gapminder belegen, dass echter Fortschritt möglich und bereits Realität geworden ist, wenn auch keine Garantie für die Zukunft. Gates' Intervention ist eine Einladung, über Parolen hinauszudenken und vernunftbasierte, gerechte Strategien zu stärken, die alle Herausforderungen berücksichtigen.

Disclaimer

Dieser Artikel behauptet nicht, dass "die Wissenschaft" bestimmte Maßnahmen oder politische Strategien vorschreibt. Gesellschaftliche Prioritäten und Zielsetzungen müssen demokratisch, ethisch und offen debattiert werden. Die Wissenschaft ist dabei Wegweiser, nicht Gesetzgeber: Sie ermöglicht die Bewertung der Wirksamkeit und der Nebenwirkungen verschiedener Ansätze und schützt vor unwirksamen oder gar schädlichen Politiken. Diese Unterscheidung ist unerlässlich für Integrität und Verantwortung – gerade in der Klima- und Entwicklungspolitik.

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1 Hans Rosling: Factfulness – Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Ullstein, Berlin 2020.

2 Steven Pinker: Aufklärung jetzt: Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. S. Fischer, Frankfurt 2018.