Ökonomische Plaudereien

Was ist Gier?

BERLIN. (hpd) Wenn es gerade mal wieder brennt in der Weltwirtschaft oder auch um die Ecke, hört man von ihnen, den gierigen Managern, den gierigen Bankern, den gierigen dies und das, also von Leuten, die danach Schuld sind am Schlamassel.

Das Muster findet sich gedruckt, im Radio, im TV und im Netz. Mit dem Anstrich tieferer Reflexion wird dann gelegentlich hinzugefügt, dass die Gier, die man gerade noch gegeißelt hat, aber auch der Motor der Wirtschaft ist. Denn wären wir nicht gierig, säßen wir alle nur herum und warteten auf besseres Wetter. So oder so ähnlich.

Abgesehen vom konkreten Anlaß und von der Art der Darstellung wird hier eine These gepflegt, die eine genauere Betrachtung wert ist.

Was ist Gier?

Man kann sie beschreiben als besonders starke Ausprägung eines Bedürfnisses. Das erklärt zwar nichts, aber es bringt einen neuen Begriff ins Spiel: das Bedürfnis. Was unterscheidet ein gewöhnliches Bedürfnis von derselben Sache, wenn man sie Gier nennt? Das kann man mit sich selbst ausmachen - und dabei richtig oder falsch liegen. Manchmal findet man das mit einem Blick in den Spiegel heraus, wenigstens, soweit es das Essen angeht. Manches wird auch durch gesellschaftliche Konventionen beeinflußt und wenig ist wandelbarer als diese. Mancher versucht jedoch, Ordnung in diese doch recht subjektive Sache zu bringen, z.B. mit der Maslowschen Bedürfnispyramide.

Abraham Maslow [1] hat sich 1943 darüber Gedanken gemacht, wie Bedürfnisse zu ordnen sind. Besonders populär ist die daraus abgeleitete Bedürfnispyramide, die eher ein Bedürfnisdreieck ist und worin ganz unten physiologische Bedürfnisse stehen, ganz oben die "Selbstverwirklichung" und der Rest dazwischen.

Auch die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) bedient sich dieser Darstellung. Darüber hinaus weiß man dort: "Die Bedürfnisse des Menschen sind grundsätzlich unbegrenzt" [2]. Das ist erstaunlich. Beim Atmen etwa haben die wenigsten unter uns das Bedürfnis nach unbegrenzter Inhalation. Ähnlich verhält es sich mit anderen physiologischen Bedürfnissen. Auch von Liebe, Zuwendung und Selbstverwirklichung hat man irgendwann reichlich. Schon durch die zeitliche Begrenztheit der menschlichen Existenz scheint die Behauptung unbegrenzter Bedürfnisse nicht recht stimmig.

Mit diesem Artikel beginnt eine lose Serie, in der es um wirtschaftliche Begriffe und Zusammenhänge gehen wird.

Aber "unbegrenzte Bedürfnisse" klingt auch ein wenig nach Maßlosigkeit, also nach Gier. Aber das ist hier nicht das Problem. Viel erstaunlicher scheint, dass die Arbeit eines Psychologen bemüht wird, um Schülern unter der Überschrift "Wirtschaft für Einsteiger" [3] zu erklären, wie der Hase läuft. Allerdings kommt in dem Arbeitsmaterial auch ein Ökonom zu Wort und führt uns zurück zur Frage nach der Rolle der Gier. Adam Smith (1723–1790) schrieb: "Es ist nicht die Wohltätigkeit des Metzgers, des Brauers oder des Bäckers, die uns unser Abendessen erwarten lässt, sondern dass sie nach ihrem eigenen Vorteil trachten." Das Trachten nach dem eigenen Vorteil in diesem Sinne, kann, wenn überzogen, leicht als Gier durchgehen. Eigennutz als Triebfeder des Wohlstands also (bpb). Eigennutz - Bedürfnis - Gier, wer das innerlich nah beieinander hat und nicht sorgfältig unterscheidet, wird Smiths triviale Bemerkung leicht in dem Sinne deuten, dass die Gier der Motor der Wirtschaft sei. Also doch Psychologie, und anscheinend von einem angesehenen Ökonomen abgesegnet.

Aber hilft Gier wirklich? Von Kindesbeinen an lernen Menschen, mit ihren Bedürfnissen umzugehen. Schon als Dreijährige erfahren viele von uns, dass es nichts bringt, etwas ganz besonders zu wollen, also gierig zu sein. Später lernen manche auch, dass es zuweilen zielführender ist, sich gar nicht anmerken zu lassen, wie sehr man etwas möchte. Gier ist also durchaus nicht von vornherein förderlich. Sie kann auch hinderlich sein. Aber davon mal abgesehen:

Taugt Psychologie als Erklärungsmodell für Ökonomie?

Der leichtfüßige Schluß, wenn Bedürfnisse Menschen dazu bringen, Wirtschaft zu machen, spezialisiert zu arbeiten, nach Effektivität zu streben usw., dann müsse die extreme Ausprägung der Bedürfnisse, also die Gier, entsprechend extreme wirtschaftliche Aktivitäten hervorbringen, scheint irgendwie einleuchtend. Das ist so schön naheliegend, dass schon das allein Mißtrauen wecken sollte. Wenn es aber so ist, warum gehen wir dann mit Wirtschaftskrisen nicht einfach zum Arzt oder zum Yoga-Kurs?

Ein Beispiel

Der – selbstverständlich – eigennützige Bäcker hat Konkurrenz, nämlich die beiden anderen Bäcker in der Straße. Die drei Bäcker haben sehr ähnliche Angebote und Kunden. Jeder der drei macht sein Ding. Der Markt ist gesättigt. Die Verhältnisse sind stabil.

Nun ändert sich die Lage. Einer der drei erlangt einen gewissen Vorteil. Dabei ist es gleichgültig, ob durch äußere Umstände oder individuelle Tüchtigkeit. Vielleicht gibt es günstigere Einkaufsbedingungen, weil die Tochter mit dem Sohn des Müllers zusammenkam. Vielleicht ergibt sich ein Vorteil, weil der Parkplatz nebenan erweitert wurde, weil die Straßenbahnhaltestelle verlegt wurde, weil in der Nachbarschaft ein neuer Laden auch Laufkundschaft zieht, weil es in seinem Laden besser riecht, das Personal attraktivere Kleidung trägt – was auch immer. Es ist vielleicht nur eine Kleinigkeit. In der Tendenz wird sie dazu führen, dass dieser Bäcker bessere Geschäfte macht. Den damit entstehenden finanziellen Spielraum wird er nutzen, seinen kleinen Vorteil zu einem größeren Vorteil auszubauen.

Wenn die anderen beiden Bäcker dieser Entwicklung tatenlos zuschauen, wird sich ihr Anteil am Backwarenmarkt in der Straße verringern, die Geschäfte werden schlechter gehen und über kurz oder lang wird die Entwicklung die wirtschaftliche Existenz der beiden bedrohen. Sie werden also etwas unternehmen, um das zu vermeiden. Vielleicht werden sie am Personal sparen oder die Maßnahmen des Vorreiters nachahmen. Vielleicht werden sie sich im angebotenen Sortiment von den anderen unterscheiden wollen. Dabei spielen Details ihrer Persönlichkeit nur insofern eine Rolle, als sie die Dinge leichter oder schwieriger machen. Die grundsätzliche Notwendigkeit des unternehmerischen Handelns ergibt sich für die Bäcker aber nicht aus individueller Gier oder anderen Eigenschaften.

Bäcker erzeugen gewöhnlich keine internationalen Finanzkrisen. Dafür muß der Einfluß der Akteure auf die Wirtschaft schon größer sein. Banken haben da ganz andere Möglichkeiten. Da es den Banken aber, was das Konzept der Konkurrenz angeht, nicht anders als den Bäckern geht, werden sie auch entsprechend handeln. Auch hier ist Gier – etwa die eines Mitarbeiters im Investmentbereich – nicht der Grund unternehmerischen Handelns und damit auch nicht dafür, dass eine Krise entsteht. Für die Funktion dieses wirtschaftlichen Modells ist Gier nicht erforderlich.

Eine Finanzkrise ist also kein Managementfehler, sondern ein strukturelles Problem.

Quellen:
[1] Abraham Maslow: A Theory of Human Motivation. In Psychological Review, 1943, Vol. 50 #4
[2] Bundeszentrale für politische Bildung, hier: http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/lexikon-der-wirtschaft/18801/bedue..., 26.11.2015
[3] "Wirtschaft für Einsteiger", bpb, ISBN 978–3–8389–7052–3