BERLIN. (hpd) "Die ältesten Lebewesen der Erde" zu fotografieren, das war das über zehnjährige Kunst- und Wissenschaftsprojekt der Rachel Sussman. Es führte sie auf alle Kontinente, ja sogar nach Grönland und auf die Inseln vor der Küste der Antarktis. Daraus ist jetzt ein Buch entstanden, das geradezu ehrfürchtig stimmen kann. Eine Hymne auf das Leben, das je älter desto unauffälliger daherkommt und unglaublich zäh ist.
2.000 Jahre waren das Mindestalter, um in Rachel Sussmans Liste aufgenommen zu werden. Natürlich schaffen das die Mammutbäume Kaliforniens mühelos. Sogar auf 3.000 Jahre werden einzelne Exemplare einer Petersilienart in der Atacama-Wüste Chiles, eines Doldenblütlers, geschätzt, dessen dichtes Gezweig zu Gebilden gleich einer Kreuzung aus gigantischen buckligen Moospolstern und Korallenhügeln heranwächst.
Auf 80.000 Jahre bringt es eine Zitterpappelkolonie in Utah und wirft nun auch die Frage auf, was ein einzelnes Lebewesen eigentlich ist. Was ein und denselben Gen-Satz besitzt und einzig aus Zellteilung hervorgegangen ist, lautet die gültige Definition. Die Zitterpappelstämme haben sich allein durch Triebe über eine mehrere Hektar große Fläche ausgebreitet. Ja, über ihr Wurzelwerk mit weiter unterhaltenen Verbindungen leiten sie sogar in Dürrezeiten Nährstoffe von ergiebigen Flächen zu anderen Stämmen weiter, die selbst an ungünstigerem Standort stehen. Ihnen droht heute die Zerstückelung durch Straßenbau.
Eine gewöhnliche Fichte, 9.950 Jahre alt, erweist sich als verblüffend deutlicher Indikator des Klimawandels. Über Jahrtausende setzte sie in Dalarna, in Schweden, nur fast horizontale Äste dicht über dem Geröllboden an. Erst seit 50 Jahren entwickelte sie einen dürren, etwa fünf Meter hohen Stamm.
Pflanzen können aber auch wandern. Allein über die Ausbreitung per Wurzelwerk gelangten Vorfahren der 6.000 bis 12.000 Jahre alten Scheinbuchen mit ihrem gewundenen Astwerk von der einst warmen Antarktis bis ins tropische Queensland in Australien, erfährt man von der Autorin. Die uns auch erzählt, wie es ist, in einem Schlauchboot vor der Antarktisküste von Buckelwalen umkreist zu werden. Oder – als mäßige Taucherin – die 2.600 bis 3.000 Jahre alten Korallen vor Tobago zu sehen, die ihr wie ein "zerbeulter Mond oder ein abgestürzter Komet" erscheinen.
12.000 Jahre ist eine Mojave-Yucca-Kolonie alt, deren Stämme einen magischen Kreis bilden, mitten in der Wüste, als träfen sie sich zu einem schweigsamen Ritual, zu dem sie mit struppigen Perücken die Köpfe zusammensteckten.
Rachel Sussmanns Lichtbilder von 30 Spezies stimmen sehr nachdenklich.
Eine halbe Million Jahre alt – zum Vergleich führt Sussmann an, dass vor 100.000 Jahren die Neanderthaler in Japan die ersten Hütten bauten - ist eine rost- bis rubinrote Bakterien-Kolonie, die sie im Niels-Bohr-Institut in Kopenhagen aufnahm. Sie stammt aus dem Permafrostboden Sibiriens, wo sie selbst noch bei eisigen Temperaturen ihre Stoffwechselprozesse einschließlich Zellteilung aufrecht erhielt.
Zellkern- und zellwandlose tonige Stromatolithen fotografierte Rachel Sussman in Westaustralien am Strand. Die von ihr konterfeiten kissenartigen ockerfarbenen kniehohen Exemplare, die ausgedehnte Flächen bedecken, sind 2.000 bis 3.000 Jahre alt. Seit 3,5 Milliarden Jahren sorgten solche Lebewesen dafür, dass die Atmosphäre sich mit Sauerstoff anreicherte, so dass sich vor 575 Millionen Jahren erst mehrzellige Tiere, später Raubtiere und dann schließlich vor 500 Millionen Jahren erste mehrzellige Pflanzen auf ihr bilden konnten.
Die ältesten Tiere auf unserem Planeten sollen Schwämme vor der Küste der Antarktis sein. Rachel Sussman konnte sie bis jetzt noch nicht fotografieren, auch gesehen hat sie bis jetzt noch niemand. Sie wurden bislang erst von einem kleinen unbemannten Unterseeboot registriert.
Rachel Sussman, Die ältesten Lebewesen der Erde, Quadriga Verlag Berlin 2016, 284 S., 49,00 Euro
Aufgrund von Leserhinweisen am 01.03.2016 korrigiert.
4 Kommentare
Kommentare
Hans Trutnau am Permanenter Link
Rachel Sussmans Bildband scheint betörend schön. Stromatolithen sind jedoch keine Lebewesen, sondern biogene SedimentGESTEINE, die von darauf lebenden Bakterienmatten gebildet werden.
Simone Guski am Permanenter Link
Paul D. Taylor und Aaron O´dea vom Museum of Natural History in London und von der Washingtoner Smithonian Institution schreiben zu den Stromatolithen in „Die Geschichte des Lebens in 100 Fossilien“ wie folgt:
Sie waren eine der ersten Lebensformen auf der Erde und es gibt sie auch heute noch. Der älteste Stromatolith wird auf unglaubliche 3,5 Milliarden Jahre datiert, möglicherweise sind sie sogar noch älter. Drei Milliarden Jahre lang dominierten sie im Flachwasser der Weltmeere, reproduzierten sich asexuell über Zellteilung, bildeten dichte Sedimentschichten und schufen sich ein wahres Nirwana. Scheinbar durch nichts aufzuhalten, stellten sie um zu wachsen, aus Wasser Kohlendioxid und Sonnenlicht Zucker her und produzierten dabei Sauerstoff. Anfangs verband sich dieser Sauerstoff mit dem in den Weltmeeren gelösten Eisen und formte auf dem Meeresboden feste Schichten. Diese Bänder stellen den größten Teil der weltweit vorhandenen Eisenerze dar. Erst als das im Meer gelöste Eisen ganz verbunden war, konnte sich der Gehalt an freiem Sauerstoff in der Atmosphäre aufbauen, was zur großen „Sauerstoffkatastrophe“ führte.
Die große Sauerstoffkatastrophe war der Durchbruch für die Entwicklung komplexer, sauerstoffatmender und sich sexuell fortpflanzender Lebensformen...“
Hans Trutnau am Permanenter Link
Nun, auch Taylor und O'Dea scheinen mir fallibel zu sein, speziell in dem ersten zitierten Satz. Stromatolithen mögen 3,5 Milliarden Jahre alt sein; aber die sind fossil. Tot.
Simone Guski am Permanenter Link
Hier dazu noch ein paar Sätze aus dem ebenfalls sehr anregenden Text des Buches:
Die Aufnahmen der Autoren stammen aus dem besagten Naturschutzgebiet von Santa Cabla Station.