Richard Dawkins in Heidelberg

Flights of Fancy – intellektuelle Höhenflüge

dawkins_2_854.jpg

Richard Dawkins im Interview mit Daniela Wakonigg beim "Geist Heidelberg" International Science Festival.

Richard Dawkins, der Grandseigneur der Evolutionsbiologie, war zu Gast in Heidelberg. Im Rahmen des "Geist Heidelberg" International Science Festival begab er sich, im Interview sensibel geführt und begleitet von Daniela Wakonigg, auf einen intellektuellen Höhenflug, bei dem nicht nur die Evolution und ihre Errungenschaften, sondern – wie könnte es anders sein – auch Religionen und sogar aktuelle politische Themen inklusive des Klimawandels zur Sprache kamen.

Der Mittelpunkt, um den das Gespräch in der bis auf den letzten Platz besetzten Aula der Neuen Universität in Heidelberg kreist, ist Dawkins' neues Buch "Flights of Fancy", das vor ziemlich genau einem Jahr erschienen ist. In englischer Sprache natürlich, und erstaunlicherweise hat sich bisher auch noch kein deutscher Verlag gefunden, der eine Übersetzung in Aussicht stellen würde. Daher wird man es bis auf Weiteres auf Englisch lesen müssen. Dies sei ausdrücklich empfohlen, denn die rund 280 Seiten versprechen kurzweilig zu sein.

Das Buch sei ein "Crashkurs zu Evolution und Technologie", schmunzelt Dawkins, und trotz der vielen Illustrationen, die von der ebenfalls anwesenden Jana Lenzová gestaltet wurden, wende es sich nicht in erster Linie an Kinder. Dies natürlich auch, aber es sei eben durchaus auch an junge Erwachsene gerichtet. Beziehungsweise überhaupt eigentlich an jedermann – egal welcher Altersstufe.

Es geht ums Fliegen und um die vielfältigen Techniken wie Insekten, Flugsaurier, Vögel und schließlich auch Menschen dies bewerkstelligen und, zumindest zeitweise, der Gravitation trotzen. Dawkins kommt ins Schwärmen, wenn er von den faszinierenden und unterschiedlichen Mechanismen erzählt, die die verschiedenen Organismen, trotz der ja für alle gleichen physikalischen Rahmenbedingungen, entwickelt haben. Vom Gleitflug, der uns von den großen Greifvögeln vertraut ist, von Flugtechniken, die auf Muskelkraft beruhen, von der Schwerelosigkeit, die ein Floh während des Sprungs auf seiner Parabelbahn erfährt. Im Tierreich kommen die verschiedensten Prinzipien, wie Auftrieb an Profilen, aber auch die Vergrößerung der Körperoberfläche im Verhältnis zum Volumen, ins Spiel. Bemerkenswert sei, dass das Prinzip "leichter als Luft" ausschließlich vom Menschen realisiert wurde, in Form von Ballons und Zeppelinen, in der Tierwelt aber so nicht vorkomme.

Natürlich setzt sich Dawkins in dem Buch auch mit der Evolution der Flugfähigkeit auseinander. Lautet doch die allzu häufige Frage von Schöpfungsgläubigen immer wieder: "Was ist der Nutzen eines halben Flügels?" Da kommen also die vielen nützlichen Zwischenformen, die als Fossilien in den verschiedensten Tiergruppen zu finden sind, zur Sprache. Bereits sehr frühe Säugetiere hatten weite Hautfalten zwischen ihren Vorder- und Hinterbeinen, wie sie in ähnlicher Form auch bei einigen modernen Gleit- und Eichhörnchen-Arten vorkommen, die ihnen einen kontrollierten Gleitflug von Baum zu Baum ermöglichten. Auch bei fossilen Echsen wurden solche Hautfalten nachgewiesen. Einige Froscharten nutzten und nutzen Flugmembranen zwischen ihren Fingern, um beim Sprung länger in der Luft bleiben zu können, und auch bei Schlangen sind Formen mit abgeflachtem Körper beschrieben, die durch bestimmte Rumpfbewegungen zu einer Art kontrolliertem Gleitflug in der Lage sind.

Und nicht nur Tiere haben sich das Fliegen zunutze gemacht – auch Pflanzen nutzen es. Wir alle kennen die kleinen "Schirmchen", mit denen der Löwenzahn seine Samen auf die Reise schickt. Aber man denke auch an die raffinierte Ausnutzung der flugfähigen Insekten und anderer Tiere durch Pflanzen, die ihre Verbreitungseinheiten mit diesen huckepack durch die Luft transportieren lassen.

Wie allerdings der riesige Pterosaurier Quetzalcoatlus es geschafft hat, sich in die Lüfte zu schwingen, erklärt auch Richard Dawkins an diesem Abend in Heidelberg nicht. Das sei nämlich physikalisch noch ungeklärt, aber davon, dass diese riesigen Tiere tatsächlich geflogen seien, könne man ausgehen. Im Gegensatz zu Engeln übrigens, die in sakralen Darstellungen ja üblicherweise menschenähnlich mit großen Flügeln dargestellt werden. Hier sei jedenfalls klar, dass sie sich mit diesen auf keinen Fall in die Lüfte schwingen könnten. Dazu seien die Flügel nämlich viel zu klein, wie auch Leonardo da Vinci bereits bemerkt haben soll. Um mit Engelsschwingen das Gewicht eines Menschen in die Höhe zu heben, müssten diese sehr viel größer sein, und es bedürfe riesiger Brustmuskeln und eines extrem weit nach vorn ragenden Brustbeins, an dem diese ansetzen könnten – also ganz anders und weit weniger ästhetisch, als Engel üblicherweise dargestellt werden.

Unversehens ein eigenes Buch

Wie er überhaupt darauf gekommen sei, dieses Buch zu schreiben, fragt die Moderatorin. Es sollte, so Dawkins, eigentlich eine Fortsetzung des Buches "The Magic of Reality" werden (Titel der deutschen Ausgabe: "Der Zauber der Wirklichkeit"). In diesem wunderschön illustrierten Buch geht Dawkins zwölf grundlegenden Fragen nach (zum Beispiel: Warum gibt es so viele Tierarten? Warum gibt es Tag und Nacht? Was ist ein Regenbogen?) und beantwortet diese, indem er zunächst alte, in der Mythologie vieler Völker verankerte Erklärungsversuche vorstellt und anschließend die tatsächliche, wissenschaftliche Erklärung liefert. Das Buch sei sehr erfolgreich, so Dawkins, er habe viele positive Rückmeldungen erhalten, und so habe er eigentlich vorgehabt, in seinem neuen Buch weitere zehn Fragen anzugehen. Die erste davon sollte das Fliegen betreffen – und dann habe es sich eben ergeben, da das ein so vielfältiges Thema sei, dass es unversehens zu einem eigenen Buch geworden sei. Denn man könne am Beispiel des Fliegens eine Vielzahl interessanter Themen ganz wunderbar und auch für junge Menschen spannend beschreiben.

Nun sei es ja leider so, meint Daniela Wakonigg, dass Schüler und Schülerinnen oft keine Wissenschaft mögen. Wie man es also schaffen könne, jungen Menschen dennoch die Wissenschaft nahezubringen. Das kontert Dawkins lachend: Es sei für ihn absolut jenseits jeder Vorstellung, dass irgendjemand Wissenschaft langweilig finden könnte. Aber er wird dann rasch ernst: Oft würde ja gefordert, man müsse die Wissenschaft "auf den Boden bringen" ("down to earth"), um sie gefälliger zu machen, das lehne er allerdings ab: Man müsse vielmehr das Interesse der Menschen anregen, sie für die Ergebnisse der Wissenschaft begeistern – und ihnen damit geeignete Brücken bauen, mit denen man Wissenschaft interessanter mache. Dawkins vergleicht das mit der Liebe zur Musik: Man müsse ja auch kein praktizierender Musiker sein, kein Instrument beherrschen, um sich für Musik zu begeistern. Und genau so verhält es sich seiner Meinung nach auch mit der Wissenschaft.

Explizit lobt er die zahlreichen Initiativen in Deutschland, die zum Ziel haben, wissenschaftliche Erkenntnisse bereits für die ganz Kleinen und vor allem für Schüler interessant zu machen, zum Beispiel "Evokids" und die von der Richard Dawkins Foundation (RDF) Deutschland geförderten Materialien der "Evo-Spiele-Kiste". In den USA gebe es inzwischen sogar Initiativen, Lehrer in der Vermittlung evolutionärer Fakten zu schulen, was angesichts von "50 percent religious maniacs" in der Elternschaft bei den entsprechend vorgeprägten Kindern ausgesprochen hilfreich sei.

Richard Dawkins verliebt sich wieder und wieder neu in die Wissenschaft, denn: "It's wonderful!" – sie ist einfach wundervoll, und wie könnte man sich nicht in etwas verlieben, das uns herauszufinden erlaubt, warum wir existieren?

Hier spreche er ein wichtiges Problem an, so Wakonigg, das in aller Welt und natürlich auch in Deutschland zu beklagen sei: Kinder kommen mit mystischen Erklärungen natürlicher Phänomene viel früher in Berührung als mit den wissenschaftlichen. Genau um dem abzuhelfen, so Dawkins, sei sein Buch "Der Zauber der Wirklichkeit" hervorragend geeignet: Dort werden sehr verschiedene Mythen aus verschiedensten Kulturen vorgestellt, und daher würden die jungen Leser dort höchstwahrscheinlich auch einem Mythos aus der eigenen Kindheit begegnen. Und erkennen, dass der Unsinn sei. Und dadurch auch erkennen, dass all die anderen mystischen Erklärungen sicher ebenso unzutreffend seien. Denn die wissenschaftliche Erklärung sei so viel klarer und letztlich auch viel poetischer als mythologische Erklärungen – das könnten auch junge Menschen bereits erkennen.

Welchen Effekt es auf Dawkins eigene Religiosität gehabt habe, als die Wissenschaft erstmals in sein Leben trat, fragt die Moderatorin. Zunächst, so Dawkins, sei er von der offensichtlichen Komplexität der Welt schlicht überwältigt gewesen, und natürlich habe es auch bei ihm in sehr jungen Jahren eine Tendenz gegeben, dahinter eine "gestaltende, dies alles kontrollierende Kraft" zu vermuten. Aber als er dann mit 15 oder 16 Jahren erstmals Darwins Evolutionstheorie begegnete, sei auch noch der letzte Zweifel dahin geschmolzen.

Zurück in die Gegenwart: Nach dem erfolgreichen Aufbruch in die Aufklärung im 20. und 21. Jahrhundert, der unser Weltbild so sehr erweitert hat, sei aktuell, so Daniela Wakonigg, neben den bekannten fundamental-christlichen Widerständen auch in der westlichen Welt ein gewisser "Rückschlag" für das wissenschaftliche Weltbild durch eher fundamentale islamische Einflüsse zu beklagen. Dawkins bestätigt dies. Auch gebe es leider "antievolutionäre" Bücher in sehr vielen Sprachen, die teils sehr schön und kindgerecht illustriert, inhaltlich allerdings unglaublich schlecht seien. Unter anderem würden zum Beispiel Tiergruppen miteinander verglichen, die in Wirklichkeit überhaupt nichts miteinander zu tun hätten. Aus unserem wissenschaftlichen Blickwinkel heraus, so Dawkins, lachten wir über diese Bücher, aber sie hätten ganz sicher einen unguten Einfluss. Um hier ein Gegengewicht zu schaffen, seien seine Bücher alle auf Arabisch, Urdu, Farsi und Indonesisch übersetzt worden, und stünden in diesen Sprachen als PDFs weltweit zum kostenlosen Download bereit. Und sie würden auch tatsächlich in sehr hoher Zahl heruntergeladen. Ein ermutigendes Zeichen!

Im Bemühen um Wertschätzung die Bedeutung von tradiertem "Wissen" nicht überbewerten

Die aktuell geforderte Einbindung traditionellen, "indigenen Wissens" in das allgemeine Weltbild sieht Dawkins sehr kritisch. Selbstverständlich müssten diese Kulturen als solche respektiert werden, aber man dürfe im Bemühen um Wertschätzung die Bedeutung von tradiertem "Wissen" nicht überbewerten: Das seien tatsächlich Mythen, und sie hätten mit der wirklichen Welt einfach nichts zu tun. Das durch die Wissenschaft geformte Bild der Welt sei sicher nicht vollständig, könne es auch niemals werden, aber: "Science works!" Wissenschaft funktioniere eben – habe uns zum Mond gebracht und die Pocken ausgerottet, um nur diese beiden Beispiele zu nennen. Und das gelte, obwohl es sich in der Wahrnehmung vieler indigener Interessensgruppen bei Wissenschaft um "patriarchale Konzepte weißer Männer" handele. Leider würden einige Wissenschaftler*innen in den USA und Europa, die entsprechende, sehr respektvoll formulierte Protestnoten an ihre Hochschulleitungen verfasst haben, derzeit aus verschiedenen Richtungen erbitterten Widerstand erfahren, ihre Vorträge würden gecancelt, und manche ihrer Studierenden fühlten sich bedroht, wenn sie Veranstaltungen der Unterzeichner*innen besuchen. Das sei sehr bedauerlich. Dennoch bliebe uns nichts anderes übrig, als eben weiter Forschung zu betreiben und die Ergebnisse immer und immer wieder zu erklären.

Schließlich stellt Daniela Wakonigg die "Gretchenfrage" unserer Zeit: Wir Menschen seien bekanntlich die einzige Spezies, die in der Lage ist, die Konsequenzen ihres Handelns abzuschätzen. Dennoch würden wir nicht entsprechend handeln. Werden wir es schaffen – werden wir überleben?

Nun, wir seien eine erstaunliche Art, so Dawkins. Wir wüssten um so vieles. Aber Menschen davon zu überzeugen, dass sie die notwendigen Dinge tun, würde erfordern, dass sie die fernere Zukunft höher bewerten als die unmittelbare oder das Jetzt. Und das sei schwierig. Etwa wie wenn man Kinder frage: Möchtest du lieber ein Marshmallow heute, oder zwei Marshmallows morgen? Kinder könnten das nicht, und wir Erwachsenen offenbar auch nicht. Es sei offensichtlich eine Frage der Reife, aber definitiv ein Problem, das die Menschheit lösen müsse, um die Erde lebensfreundlich zu halten. Wir dürften jedenfalls die Hoffnung nicht verlieren, dass wir das schaffen werden. "Let's just hope!"

Auch ein weiteres Buch von Dawkins kommt zur Sprache: "The Genetic Book of the Dead", das im kommenden Jahr erscheinen wird. Hier verfolgt Dawkins die Idee, dass in den Genen all die Herausforderungen "abgespeichert" sind, die die Vorfahren des jeweiligen Organismus gemeistert haben. Illustriert wird dieses Konzept am Beispiel der im Tierreich teils in überwältigender Weise perfektionierten Tarnung. Nicht nur die Formen tierischer Körper seien oft optimal an ihre Umgebung angepasst, wie zum Beispiel bei der Stabheuschrecke, auch Körperoberflächen spiegelten häufig in größter Perfektion die Umgebung wider, um für Fressfeinde unsichtbar zu sein. Es sei zu kurz gedacht, dass sich diese Perfektion auf die Äußerlichkeiten oder die Körperoberfläche beschränke, sondern es sei vielmehr anzunehmen, dass jede einzelne Zelle eines derart evolvierten Individuums perfekt an die Erfordernisse angepasst sei. Da gebe es für zukünftige Zoologen noch viel zu entdecken, und er hoffe, dass man sich diesen Aspekten in Zukunft tatsächlich widmen möge.

Eines ist jedenfalls klar: Richard Dawkins verliebt sich wieder und wieder neu in die Wissenschaft, denn: "It's wonderful!" – sie ist einfach wundervoll, und wie könnte man sich nicht in etwas verlieben, das uns herauszufinden erlaubt, warum wir existieren?

Sollte sich jemand für diese letzte Frage interessieren, könnte er in dem neuen Podcast von Richard Dawkins Antworten finden: "The Poetry of Reality" – da gibt es, neben vielen anderen interessanten Themen, eine Folge speziell hierzu ("Why Are We Here? Exploring The Mystery Of Existence").

Unterstützen Sie uns bei Steady!