Premiere von „Terror“ in den Mainzer Kammerspielen

An den Grenzen der Justiz

MAINZ. (hpd) Ferdinand von Schirachs Erfolgsstück "Terror" feierte in der Inszenierung der Theatergruppe teatro libre in den Mainzer Kammerspielen am vergangenen Freitag seine Premiere.

Er zögerte lange, doch er tat es trotzdem. Kampfpilot Lars Koch schickte 164 Menschen in den Tod, um die Leben Zehntausender zu retten. Ein Terrorist hatte während eines Fußballländerspiels einen Airbus gekapert, sein Ziel war die ausverkaufte Allianz-Arena in München. Die Zeit drängte. Der Verteidigungsminister entschied sich gegen ein Eingreifen. Doch Koch wägte ab und feuerte schließlich eine Rakete auf die Passagiermaschine. Ein Entschluss, der ihn vor Gericht bringen sollte.

In dieser Situation setzt das Theaterstück "Terror" von Bestsellerautor Ferdinand von Schirach ein. Der Luftwaffen-Major Koch muss sich nach Monaten in Untersuchungshaft für sein Handeln vor der Justiz verantworten. Die Staatsanwaltschaft klagt ihn des 164-fachen Mordes an, die Verteidigung plädiert auf Freispruch. Als Nebenklägerin tritt die Witwe eines der Passagiere auf. Der Clou an von Schirachs Stück:

Das Theaterpublikum wird zu Laienrichter ernannt. Es muss am Ende über die Schuld des Angeklagten abstimmen.

Seit seiner doppelten Uraufführung in Berlin und Frankfurt im vergangenen Oktober wurde "Terror" bereits an 15 Spielstätten gezeigt, 18 weitere werden noch folgen. Ein Hit der aktuellen wie auch kommenden Theatersaison. Die Inszenierung der Gruppe teatro libre, die am vergangenen Freitag in den Mainzer Kammerspielen Ihre Premiere feierte, stellt eine der ersten Aufführungen durch eine freie Bühne dar.

Der Vorsitzende der Verhandlung, arrogant-charmant verkörpert von Detlev Nyga, klärt gleich zu Beginn auf: Wir, die Laienrichter, sollten uns die Entscheidung nicht leicht machen. Nicht weniger als das Schicksal eines Menschen liege in unserer Hand.
Der routinierte, etwas zerstreute Verteidiger Biegler (Michael Klemm) sieht seinen Mandanten zu Unrecht beschuldigt. Er habe eine Entscheidung getroffen, die dem Wohl der Mehrheit gedient habe, manche Dilemmata seien durch das Gesetz nicht abgedeckt.

Mit erhabener Strenge vertritt Staatsanwältin Nelson (Ricarda Klingelhöfer) die Gegenposition: Das Prinzip der Menschenwürde müsse stets gelten. Die Objektivierung von Leben sei zu keiner Zeit hinnehmbar. Dies sei ein Grundprinzip deutschen Rechts.

Im Zeugenstand hören wir zunächst Oberstleutnant Lauterbach (Torsten Knoll). Er klärt über die Vorgänge jenes verhängnisvollen Abends auf und lässt seine Sympathie für den Kameraden, der keinen anderen Ausweg sah, durchaus durchblicken. Koch selbst, mit überzeugender Anspannung gespielt von Martin Geisen, schildert die innere Zerrissenheit, die er gespürt habe. Er habe nicht töten wollen, jedoch größeres Leid durch den zur Waffe gewordenen Airbus verhindern müssen. Nebenklägerin Franziska Meiser (Saskia Huppert) sieht den Major als Mörder ihres Gatten an, macht die Wut auf ihn spürbar. Und sie wirft Fragen auf, die ungeklärt bleiben werden: Hätten es die Passagiere noch in das verschlossene Cockpit geschafft, wie ihr Mann in einer letzten SMS andeutete? Oder hätte das Stadion nicht rechtzeitig evakuiert werden können?

Alle Darsteller gingen voll in ihren Rollen auf, das 'hohe Gericht' im Zuschauerraum folgte angeregt. Für Erheiterung sorgten kleine Sticheleien zwischen Verteidiger und Vorsitzendem. Angesichts des ernsten Geschehens war man dankbar für ein wenig Auflockerung. Denn bereits vor der Pause begannen erste Diskussionen zwischen Sitznachbarn.

Vier Tische, sechs Stühle, Aktenordner und Gesetzestexte bildeten das nüchterne Bühnenbild der Gerichtsverhandlung, das Setting für ein konzentriertes Kammerspiel. Regisseur Gerrit Meier behält die Schlichtheit der Vorlage in seiner Inszenierung gekonnt bei, verdichtet so die juristische und philosophische Auseinandersetzung.

Eine gläserne Urne wurde nach den Schlussplädoyers der Anwälte im Saal herumgereicht, die Stimmzettel mussten offen eingeworfen werden. Ein Vorgehen, das Meier ganz bewusst gewählt habe, wie er gegenüber dem hpd erklärte. So müsse jeder zu seinem Beschluss stehen, die Debatte innerhalb des Publikum lasse sich dadurch weiter anheizen.

An diesem Premierenabend votierten 111 Zuschauer für einen Freispruch, 83 befanden den Piloten für schuldig im Sinne der Anklage. Fast wäre es während der Urteilsverkündung zu einem Eklat gekommen, als ein junger Mann im Publikum laut "Heil Hitler!" rief. Buhrufe und aufgebrachte Reaktionen machten sich in den Rängen breit. Die Darsteller ließen sich nicht beirren, riefen zur Ruhe auf und fielen zu keiner Zeit aus ihren Rollen.

Regisseur Meier, der auch im Leitungsteam der Kammerspiele tätig ist, sah den Vorfall gelassen. Der Zwischenrufer habe nach der Vorstellung das Gespräch mit ihm gesucht, um sich zu rechtfertigen. Er habe den Freispruch als "unmenschlich" und "ersten Schritt in Richtung einer Militärdiktatur" empfunden. Seinem Unmut habe er Luft machen wollen.

Ein Stück, das nachwirkt. Zwischen kleineren und größeren Zuschauergruppen brechen nach der Vorstellung hitzige Diskussionen aus. War Kochs Entscheidung gerechtfertigt? Und mehr noch: War sie moralisch oder unmoralisch, richtig oder falsch? Kann eine solche Situation angesichts ihrer Komplexität überhaupt mit 'herkömmlichen' moralischen Maßstäben gemessen werden?

Das Bundesverfassungsgericht beschäftigte sich mit dieser Frage bereits im Jahr 2006. Würde die Bundeswehr ohne weiteres eine von Terroristen gekaperte Passagiermaschine abschießen dürfen? Die Richter kamen zu dem Entschluss, dass ein solches Vorgehen verfassungswidrig sei, Menschenleben dürften nicht gegeneinander abgewogen werden. Die im Grundgesetz verankerte Menschenwürde verbiete dies. Allerdings merkten sie an, dass sie damit nicht über die Strafbarkeit eines derartigen Falles geurteilt hätten.

Der damalige Bundesverteidigungsminister Franz-Josef Jung (CDU) sah das Urteil kritisch. Er machte deutlich, dass er sich in einer solchen Situation auf den "übergesetzlichen Notstand" berufen und eingreifen würde. Ein rechtlich höchst umstrittenes Vorgehen, wie das Theaterstück thematisiert.

Ferdinand von Schirach, 1964 in München geboren, war bereits erfolgreicher Strafverteidiger, bevor er sich der Schriftstellerei zuwandte und mit seinen Erzählbänden "Verbrechen" und "Schuld" auf Anhieb große Erfolge feiern konnte. Seine Geschichten behandeln oftmals juristische Fragestelllungen, kreisen um die Themen Schuld, Sühne und Gerechtigkeit. Er kennt sich mit der Materie aus, gerade auch mit den manchmal widersprüchlichen Argumentationen innerhalb der Rechtsprechung. So verwundert es nicht, dass der Vorsitzende seines Bühnenstücks je nach Wahlausgang eine alternative Urteilsbegründung verliest. Beide wirken stimmig und können überzeugen. Dabei fußt der Freispruch auf utilitaristischen Überlegungen, der Schuldspruch ergibt sich aus deontologischen Prinzipien. Einmal mehr zeigt sich die Unvereinbarkeit beider Denkweisen, die auch in humanistischen Kreisen immer wieder diskutiert wird.

"Terror" präsentiert kluges Theater am Puls der Zeit. Einerseits durch das Thematisieren komplexer ethischer Fragestellungen, die angesichts der aktuellen Bedrohung durch islamistische Gewalt an nie dagewesener Aktualität gewonnen haben. Anderseits durch das Einbeziehen des Publikums bis hinein ins Web. Denn die Wahlergebnisse einer jeden Vorstellung des Stücks werden online zur Verfügung gestellt. Somit bieten sich vielfältige Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit von Schirachs Werk. Lässt sich durch die Urteile ein gesellschaftlicher Trend ablesen? Derzeit liegt die Gesamtrate an Freisprüche mit knapp 60 Prozent vorne. Zwar handelt es sich nicht um eine repräsentative Umfrage, dennoch könnten die Ergebnisse den Anstoß für einen größeren Diskurs geben: Werden sich die Ergebnisse zukünftiger Aufführungen möglicherweise von den heutigen abheben? Könnte die Art der Inszenierung den Urteilsspruch beeinflussen?

Die weitere Entwicklung des Stoffes bleibt mit Spannung abzuwarten. Die Auseinandersetzung zwischen Utilitaristen und Deontologen wird freilich niemals enden und stets Menschen in Lager spalten. Ferdinand von Schirach gibt ihr in seinem Stück wertvolle Impulse.

Weitere Termine der Inszenierung:

"Terror" - Mainzer Kammerspiele