Ökonomische Plaudereien

Inflation, hausgemacht.

BERLIN. (hpd) Der Urgroßvater konnte Kaufkraft und Inflation noch über den Daumen peilen: Wieviele Schuhe bekomme ich heute für meinen Wochenlohn? Wie war das vor ein paar Jahren? Setzt man dazu die Zahlen, die den Wochenlohn jeweils ausdrücken, so hat man recht schnell einen Eindruck von der Sache. Wem das zu retro oder zu provinziell ist, der kann auch den Big-Mac-Index1 bemühen. Der ist global und cool, aber inhaltlich kaum besser. Und in Wirklichkeit ist das alles ohnehin viel komplizierter. Oder nicht?

Inflation meint im wirtschaftlichen Kontext gewöhnlich den Kaufkraftverlust einer Währung. Es geht also in der Tat darum, wieviel Brot man für 100 DM, Euro usw. bekommt und wie sich das über die Zeit ändert. Fragt man nach der Methode, mit der das Maß der Inflation zu bestimmen ist und nach dem Maß selbst, so bekommt man recht unterschiedliche Antworten. Fragt man jene, für die Inflation von Nachteil ist, so wird man auf ganz andere Antworten treffen als bei jenen, die Vorteil aus der Inflation ziehen.

Wer Schulden hat, mag eine Inflation für begrüßenswert halten. Wenn der Umfang der Schulden, ausgedrückt in Brot oder Schuhen, abnimmt, so wird der Schuldner dagegen kaum etwas einwenden wollen. Zwar ändert sich durch die Inflation nicht der nominelle Umfang der Schulden, aber es ändert sich der Wert, den die Zahl repräsentiert.

Hat man hingegen ein Guthaben auf einem Bankkonto oder eine Handvoll Banknoten unter dem Kopfkissen, so nagt die Inflation beständig daran. Was man für das Geld bekommt, wird ständig weniger. Die meisten Leute verlieren also auf diese Weise ständig etwas. Wohlgemerkt: Es geht hier um Bankkonten und Bargeld, sofern es nicht selbst einen Wert darstellt. Geprägtes Gold etwa ist davon so nicht betroffen, da es selbst werthaltig ist.

Bemerkte man die Hand eines Fremden in seinem Geldbeutel, würde man sich entschieden dagegen wehren. Inflation ist anders. Da nimmt nicht irgend jemand etwas weg. Da verschwindet etwas. Aber durch wen und wohin?

In einem Währungsgebiet steht eine gewisse Geldmenge einer Menge Waren gegenüber. Verändert sich das Verhältnis von Geldmenge und Warenmenge, so ändert sich die Kaufkraft der Währung. Es scheint, man müsse zunächst herausfinden, wieviele Waren es zu einem bestimmten Zeitpunkt gibt und wieviel Geld im selben Moment im Umlauf ist. Das ist ganz sicher nicht einfach, in den verschiedenen Ländern bzw. Währungsgebieten geht man an diese Aufgabe auch auf unterschiedliche Weise heran, aber es ist mit hinreichender Genauigkeit möglich und tägliche Praxis. Wenn “man”, also die Zentralbanken, recht genaue Vorstellungen darüber gewinnen kann, was an Geld und Waren zu bestimmten Zeitpunkten existiert, so liegt der Gedanke nahe, dass man auf die Inflationsrate Einfluß nehmen kann, indem man die Geldmenge steuert - z.B. über den Zinssatz, zu dem man Geld in Umlauf bringt.

Einer der 99 Prozent jener Menschen, die für ihr Geld arbeiten müssen und praktisch kaum andere Möglichkeiten haben, als es auf einem Konto oder in der Tasche zu halten, wird erwarten, dass eine Zentralbank bewirkt, dass das Verhältnis von Geld- und Warenmenge konstant ist, es also keine Inflation gibt. Man darf auch annehmen, dass das eine lösbare Aufgabe ist. Jedoch scheint nicht jeder diese Ansicht zu teilen, dass die Kaufkraft des Geldes konstant sein soll. Zuweilen wird dies auch damit bemäntelt, dass man 2 Prozent Inflation als "Stabilität" ausgibt.

Angenommen, man stünde irgendwo herum, mit 100 einzelnen Dollarnoten in der Hand, und fächele gerade die heiße Luft des Geschäftsklimas fort. Plötzlich kommt jemand und zündet zwei oder drei der Dollarnoten im Vorbeigehen an. Mit stoischer Gelassenheit wollen wir ihn nach dem Sinn des Treibens fragen und bekommen zur Antwort, der Zeitgenosse mit dem Feuerzeug handele zu unserem Besten und dadurch würde die Kaufkraft der Währung stabil gehalten. Die Person mit dem Feuerzeug wird in unseren Augen das Aufkeimen leisen Zweifels kaum übersehen können.

Die Europäische Zentralbank (EZB) ist die Zentralbank der 19 Mitgliedstaaten der Europäischen Union, die den Euro eingeführt haben. Unsere vorrangige Aufgabe ist es, Preisstabilität im Euroraum zu gewährleisten und so die Kaufkraft der gemeinsamen Währung zu erhalten. 2

Was darunter genau zu verstehen ist, schreibt die EZB auf ihrer website auch:

The primary objective of the ECB’s monetary policy is to maintain price stability. The ECB aims at inflation rates of below, but close to, 2% over the medium term. 3

Frei übersetzt, sind also bis 2 Prozent Geldentwertung das, was man bei der EZB Preisstabilität nennt. Man mag als gewöhnlicher Bürger bei "Preisstabilität" an 0 Prozent Inflationsrate denken. Vielleicht ist das bei der EZB nur eine gewisse Großzügigkeit im Umgang mit dem Geld anderer Leute. Vielleicht steckt auch anderes dahinter.

Wollte man die Sache mit den brennenden Dollarnoten nicht als originellen Gesprächseinstieg durchgehen lassen, so dürften auch Juristen einiges zum Thema vortragen können. So etwas macht man mit anderer Leute Eigentum eigentlich nicht. Die EZB jedoch strebt nach eigenem Bekunden danach, das Geld von jedermann im Euroraum um jährlich 2 Prozent zu entwerten. Kann man Inflation Enteignung nennen? Alan Greenspan, ehemaliger Chef der FED hat sie einmal so genannt.4 Aber da war er noch jung und auch noch nicht Fed-Chef.

Die Süddeutsche Zeitung erklärt, was das Problem ist: "die Messung der Inflation ist im Nachkommabereich ungenau. Denkbar wäre, dass die Statistiker für die Euro-Zone null Prozent Inflation ausweisen, die Preise in Wirklichkeit aber schon leicht sinken. Genau das möchte man vermeiden. Zur Nulllinie soll es einen Puffer geben, weil die EZB dauerhaft sinkende Preise für gefährlich hält." 5

Die Ärmsten. Sie trauen nach dieser Darstellung ihren eigenen Zahlen nicht. Und weil sie keine Ahnung haben, ob das stimmt, was sie da messen, bedienen sie sich zur Sicherheit und auf Verdacht mal bei den Leuten, die das Geld verwenden? "Im Nachkommabereich ungenau" bedeutet hier vermutlich, die Abweichung liegt zwischen null und einem Prozentpunkt. Bei einem Zielmaß von maximal 2 Prozent Inflationsrate ist eine Unsicherheit von einem Prozentpunkt die Hälfte.

Eine Tür, die 2 Meter hoch sein soll, hat dann am Ende vielleicht nur einen Meter. Es kann auch sein, dass es drei Meter sind. Gartentor, Haustür, Scheunentor - so genau kann man es nicht wissen. Das meint man bei der Süddeutschen hoffentlich nicht ernst.

Wenn die Rate der Kaufkraftveränderung tatsächlich um die Null schwanken würde, hätte es noch eine gewisse Glaubwürdigkeit. Aber davon, durch Deflation etwas "zurückzubekommen", war nicht die Rede. Nein, es ist nicht anzunehmen, dass die EZB von ihrem Geschäft keine Ahnung hat. Es ist wahrscheinlicher, dass sie dort genau, auch "im Nachkommabereich", wissen, was sie tun.

Wenn mancher nun geneigt sein könnte, im leichten Anflug einer Mißbilligung die Augenbrauen hochziehen zu wollen, sei auf Die Welt verwiesen, die erklärt, was noch unerfreulicher ist als systematisch um Teile seines Vermögens gebracht zu werden, nämlich das Gegenteil:

In einer sogenannten Deflationsspirale fallen Preise auf breiter Front, wobei sich Verbraucher in Erwartung sinkender Kosten mit Käufen zurückhalten, Löhne sinken und Investitionen stocken." 6

Die Preise fallen und die Leute geben kein Geld aus, weil sie hoffen, morgen könnte es noch billiger sein. Sicher, das leuchtet ein. Man macht eine Diät oder fährt nicht tanken, es könnte ja im nächsten Monat eine Winzigkeit günstiger sein. Die dringend notwendige Investition kommt erst nächstes Jahr, der Betrieb wird bis dahin eben stillgelegt. So wird´s sein: Lohnforderungen treiben die Inflation an und sinkende Preise dämpfen die Nachfrage. Freibier?

Es ist nicht besonders erstaunlich, dass die Dinge zuweilen verdreht dargestellt werden. Erstaunlich erscheint viel mehr, dass das vermutlich vielfach so geglaubt und die doch recht durchsichtige Argumentation nicht hinterfragt und entlarvt wird. Inflation trifft jene besonders, deren größte Vermögensteile in Geld vorliegen. Jene, deren Besitz sich mehrheitlich auf Unternehmensanteile, Immobilien, wertstabile Waren und dergleichen erstreckt, werden durch sie weniger berührt. Dadurch fördert die Inflation die leistungsunabhängige Polarisierung der Vermögen in der Gesellschaft.


  1. The Economist, http://www.economist.com/content/big-mac-index ↩︎
  2. EZB, http://www.ecb.europa.eu/home/html/index.en.html ↩︎
  3. EZB, https://www.ecb.europa.eu/mopo/html/index.en.html ↩︎
  4. Alan Greenspan, 1926, 1987-2006 Chef der US-Notenbank (Federal Reserve System), schrieb 1966 in einem Artikel “Gold and Economic Freedom”: „In the absence of the gold standard, there is no way to protect savings from confiscation through inflation. There is no safe store of value. If there were, the government would have to make its holding illegal, as was done in the case of gold. ↩︎
  5. Süddeutsche Zeitung, http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/ezb-warum-die-ezb-mehr-inflation-w... ↩︎
  6. Die Welt, http://www.welt.de/wirtschaft/article151312499/Der-verzweifelte-Kampf-ge... ↩︎