Kommentar

"Flüchtlinge fressen" – Eine geschmacklose Inszenierung?

BERLIN. (hpd) Das Künstlerkollektiv um das Zentrum für politische Schönheit sorgt mit ihrer neuen Aktion "Flüchtlinge fressen" erneut für Aufsehen. Das Innenministerium spricht von einer zynischen Inszenierung, "die auf dem Rücken der Schutzbedürftigen ausgetragen werden soll." Ein Kommentar.

Als Christoph Schlingensief im Rahmen der "Wiener Festwochen" seine Kunstaktion "Ausländer raus – Bitte liebt Österreich" inszenierte, war die Empörung groß. Mitten im touristischen Zentrum Wiens ließ er über die Abschiebung von Asylsuchenden abstimmen, die eine Woche lang in einem Container mit Livestream-Übertragung verharrten. 

Das interaktive Theater war eine Reaktion auf das Erstarken der rechtspopulistischen FPÖ unter Jörg Haider, die kurz zuvor als zweitstärkste Partei in den Nationalrat gewählt worden war. Schlingensief nahm die Parolen der fremdenfeindlichen Partei beim Wort und konfrontierte so die Österreichische Gesellschaft mit einem Spiegelbild ihrer eigenen politischen Realität. 

Was Schlingensief vor 16 Jahren gelang, gelingt heute dem Künstlerkollektiv um das Zentrum für politische Schönheit. Mit seiner jüngsten Kunstaktion "Flüchtlinge fressen" hält es der deutschen Asylpolitik den Spiegel vor – Empörung und Irritationen vorprogrammiert. 
Doch worum geht es überhaupt?

Die Aktion

Das Kernanliegen der neuen Aktion ist die Abschaffung des Paragraphen 63 Absatz 3 des Aufenthaltsgesetzes. Durch ihn wird Beförderungsunternehmen die Einreise von Geflüchteten ohne gültiges Visum ins Bundesgebiet untersagt. 

Durch die Abschaffung des Paragraphen möchte das Zentrum für politische Schönheit die Einreise von 100 Flüchtlingen mit einem Flugzeug namens "Joachim 1" von Izmir in der Türkei nach Deutschland ermöglichen und eine gesetzliche Grundlage für eine permanente Luftbrücke aus den Kriegs- und Krisengebieten in die Sicherheit schaffen. Am 28. Juni soll das Flugzeug schließlich in Berlin-Tegel landen. Bis dahin wird die deutsche Zivilgesellschaft darum gebeten, den Flug mit Spenden zu finanzieren und auf der Aktions-Website "zu entscheiden, wer fliegen darf und wer sterben muss."

Falls der Bundestag oder Bundespräsident Joachim Gauck gegen die Forderung des Zentrums stimmen, droht das Künstlerkollektiv mit drastischen Maßnahmen: Vor dem Maxim-Gorki-Theater in Berlin wurde eine Arena – ein "hyperreales Rom mitten im aufgeklärten Deutschland 2016" – aufgebaut, in der sich vier Tiger befinden. Für den Fall der Einreiseverweigerung werden Geflüchtete gesucht, die sich im Lichte der Öffentlichkeit von den Tigern fressen lassen. Eine erste Freiwillige wurde inzwischen auch schon vorgestellt: Die syrische Schauspielerin May Skaf hat sich bereit erklärt, in den Tod zu gehen, sollte die Politik nicht einlenken.

Kritik und Empörung

Das Zentrum für politische Schönheit hat also wieder schwere Geschütze aufgefahren. Und ähnlich wie bei den vergangen Aktionen ist auch diesmal eine Debatte um die Geschmacklosigkeit ihrer politischen Aktionskunst entbrannt. 

"Wer sich Kampagnen wie 'Flüchtlinge fressen' ausdenkt, der hat sich von der Verrohung der Flüchtlingspolitik anstecken lassen,​" schreibt Christian Jakob in der taz. Es gehe den Aktionskünstlern nicht um die Rechte von Flüchtlingen, sondern nur um ihr eigenes Ego. 

Auch die Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und ehemalige Berliner Ausländerbeauftragte Barbara John fand harte Worte im Deutschlandradio Kultur. Die Aktion sei "der reinste Klamauk".

Am Freitag äußerte sich sogar das Innenministerium. Die Aktion sei "eine geschmacklose Inszenierung, die auf dem Rücken der Schutzbedürftigen ausgetragen werden soll." 

Geschmacklose Fiktion gegen zynische Realität

Man könnte dem Innenministerium natürlich leicht entgegenhalten: Nicht die Aktion des Zentrums ist geschmacklos, sondern die zynische Realität der europäischen Abschottungspolitik, die tausende Menschen auf den gefährlichen Weg über das Mittelmeer zwingt. Doch der Vergleich hinkt. Denn das Zentrum für politische Schönheit greift – wie einst Schlingensief – ganz bewusst zur geschmacklosen Inszenierung als Mittel zum Zweck. Die Frage nach einer humanistischen Asylpolitik ist dagegen keine Frage des Geschmacks. Die europäische Abschottungspolitik ist nicht geschmacklos, sie ist tödlich. 

Das Zentrum für politische Schönheit wagt mit seinen Aktionen einen Spagat zwischen Fiktion und Realität, zwischen Utopie und Realpolitik. Politische Aktionskunst wird dadurch zum gesellschaftlichen Korrektiv, das mit einem allzu höflichen Einsatz für die Menschenrechte brechen will. Die gegenwärtigen Protagonisten der Menschenrechtsbewegung "sind von einer übertriebenen, beinahe unerträglichen Nettigkeit gekennzeichnet", meint Philipp Ruch, Kopf des Zentrums, in einem programmatischen Text. "Sie kämpfen nicht um Menschenrechte. Sie schlummern für sie."

Diesem Schlummern für die Menschenrechte versucht das Zentrum für politische Schönheit eine aufrüttelnde Gegenrealität entgegenzuhalten, um Denk- und Handlungstabus aufzulösen. Die Kunst bietet den dafür notwendigen Freiraum, den es zu schützen gilt. Bei aller legitimen Kritik sollte dies nicht vergessen werden.


Das Video zur Aktion