Kommentar

Ich, der Leser, Teil des Problems

BERLIN. (hpd) Nizza, Würzburg, München, Ansbach – das gezielte Töten von Menschen ist auch ein Medienereignis. Unter die vielen schnellen Informationen mogeln sich auch gezielte Lügen. Journalisten und Medienkonsumenten sind Teil des Problems, aber auch Teil der Lösung, findet hpd-Gesellschaftskolumnist Carsten Pilger.

Was mir in den Tagen nach Nizza, München und nun im Nachgang zu Ansbach aufgefallen ist, ist die Häufung des Wortes "Wir" in Leitartikeln und Kommentaren. Wir müssen keine Angst haben, wir müssen Angst haben, wir sollen, wir dürfen nicht, usw. Dies resultiert oft, wenn nicht sogar immer, aus einer Vorsicht des Autors vor dem "Ich", das weniger zu den Lesern predigt als sich von ihm zu abgrenzen scheint.

In den aktuellen Debatten um Terror und dessen mediale Wirkung finde ich das "wir" unangebracht. Oft fühle ich mich beim Lesen der Leitartikel eben nicht eingeschlossen und frage mich, wieso andere für mich sprechen wollen. Deshalb möchte ich bewusst erklären, warum ich mich nach Nizza und München selbst als Teil des Problems sehe.

Den Anschlag auf feiernde Menschen in Nizza habe ich in der Nacht zum 15. Juli überwiegend auf Twitter und Facebook verfolgt. Ich habe unter den Hashtags die Kommentare zur Tat und mögliche Meldungen verfolgt, etwa über die Dauer des Anschlags, mögliche Hintergründe zur Tat. Bilder von blutenden Menschen auf der promenade des anglais fanden sich auch leider in meiner Timeline. Ich war empört.

Während ein 18-Jähriger in München eine Pistole auf Personen richtete und Leben nahm, bekam ich davon kaum etwas mit, da ich in einem Teil von Deutschland mit schwachem Internetempfang unterwegs war. Lediglich einige Eilmeldungen der Nachrichten-App der Tagesschau, sowie die restriktive Informationspolitik der Polizei München drangen bis zu mir vor. Ich war froh, dass sich meine Bekannten in München bei Facebook nach und nach als "sicher" markiert haben.

Wichtig war allerdings für mich die Erkenntnis, dass ich keine Einschränkung verspürt habe, nicht im Fünfminutentakt mit neuesten Entwicklungen über die Lage in München versorgt zu sein. Die Lage war angespannt und unangenehm, aber als Mediennutzer fand ich die Armut an Information besser als die Fülle an Fehlinformation und Spekulation.

Mir wurde bewusst: Ich bin Teil des Problems an manchen Abenden, wie denen in Nizza. Ich klicke die Tweets mit den Fehlinformation. Ich kommentiere zwar skeptisch, gehe aber im Meer der Kommentare und Retweets als Einzelner zwangsläufig unter. Indem ich denjenigen die Aufmerksamkeit schenke, die sich anders als die ermittelnden Behörden, eben nicht um die Fakten bemühen, belohne ich die Spekulation und Manipulation. Ich stachle auch sonst vielleicht redliche Journalisten dazu an, eben diese vermeintlichen Fakten erst einmal als "unbestätigte Gerüchte" zu teilen.

Ich als Einzelner kann aber auch diesen Missstand nicht lösen. Auch nicht, wenn ich in meinem medienkritischen Kommentar ständig von "wir" rede. Ich kann immer nur ein Teil der Lösung sein. Indem ich anfange, auch bei Liveberichterstattung da abzuschalten, wo den Ermittlern nicht mehr die Zeit gelassen wird, nach Antworten zu suchen. Ich möchte einen Journalismus, der nach Antworten sucht und mir diese Suche präsentiert. Und keinen, der einfach nur die Frage in den Raum wirft und dann Gerüchte teilt.