Ob gestürmte Parlamente oder rassistische Anschläge in den USA ebenso wie in Deutschland: Politisch motivierte Gewalt nimmt zu. Meistens scheinen die Aktionen ohne Zusammenhang zu sein und nur von Einzeltätern auszugehen. Doch Forschende erkennen darin durchaus terroristische Muster. James Angove befasst sich am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht mit der Frage, wie "Zufallsterror" entsteht und was man dagegen tun kann.
"Stop the steal" skandiert eine wütende Menge, als sie sich am 6. Januar 2021 gegen 12:45 Uhr auf den Weg zum Kapitol in Washington, D.C. macht. Gleich beginnt im Senat und im Repräsentantenhaus die offizielle Auszählung der Stimmen, die Joe Biden als neuen US-Präsidenten bestätigen wird. Zuvor hat Wahlverlierer Donald Trump über eine Stunde gegen Demokraten und schwache Republikaner gewettert, das einprägsame Narrativ der gestohlenen Wahl bedient. Er hat seinen Vize Mike Pence ermahnt, im Senat "das Richtige zu tun" und seine Getreuen aufgefordert, den "schwachen Republikanern ... den Stolz und den Mut zu geben, den sie brauchen, um unser Land zurückzuerobern". Gegen Ende schickt er seine Fans über die Pennsylvania Avenue zum Kapitol, er selbst fährt zurück ins Weiße Haus. Stunden später mahnt er via Twitter, "friedlich zu bleiben". Da haben seine Anhänger bereits zwei Stunden lang mit Sicherheitsbeamten gerungen, Barrikaden gestürmt, Scheiben eingeschlagen und sich grölend ihren Weg durch das Gebäude gebahnt: "This house is ours", rufen sie und filmen sich dabei. "Stop the steal."
"Wenn es zu politischer Gewalt kommt, ist es oft verlockend, mit dem Finger auf diejenigen zu zeigen, die die Gewalttat begangen haben", erklärt James Angove, Senior Researcher am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg. "Bei näherer Betrachtung erweist sich das Phänomen moderner politischer Gewalt heutzutage jedoch als äußerst komplex." Angove ist promovierter Philosoph. Am Max-Planck-Institut befasst er sich mit den philosophischen und sicherheitspolitischen Aspekten von Terror. Wodurch lassen sich Menschen zu Gewalttaten gegen Minderheiten, Andersdenkende oder staatliche Institutionen aufstacheln? Ist es eine charismatische Führungsfigur, die auf ihre Anhänger hypnotisch wirkt? Oder liegt es an ihrer Rhetorik, die nur vage und indirekt, gleich einer Hundepfeife, zur Gewalttat aufruft und dadurch unter der Schwelle zur strafbaren Anstiftung bleibt?
"Wir beobachten weltweit einen Anstieg politischer Gewalt, die durch diese Indirektheit gekennzeichnet ist", erklärt James Angove. Statistisch lassen sich diese Gewalttaten vorhersagen, konkret jedoch nicht. Die Taten erscheinen zufällig, zusammenhanglos, ohne erkennbare Vernetzung oder Gruppenidentität. Dennoch ist ein Muster zu sehen, das in Fachkreisen als "stochastic terrorism" diskutiert wird, als zufälliger Terror. Hinter diesem Begriff verbirgt sich die terroristische Strategie, durch extremistische Narrative unter Verwendung von Lügen, Verschwörungstheorien und Hatespeech in Medien und Foren physische Gewalt gegenüber Einzelnen, Gruppen oder dem Staat selbst zu entfachen.
Dass Donald Trump den "Sturm auf das Kapitol" vor zwei Jahren mit seiner Rede befeuert hatte, steht außer Frage. Auf 845 Seiten sammelte der parlamentarische Untersuchungsausschuss des US-Repräsentantenhauses Hinweise für Trumps Zutun und empfahl dem Justizminister als oberstem Staatsanwalt, gegen den Ex-Präsidenten wegen mehrfacher Verschwörung und Anstiftung zum gewaltsamen Aufruhr in einem Präzedenzfall zu ermitteln. Ob es zur Anklage oder gar Verurteilung kommt, ist unklar. "Stürmt das Kapitol", hatte Trump wohlweislich nicht gerufen und jede geistige Urheberschaft stets verneint. Daher sammelten die Ausschussmitglieder mehr als tausend Zeugenaussagen und Hinweise, die Trumps Rolle am Tag und im Vorfeld der Ereignisse des 6. Januar beleuchten. Welche juristische Verantwortung trägt Trump? Ist er ebenso Täter wie die mehr als 800 einzelnen Kapitol-Stürmer, gegen die laut Medienberichten bislang ermittelt wurde? Muss er sich die Gewalt zurechnen lassen?
Gleichgesinnte finden sich in Internetforen
Darin zeigt sich für Experten gerade das Muster von stochastic terrorism: Vermeintlich Einzelne richten ihre Gewalt gegen das staatliche System, seine Repräsentanten oder Institutionen oder gegen Menschen bestimmter Hautfarbe, Herkunft, Religion, sexueller Neigung oder politischer Einstellung – spontan, isoliert und ohne Verbindung zu Terrorgruppen. "In der Terrorismusforschung hielt sich lange die Idee des sozial isolierten Einzeltäters, der keiner politischen Gruppe zugehörig scheint", berichtet Angove. Doch mittlerweile weisen unter anderem die Erkenntnisse einer Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle zur Entwicklung von Terrorgruppen in eine andere Richtung: Demnach formiert sich rechte Gewalt nicht nur in Gemeinschaften mit starker persönlicher Bindung, so etwa in der traditionellen Neonazi-Szene oder im Milieu der Reichsbürger, sondern auch in einer Internetsubkultur. Dort tauschen sich Gleichgesinnte primär online in anonymen Foren und Messengerdiensten aus, sagt Michael Fürstenberg, Politologe und Mitarbeiter der Forschungsgruppe.
Als Mitte Mai 2022 ein Achtzehnjähriger im amerikanischen Buffalo vor und in einem Supermarkt zehn Menschen erschoss und drei verletzte, streamte er seine Tat mindestens zwei Minuten, ehe ihn der Streamingdienst stoppte. Die Ermittler gehen von einem rassistischen Motiv des Beschuldigten aus – elf der dreizehn Opfer waren Afroamerikaner. Im Internet bezog sich der Täter auf rechte Verschwörungstheorien und Vorgängertaten. US-Präsident Joe Biden verurteilte die "Tat, die im Namen der abstoßenden Ideologie des weißen Nationalismus verübt werde". Dieser white supremacist terror beruht vor allem auf einem Narrativ: the great replacement oder white replacement (der große oder weiße Austausch). Darunter verstehen Anhänger rechter Ideologien den "gezielten Austausch" von "weißen" Amerikanern und Europäern durch Einwanderer. Zu lesen sind auch die Begriffe "Umvolkung" oder "Personalwechsel". Medienberichten zufolge war der Attentäter von Buffalo ein Fan von Fox News, dessen Moderator Tucker Carlson vor dem Attentat mehr als 400-mal von "Austauschtheorien" gesprochen haben soll. Auch der Attentäter, der 2019 im neuseeländischen Christchurch 51 Menschen tötete, berief sich auf diese rechte Doktrin, ebenso wie die Attentäter von El Paso (2019), Pittsburg (2018) und zuvor der Attentäter im norwegischen Utøya (2011).
Diese zutiefst rassistische Doktrin ist Experten zufolge nicht neu und prägte in den vergangenen 150 Jahren vielfach die US-amerikanische Einwanderungspolitik. Ideologische und pseudowissenschaftliche Texte dienten dabei oftmals als Rechtfertigung gesellschaftlicher Ressentiments und diskriminierender Politik, so etwa Madison Grants Buch "The passing of the great race" (1916), das Roosevelts Politik beeinflusst haben soll und in F. Scott Fitzgeralds Gesellschaftsroman "The Great Gatsby" zum Tischgespräch taugte.
Laut einer Umfrage von AP Research vom Mai 2022 glaubt ein Drittel der befragten Amerikaner an "die Gefahr des großen Austauschs". Das FBI sieht Inlandsterrorismus als eine der Hauptgefahren für die Zukunft an. Anschläge wie der von Buffalo werden etwa zu dieser Form von Terrorismus gezählt. Insgesamt ermittelte das FBI 2019 in 850 Fällen von domestic terrorism. Dabei ist weiß-populistischer Hass bei weitem kein rein US-amerikanisches Problem. 1973 verfasste der Franzose Jean Respail mit "Le Camp des Saints" ein Kultbuch der neuen Rechten, zur selben Zeit, als Jean-Marie le Pen den Front National gründete. 2011 bediente Renaud Camus mit seinem Buch "Le Grand Remplacement" erneut die Angst vor Zuwanderung. Vergangenen August sprach Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán auf dem jährlichen Sommercamp seiner rechtspopulistischen Fidesz-Partei über die Gefahr des "Austauschs durch Migration" und "einer gemischtrassigen Welt" ... "Man sollte das Phänomen als ein weltweites betrachten – nicht zuletzt, weil ein geeigneter 'Influencer' von überall agieren und senden kann, um diese politische Gewalt zu entfachen", erklärt James Angove. "Technologische Mittel und kulturelle Trends ermöglichen diese Form von Gewalt auch in Großbritannien und Deutschland – oder in Brasilien, wie man im Januar nach der Abwahl von Jair Bolsonaro beobachten konnte."
Doch warum kann sich extremistischer Hass so stark ausbreiten? Eine Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung ergab, dass digitale Medien vor allem in etablierten Demokratien wie in Europa und den USA Polarisierung und Populismus befeuern und somit destabilisierend wirken. Besonders das Vertrauen in Politik und in demokratische Institutionen wie Parlamente wird demnach nachweislich beschädigt. Auch das Vertrauen in die klassischen Medien sinkt. Fatal: Damit steigt auch die Unwissenheit. Schließlich beziehen viele Social-Media-Nutzer ihre Informationen nach dem Motto "News find me": Sie informieren sich nicht mehr aktiv über mehrere Quellen, sondern erwarten, dass wichtige Nachrichten sie über ihr Netzwerk und ausgeklügelte Algorithmen erreichen. Das fördert den Austausch unter Gleichgesinnten in der eigenen "Echokammer", in der Folge steigt dann die Gefahr von Radikalisierung, und die Hemmschwelle für offen artikulierten Hass sinkt.
In dieser Gemengelage gedeihen Gewaltakte, die zufällig wirken, aber terroristische Merkmale haben. Gemäß der Untersuchungen der Terrorismus-Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung mehren sich international Anzeichen einer bevorstehende Welle rechten Terrors. Die Forschenden gehen dabei von einem Modell des US-amerikanischen Politologen David Rapoport aus: Demnach hat sich der Terrorismus seit 1880 in vier einander überlappenden Terrorwellen entwickelt, die jeweils rund dreißig bis vierzig Jahre andauerten. Auf die anarchistische Welle (bis in die 1920er-Jahre) folgte eine antikoloniale Welle, welche von den 1920er- bis in die 1960er-Jahre reichte. Auf die Welle der Neuen Linken (1960 bis 1990) folgte ab 1980 die aktuelle, religiös motivierte Welle islamistischen Terrors. Diese dürfte sich allmählich abschwächen, und eine neue Ära könnte beginnen. "Das Erstarken antiliberaler und rechtsextremer Kräfte ist ein Trend, der sich mit dem Aufstieg von Populisten wie Victor Orbán und Donald Trump bereits abzeichnete und sich in den jüngsten Attentaten von Christchurch, Halle und Hanau bestätigt", schrieb im Jahr 2020 die Leiterin der Gruppe, Carolin Görzig, in einem Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Wie auf eine solche Welle unvorhersehbaren Terrors reagieren? "Es gibt mehrere Möglichkeiten", sagt James Angove. Die schlechteste sei eine vorschnelle Verschärfung von Gesetzen, wie die angstgetriebenen Antiterrorgesetze in den USA nach den Anschlägen von 9/11 zeigten, welche die Islamfeindlichkeit verstärkten und damit wiederum die Spirale der Gewalt beförderten. "Stochastischer Terrorismus ist ein Ausdruck autoritärer Gewalt innerhalb einer Demokratie", erkennt Angove. Dagegen helfe vor allem, die Demokratie zu stärken und das, wofür wir sie schätzen. Dazu zählt in erster Linie die Bedeutung von Wahrheit im politischen Diskurs. "Stochastische Gewalt ist eine Folge der Krise der Wahrheit, der Vernunft und der öffentlichen Abwägung", erklärt James Angove. In Reden werden Zielpersonen verleumdet, entmenschlicht und oft als Bedrohung für die Sicherheit der Zuhörer dargestellt; Verschwörungstheorien können dazu beitragen, diese Bedrohung zu verstärken oder zu charakterisieren.
Die Berichterstattung wird zum Brandbeschleuniger
"Daneben nutzen Regierungen seit jeher eine Art moralische Panik oder Angst vor 'Volksfeinden', um autoritäre Entscheidungen zu rechtfertigen", sagt Angove. Um etwa strengere Gesetze im eigenen Land durchzusetzen, kreierte laut einer Studie des britischen Soziologen Stuart Hall die britische Regierung Anfang der 1970er ein vermeintlich neues Feindbild des "jungen schwarzen Straßenräubers", den die Bevölkerung dank Medienberichten als neue und wachsende Bedrohung einordnete. Obwohl die Gesetze bereits Strafen für Straßenräuber vorsahen, erzielte die Regierung so einen breiten gesellschaftlichen Konsens für deren Verschärfung. Diesen Mechanismus nutzen auch radikale Rädelsführer, indem sie ideologische Feindbilder schaffen und durch konsequente Dämonisierung bis hin zur Entmenschlichung die Hemmschwelle für Gewalt senken.
Angove sieht große Bedeutung im verstärkten sachlichen Austausch zwischen verfeindeten Lagern, damit Verschwörungstheorien weniger Publikum finden, Volksverhetzer demaskiert werden und rhetorische Auswüchse politischer Persönlichkeiten im Internet auf stärkere öffentliche Kritik stoßen. Dafür müsse jede und jeder Einzelne einstehen ebenso wie die Medien. Gerade diese sollten sich nicht zu Handlangern rechter Attentäter machen, indem sie unkritisch, unsensibel oder sensationsorientiert berichten. Täter suchen Aufmerksamkeit für ihre Taten und ihre Person, indem sie ihr Vorgehen filmen und Spuren hinterlassen. Wenn Medien Filmausschnitte und Täter zeigen oder gar wirre Gedanken zur Tat zu einem politischen "Manifest" erhöhen, agieren sie – bewusst oder unbewusst – genauso, wie es der Täter erhofft hat: Ein Bericht in der "Tagesschau" oder zumindest in den Onlinenachrichten verspricht Ruhm für die Ewigkeit. Die Berichterstattung wird zum Brandbeschleuniger.
Gleichzeitig müssen Bürgerinnen und Bürger selbst resilient gegen Hetze im Netz und Demokratiefeindlichkeit werden. Dazu leistet die Wissenschaft einen wichtigen Beitrag. Sie legt Muster offen, erkennt Zusammenhänge und sucht Lösungen für Politik und Gesellschaft, die eine wirksame Alternative aufzeigen zu überhasteten restriktiven Maßnahmen wie der Einschränkung von Freiheitsrechten. (mpg)