Michael Tomasellos "Naturgeschichte der menschlichen Moral"

Fairness geht über Einfühlung

Schon Kleinkinder helfen Probanden aus Missgeschicken heraus und insistieren, dass nach einer gemeinsamen Anstrengung gerecht geteilt wird. Sie erwarten, dass jemand, der sich auf ein Zusammenspiel einlässt, auch am Ball bleibt. Wie es dahin kommen konnte, untersucht Michael Tomasello in einer "Naturgeschichte der menschlichen Moral".

Schimpansen trösten einander, manchmal. Sie jagen in Horden nach kleineren Affenarten. Aber sie teilen ihre Beute erst auf Betteln und Drängen. Abwartend zurückgebliebene Mütter und Jungtiere kommen als letzte dran. Schimpansen sind mitfühlend, und sie sind Opportunisten. Ihre Freundschaften gleichen eher Allianzen. Als die Menschen dagegen zum ersten Mal Bündnisse schlossen, da hatten sie ein gemeinsames Projekt.

Man jagte nicht mehr nur nebeneinander her, man jagte miteinander. Es galt dabei, Rollen zu verteilen. Der eine hetzte das Wild dem Speerwerfer entgegen. Oder trieb die Fische dem anderen ins Netz. Die einen hingen von den anderen ab. Dabei waren ihre Rollen prinzipiell austauschbar.

Man überlegte es sich daher gut, mit wem man auf die Jagd ging. Und war bestrebt, sich so zu verhalten, dass man als Jagdteilnehmer in Betracht kam: kompetent, ausdauernd und nicht zuletzt gerecht, wenn es ans Teilen ging. Denn man wusste, dass auch die anderen einen prüfend im Auge hatten. So kam die Moral in die Welt.

Es ging nicht mehr nur darum, einfühlsam zu sein, mitfühlend mit den Hungrigen und Gezausten. Es ging darum, fair zu sein. Auch heute noch weisen Kinder zwischen drei und fünf Jahren einen Mitspieler sehr schnell zurecht, indem sie ihm erklären, wie man etwas richtig spielt. Sie verzichten auf einen großen Anteil, wenn er nicht ihrem Einsatz in einem gemeinsamen Projekt entspricht, und sie sind mit einem kleineren Teil zufrieden, wenn dies nach erkennbaren Regeln geschieht.

Der Psychologe Michael Tomasello, mit Christophe Boesch einer der beiden Chefs des "Instituts für Evolutionäre Anthropologie" in Leipzig, geht davon aus, dass sich an der Entwicklung eines noch kleinen Menschen einiges über die Entwicklung der frühen Vorfahren ablesen lässt. Und wie es realiter zu einem Analogon von Rousseaus Gesellschaftsvertrag kam.

In seinem vor zwei Jahren zunächst in den USA erschienenen Buch "Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens" sieht er den entscheidenden Entwicklungssprung darin, dass der Mensch über die Geste des Zeigens eine nur ihm eigene Objektivität entwickelt. Verbunden damit war das Suchen nach einer beobachterunabhängigen Wahrheit, indem Wissen akkumuliert und korrigiert wurde. Analog entstand als weiteres Alleinstellungsmerkmal des Menschen die objektive Moral. Sie stützt sich auf ein "Wir": "Bei uns macht man das so!", später: "Das macht man so!".

Vom Mitgefühl über die Fairness zur Moral also. Von der Partnerschaft zur Anerkennung des anderen als Person, der als prinzipiell ähnlich fühlend wie ich eine grundsätzlich respektvolle Behandlung verdient.

Zuerst, so Tomasello, suchten die frühen Jäger sich ihre Jagdpartner aus. Aber mit steigender Gruppengröße und Arbeitsteilung kannte man nicht einmal mehr alle Gruppenmitglieder. Dennoch galt für alle, die sich an die Regeln hielten, fortan das Gleiche. Sozusagen als Investition in die Zukunft. Denn das Wohlergehen hing von einem komplizierten Zusammenspiel vieler Fertigkeiten und Tätigkeiten ab. Und gut gehen würde es einem wohl, wenn es allen gut ginge.

Dabei meint "alle, die sich an dieselben Regeln halten" nach Tomasello nicht primär moralische Regeln, sondern auch die kulturellen Regeln. Wie man spricht, wie man sich kleidet, wie man sich grüßt, welche Rituale man vollzieht. Nur ein kleiner Teil der für eine Gemeinschaft geltenden Regeln ist moralischer Natur. Moralische Entscheidungen erfordern es oft, Regeln gegenüber anderen Regeln abzuwägen.

Die Ich-Du-Konstellation geht diesem universellen Wir in dieser Konzeption notwendig voraus, weil über die Einfühlung modifiziert schließlich das Mitgefühl als conditio sine qua non für die Moral ins Spiel kommt. Frei nach dem Motto: "Was du nicht willst, was man dir tu, das füge auch keinem anderen zu." - Denkbar wären dagegen auch aus erweiterten Familienverbänden bestehende Gruppen, in denen es Wahlfreiheit in der Kooperation mit einem Partner kaum gegeben haben dürfte. Und Konstellationen, die von Anbeginn über die Zweier-Konstellation hinausgehen, wären hier vorzubringen. Dass Mitgefühl vielleicht nur über die Ich-Du-Schiene läuft, erklärt unter Umständen auch den häufigen Schiffbruch der Moral.

Natürlich lässt sich auch gegen die Dichotomie Mensch hier und Tier dort einiges einwenden. Etwa kürzlich im Yerkes-Primatenforschungszentrum in Atlanta unter der Leitung von Frans de Waal gemachte Versuche, nach denen Schimpansen sehr wohl ausdauernd kooperieren und dies in sehr verzwickten Situationen, die zunächst die Fähigkeit zum Verzicht erforderten. Da musste ein Affe eine Barriere wegräumen, damit ein anderer mit einem Seil Leckerbissen heranziehen konnte. Schließlich sollte ein dritter endgültig den beiden den Weg freigeben, indem er eine weitere Barriere beseitigte, so dass schließlich alle in den Genuss der Belohnung kamen – und das funktionierte.

In einer anderen Studie zählte man in einem bestimmten Zeitraum fünfmal mehr Aktionen der Kooperation als der Konkurrenz. Einige Berühmtheit hat eine vor Jahrzehnten dort aufgenommene Filmszene erlangt, in der ein junger Schimpanse einen anderen durch Schulterklopfen, Festhalten und Zurückziehen immer wieder drängt, "bei der Stange zu bleiben", sprich an den Käfigstangen, um gemeinsam mit einem Seil ein Tablett voller Speisen heranzuziehen.

Soweit die Empirie. Rein theoretisch macht es staunen, dass der Weg vom Respekt zur Gleichheit über die Ebenbürtigkeit bei der Nahrungssuche gelaufen sein soll. Also über einen eher "sportlichen" Vergleich. Zwingend ist demgegenüber sicherlich, dass Moral etwas mit der Selbstwahrnehmung von einem unabhängigen Standpunkt aus zu tun hat. Damit ist sie auch ein Erkenntnisproblem.

Das rechtfertigt die zunächst eher willkürlich erscheinende Darstellung der menschlichen Entwicklungsgeschichte der Moral in deutlich formaler bis formalistischer Parallelität zur Entwicklungsgeschichte des Denkens. Der Schuss Spekulation, der darin steckt, erinnert freilich auch an die dialektischen Triaden des deutschen Idealismus à la Schleiermacher und Schelling. Ob seine neue Heimat, die Klassiker-Stadt Leipzig, Tomasello dazu inspirierte?

Michael Tomasello: "Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral", Suhrkamp Verlag Berlin 2016, 283 S. 32 Euro