Amerikanische Humanisten:

Richard Dawkins ist kein "Humanist des Jahres" mehr

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Richard Dawkins
Richard Dawkins

Am 19. April erklärte die American Humanist Association (AHA), dass sie Richard Dawkins den 1996 verliehenen Titel "Humanist des Jahres" aberkennt. Auslöser war ein Tweet des britischen Evolutionsbiologen zum Thema geschlechtliche Identität.

Richard Dawkins ist derzeit vermutlich der bekannteste Atheist der Welt. Seit den 1970er Jahren versucht der inzwischen emeritierte Oxford-Professor mit seinen Büchern, Menschen die Mechanismen der Evolution nahezubringen und sie zugleich über die Unwahrscheinlichkeit der Existenz eines Gottes aufzuklären. Für seine Verdienste auf diesem Gebiet ehrte ihn die American Humanist Association (AHA) 1996 mit der Auszeichnung "Humanist of the Year".

Am 19. April erklärte die AHA nun in einer Pressemitteilung, dass sie Richard Dawkins diese Auszeichnung nachträglich aberkenne. Die Begründung der AHA für diesen Schritt:

"Bedauerlicherweise hat Richard Dawkins in den letzten Jahren eine Reihe von Äußerungen getätigt, die den Deckmantel des wissenschaftlichen Diskurses nutzen, um Randgruppen zu erniedrigen – ein Ansatz, der im Widerspruch zu humanistischen Werten steht. Seine jüngste Aussage impliziert, dass die Identitäten von Transgender-Personen gefälscht sind, während er gleichzeitig die Identität von Schwarzen als eine angreift, die angenommen werden kann, wenn es bequem ist."

Auslöser des Ganzen war ein Tweet von Dawkins am 10. April:

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"Im Jahr 2015 wurde Rachel Dolezal, eine weiße Vorsitzende der NAACP, verteufelt, weil sie sich als Schwarze identifizierte. Einige Männer entscheiden sich dafür, sich als Frauen zu identifizieren, und einige Frauen entscheiden sich dafür, sich als Männer zu identifizieren. Sie werden verteufelt, wenn Sie leugnen, dass sie buchstäblich das sind, als was sie sich identifizieren. Diskutieren Sie!"

Dawkins stach mit seinem Tweet mitten in ein aktuell höchst empfindliches Wespennest: die Diskussion um geschlechtliche und ethnische Identitäten und die Frage nach ihrem biologischen oder soziologischen Kontext. In dieser Diskussion gibt es im Prinzip zwei Seiten. Die eine Seite geht davon aus, dass das Geschlecht sowie die Hautfarbe durch harte biologische Fakten determiniert sind. Die andere Seite ist der Auffassung, dass Geschlecht und Hautfarbe wesentlich fluider sind und es auf das Empfinden des Einzelnen oder den Kontext ankommt. Beide Auffassungen sind politisch aufgeladen. Die eine Seite ist häufig (aber nicht nur) in eher konservativen und rechten Kreisen anzutreffen, die andere Seite vor allem in sehr linken Kreisen.

Dass es Menschen gibt, die das Gefühl haben, sich im falschen Körper zu befinden, dürfte außer Frage stehen. Es gibt beispielsweise Personen, die als biologischer Mann geboren wurden, sich jedoch als Frau fühlen. Anders ausgedrückt: Sie identifizieren sich als Frau. Während die eine Seite solche transsexuellen Menschen selbst nach heute möglichen operativen Angleichungen des Körpers weiterhin letztlich als Angehörige ihres Geburtsgeschlechts betrachtet, ist die andere Seite der Auffassung, dass Transsexuelle bereits ab dem Zeitpunkt, zu dem sie sich als Angehörige eines anderen Geschlechts identifizieren, als Angehörige dieses Geschlechts zu betrachten sind. Zulässiges Kriterium für die Klassifikation der geschlechtlichen Identität ist nach dieser Auffassung also allein das Empfinden der betroffenen Person.

Im Bereich des Komplexes "Rasse"/Ethnie/Hautfarbe sind die Dinge komplizierter. Während die eine Seite wiederum davon ausgeht, dass "Rasse"/Ethnie/Hautfarbe durch harte biologische Fakten festgelegt sind, betrachtet die andere Seite auch diese Eigenschaften als wesentlich fluider. Entscheidend ist hier – anders als bei der geschlechtlichen Identität – jedoch nicht das Empfinden der betreffenden Person, sondern der Kontext sowie der soziale Status. "Schwarz" ist in diesem Denksystem der Inbegriff des Unterdrückten. So kann ein und derselbe Mensch gewissermaßen gleichzeitig schwarz und weiß sein. Ein biologisch weißer Muslim kann ein Weißer sein, wenn er Schwarze unterdrückt, er kann aber ebenso selbst ein Schwarzer – oder korrekter ein BIPOC (Black, Indigenous and People of Color) – sein, wenn er in einem Kontext lebt, in dem Muslime gesellschaftliche Nachteile erfahren. Doch die Fluidität der Begriffe ist in eine Richtung begrenzt: Dass sich ein in seinem sozialen Kontext privilegierter Weißer selbst als Schwarzer identifiziert, und sei es auch nur, um seine Solidarität zu signalisieren, stellt in diesem Denksystem einen Affront dar.

Kompliziert wird die Angelegenheit zusätzlich dadurch, dass es Mischformen beider Auffassungen gibt. So kann jemand, der hinsichtlich der geschlechtlichen Identität auf der Seite der Fluidität steht, hinsichtlich "Rasse"/Ethnie/Hautfarbe durchaus auf der Seite der harten biologischen Fakten stehen.

Im Kontext des Durcheinanders der genannten Denksysteme steht der von der American Humanist Association und anderen kritisierte Tweet von Richard Dawkins.

Dawkins hat in den vergangenen Jahren keinen Hehl daraus gemacht, dass er in dieser Debatte auf der Seite der harten biologischen Fakten steht. Dabei stellte er jedoch auch immer wieder klar, dass diese Sichtweise für ihn keine Abwertung von bestimmten Personengruppen darstellt.

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"'Soziales Konstrukt'? Vergesst es! Rasse ist eine biologische Tatsache. Aber sie ist irrelevant für alles, was wichtig ist. Wir sind alle MENSCHEN."

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"Ist eine Trans-Frau eine Frau? Reine Semantik. Wenn man nach Chromosomen definiert, nein. Wenn durch Selbstidentifikation, ja. Ich nenne sie aus Höflichkeit 'sie'."

In seinem Tweet vom 10. April stellte Dawkins nun die aus seiner Sicht widersprüchlichen Bewertungsmechanismen der von der fluiden Seite vertretenen Auffassungen zur Diskussion. Denn warum, so die Frage, die Dawkins in dem Tweet letztlich stellt, zählt bei einem Menschen, der sich als Angehöriger eines anderen Geschlechts identifiziert, allein dessen Empfinden, bei jemandem, der sich als Schwarzer identifiziert, jedoch nicht.

Was folgte, war jedoch keine Diskussion, sondern ein Shitstorm, auf den Dawkins zwei Tage später mit folgender Klarstellung reagierte:

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"Ich habe nicht die Absicht, Trans-Menschen zu verunglimpfen. Ich sehe, dass meine akademische 'Diskussions'-Frage als das missverstanden wurde, und ich bedaure dies. Es war auch nicht meine Absicht, mich in irgendeiner Weise mit bigotten Republikanern in den USA zu verbünden, die dieses Thema jetzt ausnutzen."

Doch der American Humanist Association reichte diese Klarstellung offensichtlich ebensowenig wie andere Statements von Dawkins. Seine "Versuche der Klarstellung sind unzureichend und vermitteln weder Sensibilität noch Aufrichtigkeit", erklärte sie in ihrer Pressemitteilung zur Aberkennung der Auszeichnung "Humanist of the Year".

Das Problem jedoch liegt an anderer Stelle. Zum einen in einem Missverständnis, zum anderen in einer Anmaßung.

Das Missverständnis:

Aus dem Statement der AHA lässt sich folgern, dass deren Vorstand hinsichtlich der geschlechtlichen Identität die Fluiditäts-Position vertritt, während man bei "Rasse"/Ethnie/Hautfarbe auf der Seite der harten biologischen Fakten steht. Dawkins Tweet jedoch thematisierte die Widersprüchlichkeit der Fluiditäts-Positionen in Bezug auf geschlechtliche Identität einerseits und "Rasse"/Ethnie/Hautfarbe andererseits, und stellte diese zur Diskussion. Der Adressat der AHA-Kritik hinsichtlich der vertretenen Position bezüglich "Rasse"/Ethnie/Hautfarbe ist demnach mit Dawkins falsch gewählt. Dawkins geht nicht von einer Fluidität im Bereich "Rasse"/Ethnie/Hautfarbe aus, er stellt diese von anderen vertretene Position lediglich zugespitzt zur Diskussion.

Die Anmaßung:

Es ist nicht zu bestreiten, dass in rechten Kreisen die Auffassung vorherrscht, Geschlecht sowie "Rasse"/Ethnie/Hautfarbe seien durch harte biologische Fakten unveränderbar gesetzt. Diese Kreise nutzen die genannte Auffassung, um Diskriminierung gegenüber Transmenschen und Bevölkerungsgruppen bestimmter "Rassen"/Ethnien/Hautfarben zu begründen und auszuüben. Ein solches Verhalten ist aus humanistischer Sicht ohne jede Frage zu verurteilen.

Doch wer auf der Seite der harten biologischen Fakten steht, muss deshalb nicht zwangsläufig jemand sein, der Menschen aufgrund ihrer geschlechtlichen Identität oder ihrer "Rasse"/Ethnie/Hautfarbe diskriminiert. Ich kann die Auffassung vertreten, dass ein transsexueller Mann biologisch noch immer ein Mann ist, mit diesem Menschen aber trotzdem wie mit einer Frau umgehen und für dessen Rechte kämpfen. Dawkins selbst hat – unter anderem in den oben aufgeführten Tweets – mehrfach klargestellt, dass er sich von einer Diskriminierung von Menschen unterschiedlicher Hautfarbe oder der Diskriminierung von Transmenschen deutlich distanziert und alle Menschen in der gleichen Weise als Menschen behandelt wissen will. Fraglos eine durch und durch humanistische Haltung.

Doch die American Humanist Association und viele von Dawkins' Kommentatoren kritisieren nicht sein Handeln, sondern sein Denken. Sie akzeptieren nicht, dass er weiterhin die Position der harten biologischen Fakten vertritt, wo sie selbst die Position des Fluiden vertreten. Sie erheben ihre Position damit zur allgemeinen Wahrheit, von der es keine abweichende Meinung geben darf – eine Haltung, die nicht nur anmaßend ist, sondern aus kritisch-rationaler Sicht auch höchst bedenklich.

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