Jesus Christ Superstar in der Reithalle München

Revolutionär des Wahnsinns

Die Neuproduktion des Gärtnerplatztheaters "Jesus Christ Superstar" in der Reithalle München-Schwabing macht Spaß. Alles in allem ein hörens- und sehenswerter Abend, der seine dynamische Kraft durch das engagierte Ensemble in perfekt einstudierter Aktion entfaltet. Die Inszenierung von Josef E. Köpplinger setzt voll auf Emotionen und kreiert einen geradezu fatalen Sog, der das Publikum zum Voyeur im Kopf des Titelhelden werden lässt. Das Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz mit Verstärkung durch die Instrumente der Rockband unterstützt diesen Charakter und bietet einen musikalisch rasanten Gang durch die mitreißende Komposition von Andrew Lloyd Webber.

Gezeigt wird ein Jesus, der erst etwas unbedarft in Blue-Jeans, Strickjacke und -Mütze daherkommt, sich dann zügig in einen revolutionären Rausch hineinsteigert und im Laufe des Abends schließlich außer Rand und Band gerät. Anfangs scheinen die Fronten noch klar und deutlich: Ein junger Mann führt eine Horde jugendlicher Revolutionäre mit der unmissverständlichen Forderung nach "Peace" an. Eine Friedensdemonstration vorbei an einer militärischen Spießer-Welt macht Wahlkampf für diesen Hoffnungsträger. Bald jedoch schlittert eben dieser in ein Verschwimmen von Realität, Visionen und Alpträumen. Es bleibt unklar, ob ihm Pilatus in weißer Uniform, Herodes im Glitzerkostüm und zuletzt seine eigene Kreuzigung auf einer Leiter, tatsächlich widerfahren oder sich nur in seinem Kopf ereignen. Armin Kahl als Jesus schaukelt sich in dieser Rolle vom Beginn bis zum Finale köstlich vom Schluffi zum Verrückten hoch. In der Gethsemane-Szene, kurz vor dem Judas-Kuss, dreht er neben den schlafenden Jüngern voll auf und singt sich so derart in eine selbstüberhöhende Burn-Out-Sackgasse, dass man auf die Bühne springen und ihm eine Zwangsjacke anlegen möchte. Chapeau für diese intensive Verkörperung!

Sein schärfster Kritiker, Judas, ist, wenn nicht ehemals sein bester Freund, so doch ein enger Vertrauter gewesen, der ihn vor einer Grenzüberschreitung zu warnen versucht. Als Judas in der Dreiecks-Konstellation mit Maria Magdalena den Kürzeren zieht, entfremdet er sich emotional immer mehr von Jesus und die Saat für den späteren Verrat beginnt zu keimen. Der Judas von David Jakobs rockt: Er ist sängerisch wie darstellerisch der unumstrittene Superstar des Abends. Durch seine bemerkenswerte Bühnenpräsenz und scheinbar mühelose Bewältigung aller stimmlicher Herausforderungen der Partie, wird er zum glaubhaften Gegenpart und streckenweise zur Identifikationsfigur neben dem immer mehr in den Wahnsinn abgleitenden Protagonisten Jesus.

Foto: © Christian POGO Zach / Gärtnerplatztheater
Bettina Mönch (Maria Magdalena), Armin Kahl (Jesus von Nazareth), Maximilian Mayer (Simon Zelotes), Ensemble, Foto: © Christian POGO Zach / Gärtnerplatztheater

Auch die Liebe zwischen Jesus und Maria Magdalena durchlebt eine Geschichte. Nach anfänglichen Schmetterlingen im Bauch wandelt sich Maria immer mehr zur Frau, die zu erkennen lernt, nicht mehr einen Helden sondern einen Wahnsinnigen zu lieben. Bettina Mönch interpretiert das berühmte "I don’t know how to love him" auf eine selten gehörte Weise: Das Problem, das sich ihr stellt, sind nicht ihre Gefühle für einen großen Mann, sondern eine sich einschleichende Erkenntnis darüber, dass diese Liebe aufgrund psychischer Disposition ihres Partners keine Zukunft hat. Es gelingt ihr, diese Verzweiflung nicht nur im Spiel überzeugend zu zeigen, sondern über ihren Gesang glaubhaft zu vermitteln. Die Figur der Maria gewinnt so eine Dimension hinzu – sie ist nicht mehr nur Liebe, sie ist Weisheit. Und so gilt der Applaus nach ihrem Solo ausnahmsweise nicht dem Komponisten sondern der Sängerin.

Hauptrolle und zugleich Bühnenbild ist jedoch die Masse aus Chorsängern, Solisten und Ballett-Ensemble. Auf einer ansonsten leeren Spiel- und Tanzfläche ist das einzige Bühnenbild-Element eine große Brücke, die sich mittels zweier Treppen über die Fläche spannt. Diese fungiert als Arena, auf der das Publikum von drei Tribünen aus zusieht, wie sich das Drama abkämpft. Dort erzählt ein perfekt einstudiertes Ensemble in der choreografischen Umsetzung von Ricarda Regina Ludigkeit das Scheitern eines Individuums an der Masse der Gesellschaft, und zuletzt an sich selbst. Ein Raumkonzept (Bühne: Rainer Sinell) das aufgeht.

Eine weitere Interpretation der Geschichte liefert das Kostümbild von Anja Lichtenegger. Die Farbe Schwarz dominiert die Kleidung der Masse in der das Individuum Jesus (in blau) scheitert. Seine Gang ist es, die sich als die radikale Jugend in zerrissenen Hosen und Lederjacken positioniert. Ausgerechnet Judas, der Jesus anfangs zur Mäßigung aufruft, radikalisiert sich noch einen Schritt mehr: schwarz geschminkte Augen und eine tief ins Gesicht gezogene Kapuze markieren in ihm den Aussteiger. Petrus ist der einzige in der Gruppe, der den Kleidungsstil von Jesus mit blauem Hemd und Jeans nachahmt – ein historisch korrekter Link auf den ersten Papst.

Foto: © Christian POGO Zach / Gärtnerplatztheater
David Jakobs (Judas Ischariot), Armin Kahl (Jesus von Nazareth), Bettina Mönch (Maria Magdalena), Foto: © Christian POGO Zach / Gärtnerplatztheater

Der Abend ist in vielerlei Hinsicht eine Show und es gibt soviel zu sehen, dass man bei nur einem Besuch schwerlich alles erfassen kann. Viele kleine Regie-Einfälle und Details sorgen, nicht zuletzt durch die engagierte Spielfreude aller Beteiligten, für eine durchgängige Kurzweiligkeit. Besonders liebevoll gestaltet sich das Bild vom letzten Abendmahl, wenn Jesus ein großes Fladenbrot bricht, eine Flasche roten Fusel (Kelch!) durchreicht und Petrus dies mit Smartphone dokumentiert.

Am Ende schließt sich szenisch ein Kreis. Da stehen sie wieder, die beiden: Judas und Jesus, nun im schwarzen Mantel gleich gewandet, reichen sich die Hand. Die Masse hat die Individuen geschluckt, so schildert es der Dress-Code. Und es wäre wohl keine Inszenierung von Josef Köpplinger, wenn nicht dicke weiße Flocken eine Winterstimmung auf die Bühne zaubern würden. Absolut sinnig: Die Kontrahenten gehen im Frieden auseinander und die Revolution ist Schnee von gestern.

Tipp der Autorin: Reingehen!