"Die Meistersinger von Nürnberg" im Cineplex Königsbrunn

Wahn! Wahn! Überall Wahn!

"Ein Meistersinger muss er sein!" heißt es bei Richard Wagner. Der Forderung sollte eine so lange Oper auch gerecht werden. Dass es aber nicht immer ein Festspielhaus sein muss, sondern man auch gepflegten Festspiel-Genuss im Kino erleben kann, zeigte ein Abend im Cineplex Königsbrunn (bei Augsburg). Die Übertragung der Bayreuther Festspielpremiere "Die Meistersinger von Nürnberg" am 25. Juli aus einem bequem gepolsterten Sitz heraus verfolgen zu können, hatte durchaus seinen eigenen Charme.

Die beste Nachricht zuerst: Die Premiere ist eine sängerische Sternstunde! Klaus Florian Vogt IST der Meistersinger. Bis zum letzten Ton trägt seine Stimme durch den Abend, bis zum Finale reißt er mit durch Glanz und Wärme und trifft jeden Ton, ohne je müde zu werden. Besser als Vogt 2017 war nur Vogt 2007 – für alle die das noch im Ohr haben... Sein junger Tenor-Kollege Daniel Behle macht aus dem Lehrbuben David die reinste Heldenpartie und könnte womöglich schon bald selbst den Rittersmann geben. In Michael Volle haben die Bayreuther Festspiele endlich wieder einen Sachs gefunden, der dieses Hauses würdig ist. Voll Elan meistert er jede Facette der Partie, ist künstlerisch, heldisch und väterlich – im Flieder-Monolog gar meisterlich erotisch. Günther Groissböck als Evchens Vater Veit Pogner reiht sich nahtlos in diese erste Liga wagner’scher Sangeskunst ein und ist der Fels in der Brandung. Johannes Martin Kränzle als Beckmesser aber steckt sie zuletzt alle in die Tasche. Die altmodisch dahertönenden Koloraturen des besserwisserischen Stadtschreibers Sixtus sind technisch eine Herausforderung voller tückischer Stolpersteine, auf denen Kränzles Stimme sich wie auf Schienen legt. Was die Sänger durchweg alle beherrschen, ist die Kunst, gelegentlich in interpretierender Weise mit dem Notentext umzugehen. Einzelne Phrasen oder Wörter werden geraunt, geknurrt oder mit verstellter Stimme als Zitate anderer Figuren artikuliert. Das lässt die Charaktere echt werden – Wagner gewinnt dazu. Bis in die letzte Nebenrolle werden alle Partien mit Bravour bewältigt – als Nachtwächter tritt gar Georg Zeppenfeld auf und adelt die Vorstellung bis zum letzten Ton. Einzig die Eva von Anne Schwanewilms kann mit diesem Aufgebot nicht mithalten. Freilich trifft sie jeden Ton – und das ist für eine Eva schon recht viel, scheint doch ein mysteriöser Fluch auf dieser Rolle zu liegen. Doch klingt sie viel zu ältlich für eine junge Braut.

Auch der Festspielchor (Leitung Eberhard Friedrich), der gerade in dieser Oper die tragendste aller Rollen spielt und singt, bleibt seinem guten Ruf treu und ist über jeden Zweifel erhaben: voller Klang in allen Laut- und Leisestärken, saubere Intonation und einwandfreie Textverständlichkeit. Das Dirigat von Philippe Jordan ist durchschnittlich, gelegentlich leider zäh wie Kaugummi. 

Barrie Kosky (Intendant der Komischen Oper Berlin und Preisträger des Operetten-Frosches) beginnt die erste Szene im Wohnzimmer der Villa Wahnfried. Fans erkennen das gleich an der stilechten Kulisse (Bühne: Rebecca Ringst), für alle anderen wird es mittels projizierter Schrift erklärt, dass wir uns ebendort im Jahre 1873 befinden. Schon während der Ouvertüre erzählt Kosky eine Geschichte: Die Entstehung der Oper welcher wir hier beiwohnen. Im Wohnzimmer der Wagners spielen Richard Wagner und Franz Liszt auf einem Flügel, dem nacheinander verschiedene Gestalten entsteigen. Jungen und Männer unterschiedlichen Alters, alle im Wagner-Kostüm, betreten so die Szenerie und beginnen, mit den Anwesenden zu interagieren. Richard Wagner ist auf einmal Sachs, zwei der Richard-Burschen aus dem Flügel werden zu Stolzing und David, Franz Liszt mutiert zu Veit Pogner und Cosima zu Eva. Einzig der ebenfalls anwesende Hermann Levi muss ein bisschen in die Rolle des Beckmessers gedrängt werden, nimmt aber schließlich an. Zum Ende des ersten Aktes fährt das plüschige Wohnzimmer auf die Hinterbühne und der allein zurückbleibende Wagner tritt in den Zeugenstand einer Kulisse der "Nürnberger Prozesse", die dann den weiteren Abend bühnenbildnerisch beherrscht.

Im zweiten Akt – der Gerichtssaal ist von Gras und Efeu überwuchert – ist der Zeugenstand das einzige Möbelstück, werden die Beziehungskisten zwischen den Hauptfiguren analysiert. Die allbekannte Dreiecks-Konstellation Sachs-Eva-Stolzing präsentiert sich wie gewohnt. Der Fokus richtet sich stattdessen auf Sixtus Beckmesser. Er wurde schon im ersten Akt gezielt als Sonderling etabliert. Während nämlich alle Anwesenden Kaffee und Nürnberger Lebkuchen schnabulierten, packte er Milch und Stullen aus und störte die Unterhaltung durch lautes Rascheln seiner Butterbrot-Tüte (akustisch ein herrlich komischer Effekt!). Zumal als Besserwisser angelegt, ist er traditionell auch der Kontrahent des Helden und klassisch interpretiert keine Identifikationsfigur. Bei Kosky ist Sixtus der Eigenbrödler, der Sonderling und Außenseiter. Gar viele Möglichkeiten böten sich nun heute, einen solchen Außenseiter auf die Bühne zu stellen: als Nerd, als Esoteriker, als Straßenbahnkontrolleur, als Wagner-Liebhaber, als Humanisten gar. Doch Kosky wählt die unkreativste und abgedroschenste Weise in der er es tun könnte: Beckmesser ist Jude (mit Wagner-Gesicht!). Ein bühnenfüllender Kopf mit Kippa und Schläfenlocken wird aufgepustet und fällt wieder in sich zusammen. Zuletzt sehen wir einen Davidstern, der das gesamte Portal ausfüllt.

Im dritten Akt ist der Gerichtssaal dann voll eingerichtet, wie wir es aus Bildern der 1940er kennen. Das hat den Vorteil, dass der Großteil des Chores einen Sitzplatz bekommt. Wieder sieht man einen Beckmesser, dem sein Judentum offenbar zu schaffen macht. Kinderstatisten im Kostüm von Judenkarrikaturen bedrängen und quälen ihn. Mit seinem falsch vorgetragenen (weil geklauten) Lied wird er unrühmlich von der Bühne komplementiert. Stolzing singt es dann richtig und darf Evas Bräutigam sein. Zuletzt beschwört Hans Sachs die deutschen Meister als gute Geister, während der Chor – verkleidet als Orchester mit Instrumenten – schlusschorend ins Bild rollte. Eine Uhr im Hintergrund, die mal vorwärts mal rückwärts läuft, zeigt an, in welche Richtung die Zeitsprünge sich bewegen. 

Während es Kosky so über viele Stunden hinweg gelingt, das Komische bis ins Letzte aus dem Werk herauszukitzeln, verweigert sich seine Regie der den Meistersingern innewohnenden tragischen Komponente. Der Abgrund, in den die Partitur durch ihre Tristan-Zitate blicken lässt, ist das Trauma des Alterns, des Trauerns um das Gewesene. Sachs tritt sehenden und verstehenden Auges zurück vor der nach ihm kommenden Generation. Er hat den Frühling schon erlebt und erkennt in dem jungen Glück von Eva und Stolzing wehmütig eine Reminiszenz an seine eigene Jugend. Die kleine Geschichtsstunde, die Kosky daraus macht, lenkt geschickt von genau diesem bitterbösen Zug der Handlung ab. Es wird nicht mehr das rein menschliche Ur-Drama verhandelt, das jeden gleichermaßen angeht, sondern ein kleiner Abschnitt aus dem Schulbuch.

Die Inszenierung trifft eine Aussage aber in jedem Fall ganz klar: Richard Wagner hielt sich selbst für den größten aller Künstler – eigentlich für den deutschen Meister schlechthin und überhaupt – und er war so antisemitisch wie seine Zeit. Durchaus möglich, dass Kosky hier ein sehr treffendes Bild des Komponisten als Charakter zeichnet, dem Bühnenwerk der Meistersinger wird es indes längst nicht gerecht. Diese Oper besingt die Kunst als Tochter der Freiheit, sie ist ein Plädoyer dafür, als Künstler immer seinen eigenen Weg zu gehen, seine eigenen Regeln aufzustellen und ihnen unbeirrt zu folgen. Und sie gibt den Rat, das Leben zu feiern mit allem, was es einem Gutes und Fröhliches zu bieten hat so lange es geht. Während die ganze deutsche Nation mit Luther im Reformations-Jahr 2017 einen ausgewiesenen Antisemiten feiert, wirkt ein moralischer Zeigefinger auf dem Grünen Hügel nach dem Motto "seht her, was für ein arroganter Unsympath dieser deutsche Klassiker doch gewesen sein muss!" reichlich deplatziert.

Dem Cineplex Königsbrunn indes gebührt großer Respekt für die Gestaltung eines rundum gelungenen Theaterabends. Im Ticket inbegriffen sind Getränke und ein mehrgängiges Menü, das während der Pausen serviert wurde. Dresscode gibt es bei Oper im Kino keinen, die Tendenz geht jedoch stark hin zu festlich bis sehr festlich.

Und wo liegen nun die konkreten Unterschiede zwischen einer Oper im Kino und einer im Festspielhaus? Ganz klar: Man sieht mehr. Und bei einer so geschickt geführten Fernsehregie gewinnt die Szene enorm. Auf die Akustik eines echten Opernhauses muss man dafür leider verzichten. Aber das Kino ist die Möglichkeit, mit kleinem Geldbeutel zum Festspielgast zu werden. Und im Sinne Richard Wagners, der das Konzept des Kino-Films schon entwickelt hatte, bevor es Filme gab, wäre es allemal. Auch wenn Opern-Regisseure das vielleicht nicht so gerne hören.