In der Debatte um Auswirkungen der Reformation vor 500 Jahren auf die Zeit der Moderne warnt der Frühneuzeithistoriker Prof. Dr. Matthias Pohlig vor gedanklichen Kurzschlüssen. Spätere Errungenschaften wie der moderne Staat, die Religionsfreiheit, der Kapitalismus oder gar die Säkularisierung ließen sich nicht als direkte Effekte der Reformation nachweisen, schreibt der Reformationshistoriker vom Exzellenzcluster "Religion und Politik" der Universität Münster im Beitrag "Eine Neuzeit ohne Reformation?" in einem neuen Buch über kontrafaktische Geschichte mit dem Untertitel "Was wäre gewesen, wenn…".
"Die gerade im Jubiläumsjahr 2017 gängige Verknüpfung der Reformation mit guten wie schlechten Phänomenen der Moderne erweist sich bei näherem Hinsehen als hochgradig problematisch", so Pohlig. Je weiter Ereignisse und Phänomene von der Reformation weg lägen, umso weniger lasse sich wissenschaftlich ein direkter Zusammenhang herstellen.
Der Autor untersucht in dem Beitrag für viele kurz- und langfristige Phänomene im Detail, wie die deutsche Geschichte und die Weltgeschichte ohne die Reformation des 16. Jahrhunderts verlaufen wären. "Was es vielleicht tatsächlich ohne die Reformation so nicht gegeben hätte, waren die Anfänge einer Trennung von Politik und Religion im Reich", führt Pohlig aus. Die beiden Religionsfrieden von 1555 und 1648, der Augsburger und der Westfälische Frieden, hätten den Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten damit gelöst, religiöse Wahrheitsansprüche politisch auszuklammern und den Untertanen minimale Glaubensrechte einzuräumen. "Ob dies Deutschland auf den Weg zu Toleranz, Säkularisierung und modernem Verfassungsstaat brachte, darf man kritisch diskutieren – und linear ist dieser Weg sicher nicht gewesen." Auch die Aufklärung, den Kapitalismus und das moderne Individuum hätten Luther und die Reformatoren nicht angestrebt. Vieles, was heute mit dem Protestantismus assoziiert werde, "widerspricht ziemlich deutlich dem, wofür die Reformation historisch steht." Vertreter aus Politik und Kirche hatten die Reformation im Jubiläumsjahr als Teil der europäischen Freiheitsgeschichte und Urheberin vieler moderner Errungenschaften beschrieben.
"Nur kurzfristige Effekte nachzuweisen"
Kurzfristige Wirkungen der Reformation lassen sich Matthias Pohlig zufolge jedoch nachweisen: Ereignisse des 16. Jahrhunderts wie die Kirchenspaltung, der Bauernkrieg und die Entstehung einer komplizierten religiösen Friedensordnung im Heiligen Römischen Reich seien "tatsächlich undenkbar ohne die Reformation". Der Historiker führt diese Zusammenhänge im Beitrag detailliert vor. Er schreibt: "Auch kulturell hätte das Ausbleiben der Reformation einiges verändert: Luthers Bibelübersetzung darf als Grundtext einer deutschen Hoch- und Literatursprache gelten. Ohne die Lutherbibel wäre die Sprach- und Literaturgeschichte des 16. Jahrhunderts und der nachfolgenden vermutlich anders verlaufen." Zudem wäre der Buchdruck ohne Reformation nicht so schnell zum Massenmedium geworden. "Für spätere Entwicklungen ist es allerdings höchst fraglich, ob und wie sie mit der Reformation in Verbindung stehen."
Kontrafaktische Geschichtsuntersuchungen
Der Autor reflektiert in seinem Beitrag einerseits, wie die deutsche Geschichte ohne Reformation verlaufen wäre, andererseits erörtert er Grundsatzfragen dieser "kontrafaktischen Methode", bei der Historiker "Was wäre wenn gewesen…" fragen. Die Methode erweise sich zwar als guter Einstieg, um über Konsequenzen der Reformation nachzudenken und etablierte Ursache-Wirkung-Muster zu entlarven, so Pohlig. Dann aber bleibe sie in ihrer Aussagekraft begrenzt. "Die Methode isoliert einen kausalen Faktor – hier die Reformation – und behauptet dann kurz- und langfristige Wirkungen. Doch gerade viel spätere Entwicklungen könnten auch auf andere Faktoren zurückgehen. Eine kontrafaktische Engführung verführt also zu Spekulationen." Darauf aber fußten viele Einschätzungen, die im Jubiläumsjahr 2017 über die Reformation öffentlich geäußert würden. (vvm)
Hinweis: Pohlig, Matthias: Eine Neuzeit ohne Reformation?, in: Nonn, Christoph/ Winnerling, Tobias (Hgg.): Eine andere deutsche Geschichte (1517-2017). Was wäre wenn…, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2017, 20-36.
18 Kommentare
Kommentare
Hans Trutnau am Permanenter Link
Ach nee!? Sicher kann Luther Religionsfreiheit nicht angelastet werden.
Aber inwiefern ist Kapitalismus eine Errungenschaft?
Dieses "Exzellenzcluster" scheint mir etwas überbewertet.
Ilse Ermen am Permanenter Link
Soso,und der Feudalismus und davor die Sklavenhaltergesellschaft waren was ganz Tolles? Recht über Leben und Tod der Sklaven und Leibeigenen? Ius primae noctis?
Hans Trutnau am Permanenter Link
Interessant - inwiefern fand ich denn Feudalismus oder Sklavenhaltergesellschaft toll?
Etwas aus dem Kaffeesatz gelesen?
Daniel Wetzler am Permanenter Link
Selbstverständlich ist Kapitalismus eine Errungenschaft. Es genügt nur ein kurzer Blick auf nicht marktwirtschaftliche Gesellschaften um den Fortschritt zu erkennen.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Noch interessanter - die offenbare Gleichsetzung von Kapitalismus und Marktwirtschaft, sozialer gar?
Martin Mair am Permanenter Link
Ein haarsträubender Unsinn ist das!
Martin Mair am Permanenter Link
Die wirtschaftlich am weitesten entwickelte Region in Spanien, Katalonien, war eine Zeit lang anarchistisch Geprägt.
Karl-Heinz Büchner am Permanenter Link
Glaubensfragen haben in der Tat schon zu Reformationszeiten nur für die Reformatoren, die jeweils abweichende Ansichten vertraten, eine Rolle gespielt.
Kontrafaktische Geschichtsschreibung ist eine ebenso spannende Beschäftigung wie Kristallkugellesen. Prognosen sind nämlich immer dann besonders problematisch, wenn sie die Zukunft betreffen. Insofern ist Prof. Pohligs Warnung, der Reformation, sprich Kirchenspaltung, diese oder jene Eigenschaft oder Auswirkung zuzuschreiben, zuzustimmen und mehr noch, seiner Warnung, was alles hätte sein können, wenn die Kirchenspaltung ausgeblieben wäre. Man kann sich fragen, welche direkten Folgen diese Kirchenspaltung hatte, z.B. den Schmalkaldischen Krieg, den es ohne diese definitiv nicht gegeben hätte, aber schon bei mittelbaren Auswirkungen verliert man sich komplett im Reich der Spekulation. Und dann erhebt sich die Frage: Cui bono?
lanzu am Permanenter Link
"Prognosen sind nämlich immer dann besonders problematisch, wenn sie die Zukunft betreffen." In diesem Fall betreffen die Prognosen aber die Vergangenheit und Gegenwart.
Eine Frage ist allerdings auch, was Geschichte noch macht, wenn sie auf kontrafaktisches komplett verzichten würde. Würde sie sich auf Rekonstruktion der Geschichte beschränken und dabei kausale Verbindungen vernachlässigen, da solche ein kontrafaktisches Element haben, das ohne Ereignis X nicht Ereignis Y passiert wäre.
Karl-Heinz Büchner am Permanenter Link
Zitat: "Würde sie sich auf Rekonstruktion der Geschichte beschränken und dabei kausale Verbindungen vernachlässigen, da solche ein kontrafaktisches Element haben, das ohne Ereignis X nicht Ereignis Y passiert wär
Da stimme ich Ihnen vollkommen zu, problematisch wird es, wenn man spekuliert, was passiert wäre, wenn etwas NICHT stattgefunden hätte, wobei ich das Nichteintreten eines Vorgangs nicht als aktives Einwirken auf den Verlauf der Geschichte sehe.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Also ist Luther nicht der Wegbereiter der Emanzipation, wie mal Frau Käßmann anklingen ließ? So was aber auch! Selbstverständlich darf man die Reformation nicht linear in die Zukunft denken.
Das ist ein altes Phänomen in der Religionsgeschichte, das mal zu Schismen, mal zu Häresien, nie aber zu Freundschaften führt. Dass es dabei immer auch "Abfallprodukte" gibt oder dass vor sich hin dümpelnde Erfindungen plötzlich einen Massenstatus bekommen, ist fast unvermeidbar. Der sich nun mehr und mehr verbreitende Atheismus und Humanismus ist Folge des Internets.
Entscheidend ist immer, welchem Denken die Spalter entspringen, anhängen. Dann geht es mal ein Stück vorwärts, oder - wie bei Luther - ein Stück rückwärts. Linien zu fernen Ereignissen kann man immer dann ziehen, wenn in "Sichtweite" eine Tradierung der Ursprungsidee nachweisbar ist. Wenn es nur temporäre Koinzidenten sind und andere gesellschaftliche Faktoren den ursprünglichen Traditionsstrang mit anderem Inhalt weiterführen, dann wäre die Linie unterbrochen.
Deshalb darf man sich nicht nur Anfangs- und Endpunkt einer Entwicklung anschauen, sondern alle Zwischenstufen. Das ist arbeitsintensiv, lohnt sich aber, wenn man besserer Erkenntnis auf der Spur sein will...
Martin Mair am Permanenter Link
Calvin war dann noch ein weiterer Schritt rückwärts ... ;-)
Siehe Stefan Zweig: Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt
pavlovic am Permanenter Link
Interessant fand ich den Beitrag des Historikers Bendikowski mit seinem Buch zum Lutherjahr.
Zitat: „Was ich allerdings beschreibe, ist noch viel dramatischer, nämlich dass dieser konfessionelle Glaubenskrieg ein negatives Vorbild war für andere Heilsgemeinschaften. Als die Menschen aus den Kirchen austreten im 19. Jahrhundert – was wir Säkularisierung nennen – verlassen sie nicht einfach nur die Kirchen, sondern sie nehmen die Erfahrung, die Rituale, die Sprache mit hinaus in die Welt und gründen neue Heilsgemeinschaften, politische, weltanschauliche, auch kirchliche und religiöse, in denen sie ähnlich rigoros agieren mit dem Anspruch auf Wahrheit und Sinn wie die alten Kirchen. Das heißt, der deutsche Glaubenskrieg geht auch in die Welt hinaus und die Erfahrung des konfessionellen Dauerkonfliktes verseucht auch die politische Kultur in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert. Eine Kultur der Unversöhnlichkeit, der Kompromissunfähigkeit, der Einteilung der Welt in Gläubige und Ungläubige ist das bittere Ergebnis.“
Ilse Ermen am Permanenter Link
Auch wenn ich Luther, Calvin, Zwingli nicht als Aufklaerer betrachte, so gibt es ein paar einschneidende - teils unfreiwillige - Folgen der Reformation.
Wie eine neuere Studie des PEW Research Center, sind weltweit Juden/Jüdinnen und Protestant_innen die Personen mit dem höchsten Bildungsniveau, Alphabetisierungsrate und längstem Schulbesuch, Muslim_innen die mit dem geringsten. Auch ein Blick in die Statistik des Fischer Weltalmanachs ist vielsagend. Wie schon Max Weber meinte, haben Protestantismus und Kapitalismus etwas miteinander zu tun (absehbar am BIP der jeweiligen Statten). Von wegen keine Langzeitfolgen!
Karl-Heinz Büchner am Permanenter Link
Zitat: "Im Artikel kurz angedeutet in dem Satz, dass die Luthersche Bibleübersetzung wegbereitend für die deutsche Sprache war..."
Hätte Zwinglis Übersetzung eine solche Verbreitung gefunden, wäre unsere Sprache heute vermutlich deutlich mehr ans Oberdeutsche angelehnt.
Es waren die Drucker, die für die Bekanntmachung dieses Dialekts gesorgt haben. Von Herrn Luther spräche heute ohne den Rückhalt der Fürsten, die ihn für ihren Machtkampf gegen den Papst brauchten, kein Mensch mehr.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
"Wer die Bibel in seiner Muttersprache lesen kann, kann auch was anderes lesen."
Das ist unbestreitbar. Man sollte dabei jedoch zwei Punkte bedenken:
1. wurde das Analphabetentum in deutschen Ländern im Wesentlichen durch das Christentum hervorgerufen, da Schulbildung - wie sie noch das römische Reich kannte - verboten und weltliche Bücher massenhaft (Verhältnis 1:1000) vernichtet wurden.
2. wurde gerade Luthers populäre Bibel von ihm bewusst judenfeindlich übersetzt. D.h. Leser - die es dank der fortschreitenden Volksbildung gab - sogen mit der Lutherbibel antisemitische Inhalte auf (vor allem in den Vorreden), die weiterhin die Gesellschaft vergifteten, von den direkt judenfeindlichen Schriften ganz zu schweigen.
Bildung und Lesen sind nie neutral als Errungenschaften zu werten. Sie entfalten ihren positiven Charakter erst dann, wenn die gelehrten und lesbaren Inhalte keinen wie auch immer gearteten negativen, gesellschaftsschädlichen Inhalt haben.
Natürlich gab es als Nebeneffekt auch Personen, die die negativen Inhalte dank ihrer Bildung entlarven konnten und die kritische Bibelforschung und andere philosophische Strömungen (wie z.B. Friedrich Nietzsche) konnten gegen den Mainstream entstehen. So gesehen hat die Bibelübersetzung und beginnende Volksbildung mittelfristig zur Entlarvung der Bibel und der Religion an sich beitragen können. Heute ernten wir die Früchte in Form der zunehmenden Säkularisierung.
Doch dies alles war nicht im Sinne der Reformation und schon gar nicht Luthers...
Martin Mair am Permanenter Link
Luther baute auf die Lateinübersetzung von Erasmus von Rotterdam auf, der dann selbst auch ins Französiche übersetzt hatte, wohl unabhängig von Luther.
Karl-Heinz Büchner am Permanenter Link
Luther hat nicht die erste deutsche Bibelübersetzung vorgelegt. Vor ihm gab es schon mind. ein halbes Dutzend andere.
Im Übrigen hat er auch keine Übersetzung im Sinne einer wortgetreuen Übertragung abgeliefert, sondern das geschrieben, was er für richtig hielt, mit dem Ergebnis, dass sich die Katholiken und Protestanten erst 1983 auf eine gemeinsame Version des Neuen Testaments einigen konnten.