Da gibt es eine Geschichte, über 200 Jahre alt. Ein Gedankengebäude zur Medizin, eines unter vielen der damaligen Zeit. Diese Geschichte gewann ein gewisses Renommee, da sie viele Fehler bisheriger Methoden vermied und deshalb fälschlicherweise für "richtig" gehalten wurde. Ihre Grundlagen waren aber eine Mischung aus vorwissenschaftlichen, teilweise mystischen Überlieferungen, garniert mit Hypothesen, die aber nicht mehr taten, als eine verführerische Schlüssigkeit und Einfachheit des Systems vorzugaukeln. Natürlich – wir sprechen von der Homöopathie.
Dieses Gedankengebäude konkurrierte zu seiner Zeit mit vielen anderen, ähnlichen und ganz verschiedenen, und mit der "überkommenen" medizinischen Lehre, der "heroischen Medizin" (weil es galt, diese zu überleben) auf der Basis der Humoralpathologie (der Vier-Säfte-Lehre).
Es gab zur ersten Blütezeit der Homöopathie schon ein erstes Wetterleuchten wissenschaftlicher Methodik am Horizont und damit eine ganze Reihe von kritisch eingestellten Menschen, die versuchten, durch erste Vergleichsversuche der Methode auf den Zahn zu fühlen. Wobei sich schon zu Lebzeiten des "Erfinders" der Homöopathie rein empirisch (also auf vergleichender Beobachtung beruhend) zeigte, dass Zweifel wohl mehr als angebracht waren. Ja, es gab auch schon gewichtige Stimmen, die den fehlenden inneren Zusammenhalt der Methode, also ihre innere Widersprüchlichkeit, ebenso wie viele Unvereinbarkeiten mit Erfahrungstatbeständen, die äußere Widersprüchlichkeit, darlegten. Das bedeutendste Werk dieser Art war wohl das "Anti-Organon" von Johann Christian August Heinroth (1825)1, das eine umfassende Widerlegung zu Hahnemanns Lehre schon aus damaliger Sicht vorlegte und viele Erkenntnisse neuzeitlicher Homöopathiekritik vorwegnahm.
Deshalb erreichte die Methode auch nie den Status einer lege artis, einem durchweg anerkannten "Stand der medizinischen Kunst", ja, es gab sogar behördliche Verbote.
Wobei nicht verschwiegen werden soll, dass die Anhängerschaft durchaus zahlreich war, sie folgten ihrem Vordenker, der übrigens in aller Konsequenz dogmatisch auf der Bewahrung aller Einzelheiten seines Lehrgebäudes bestand, bedingungslos. Warum diese Gefolgschaft? Sicher wegen der Abkehr von den rabiaten bis schädlichen Methoden der heroischen Medizin, zudem war die schlichte Sicht auf Symptome statt auf komplexe Krankheiten für den Laien verführerisch, ferner das Versprechen, mit den Symptomen die Krankheit zu beseitigen. Zweifellos auch wegen der Einfachheit homöopathischer Medizin (damals gab es 70 Mittel und das wars dann) und deren Herstellung, die Bequemlichkeit der Anwendung – das berühmte "sanft, natürlich und nebenwirkungsfrei", das ja auch heute noch seine Anziehungskraft entfaltet.
Fiat lux
Gar nicht so lange nach dem Auftreten der Homöopathie kam es zu einem Paradigmenwechsel in der medizinischen Profession. Ein Paradigmenwechsel ist ein grundlegender Umsturz, eine Wende um 180 Grad in den bisherigen Grundlagen einer Wissenschaft. Ein Paradigmenwechsel kann nur geschehen, wenn nicht mehr zu übersehen ist, dass sich die Faktoren häufen, die gegenüber der bisher herrschenden Lehre einen Dammbruch erzwingen. Der Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn spricht denn auch von einer "Krise" einer alten Lehre, die durch eine starke "Häufung" von "Anomalien" zu einer "wissenschaftlichen Revolution" mit Ersatz des alten Paradigmas "inklusive zentraler Begriffe" münde2. Also nicht eine Revision in einem oder mehreren Einzelpunkten, sondern in der Ablösung eines kompletten Lehrgebäudes.
Diese "kopernikanische Wende der Medizin", dieses "fiat lux" war in den 1850er Jahren der Durchbruch zu einem wissenschaftlichen Konzept, das die Bedeutung der einzelnen Zelle für die Lebensfunktionen und damit auch für Krankheit und Gesundheit des Organismus belegte. Vorbei war die Zeit der Humoralpathologie, der Lehre vom "Gleichgewicht der vier Körpersäfte", vorbei erst recht die Vorstellung Hahnemanns von einer "geistigen Lebenskraft" als einem belebenden "Vitalismus" in einem amorphen, nicht aus eigener Funktion heraus belebten Körper (die Leugnung des Vorhandenseins von "Krankheiten an sich" im homöopathischen Lehrgebäude ist ein tiefer Ausdruck dieser Vorstellung).
Die Zellularpathologie trat ihren Siegeszug an, der uns bis zu den heutigen Ergebnissen moderner Medizin geführt hat. Der Weg für eine Lehre von Krankheitsentstehung und -verlauf, die Ätiologie, war frei. Bald kamen Bakteriologie und Virologie dazu, später die Endokrinologie (die Lehre von der hormonellen Steuerung) und bis heute immer weiter differenzierende Teilgebiete. Die Grundlagen aber, die beim Paradigmenwechsel Mitte des 19. Jahrhunderts gelegt wurden, haben bis heute Bestand und bewähren sich täglich – damit war die Medizin zu einer "Wissenschaft des sicheren Ganges, die sich ihrer Grundlagen sicher ist" im Kantschen Sinne geworden und hatte das "blinde Herumtappen" hinter sich gelassen. Vor allem aber war nun die Möglichkeit gegeben, aus rein empirischen Beobachtungen auf der Grundlage der anatomischen und physiologischen Erkenntnisse allgemeingültige Schlüsse zu ziehen – und umgekehrt frühere Fehlannahmen zu verwerfen, weil sie mit dem gewonnenen Erkenntnisbild nicht zu vereinbaren waren. Dies besiegelte das Schicksal nahezu aller vorwissenschaftlicher Methoden.
Scheintod und Wiederbelebung
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Homöopathie denn auch zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken, ungeachtet dessen, dass es hier und da homöopathische Praxen und auch Kliniken gab. Die Methode als solche wurde von den allermeisten Medizinern im Grunde gar nicht mehr zur Kenntnis genommen.
Eine homöopathische Fakultät an der Berliner Universität überlebte nur überschaubare Zeit und wurde wegen "nachgewiesener Erfolglosigkeit" geschlossen.
Mit der Zeit des Dritten Reichs schien zunächst noch einmal die Zeit der Homöopathie gekommen, mit der Aussicht, sie als spezifisch deutsche Medizin als Gegenpol zu einer "jüdisch geprägten Schulmedizin" etablieren zu können. Den Untersuchungen, die das Reichsgesundheitsamt über mehrere Jahre hinweg dazu durchführte, war jedoch ein teils spektakuläres Scheitern beschieden.
Die Kriegswirren setzten dem ein Ende, so dass es zu einer systematischen Publikation der Ergebnisse nicht mehr kam, sie sind aber recht umfassend und vor allem unmissverständlich im sogenannten Donner-Bericht zur Homöopathie dokumentiert (durch Fritz Donner, einem damals führenden Homöopathen, der sich nach dem Krieg völlig von der Methode abwandte).
Ab dem Ende der 1960er Jahre entstand ein Trend, der die Homöopathie – dann unter der Führung von Frau Dr. Veronika Carstens, der Ehefrau des damaligen Bundespräsidenten – als etwas ganz Neues etablierte: Als sanfte, nebenwirkungsfreie Blümchenmedizin mit dem Image des Reinen und Natürlichen, gewollt in eine scheinbare Identität mit Naturheilkunde hinübergleitend (mit der sie nichts zu tun hat).
Die Heilpraktikerszene bemächtigte sich der Homöopathie endgültig, auch, um sich deren positives Image als pseudoseriöses Aushängeschild für ihre sinn- und nutzenfreien Methoden außerhalb der evidenzbasierten Medizin nutzbar zu machen – dies geschieht bis heute. All das wurde noch gekrönt von der Adelung als eine der "besonderen Therapierichtungen" durch den Gesetzgeber mit dem wirklich unfassbaren Privileg, keinen Wirkungsnachweis erbringen zu müssen – das Ergebnis der Bemühungen einer kleinen, aber einflussreichen Parlamentariergruppe, die aus dem Umfeld der Steinerschen Anthroposophie kam.
Noch in den 1990er Jahren wurde das so etablierte irrationale System "mehrerer Medizinen" kaum hinterfragt und in unangebrachter Toleranz sogar von Ärztefunktionären mit dem Euphemismus "Dualität in der Medizin" bedacht. Eben in diesen Jahren setzte aber in der Medizin ein Umdenken ein, das immer klarer werden ließ, dass ein öffentliches Gesundheitswesen nur auf der Grundlage streng nachgewiesener Wirkungen und Plausibilitäten – der Evidenzbasierung – sinnvoll, wirtschaftlich und nachhaltig sein und ethisch gegenüber dem Patienten gerechtfertigt werden kann. Nicht zuletzt an den Auseinandersetzungen mit der Homöopathie seitdem, ihrer wissenschaftlichen Betrachtung und der Publizierung der daraus resultierenden Ergebnisse ist dieser Wandel konkret geworden. Dies ist der Erkenntnisstand heute – dem die Realität aber keineswegs entspricht.
Game over
Wir sind längst an einem Stand des Erkenntnisgewinns angekommen, eines weltweit vielfach verifizierten und dabei ebenso vielfach bestätigten Erkenntnisgewinns, dass man das Festhalten an der homöopathischen Lehre nur noch als Realitätsverlust bezeichnen kann, als den Aufenthalt in einem Paralleluniversum.
Die Verteidigungsversuche der homöopathischen Fraktionen beginnen Formen des Grotesken anzunehmen. Hochangesehene wissenschaftliche Gremien mit Spitzenwissenschaftlern von internationalem Format werden mit Diskreditierungsversuchen überzogen; ihnen wird böswillig-selektive Darstellung vorgeworfen; die Detailvorwürfe der Homöopathen sind alle längst widerlegt, werden aber trotzdem ständig wiederholt; es werden "Studien" vorgelegt, bei denen beim besten Willen kein positives Ergebnis für die Homöopathie herausgelesen werden kann und diese als ultimative Beweise für die Methode dargestellt, scheinwissenschaftliche Nebelbomben gibt es zuhauf (bereits Prokop u. Prokop schrieben Ende der 1950er Jahre von den „gescheiterten wiederholten Versuchen, durch Angleichung der homöopathischen Systeme an die Schulmeinungen allgemeine Anerkennung zu erlangen“3) und auch die neueren Versuche, in wissenschaftstheoretischen Überlegungen einen "sicheren Grund" zu gewinnen, sind nichts anderes als ein Rufen im Wald, das allenfalls die eigene überzeugte Anhängerschaft erreicht.
Nein, es ist längst vorbei mit der Homöopathie als einer irgendwie ernstzunehmenden medizinischen Methode. Das Verdikt der weltweiten Wissenschaftsgemeinde ist längst gesprochen – bestätigt von den führenden staatlichen und nichtstaatlichen Wissenschaftsorganisationen. Und nein, es geht dabei nicht um "Meinung". Es geht um Fakten, um die Anwendung der rationalen Standards, ohne die unsere moderne Gesellschaft in vorwissenschaftliche Zeiten zurückfallen würde.
Es erhebt ja auch niemand den Anspruch, das Word Wide Web durch Telepathie abzulösen. Es gibt nichts mehr zu diskutieren in dieser Sache. Es gilt "nur noch", den immer gleichen Desinformationen der pseudomedizinischen Szene entgegen zu treten, der Pseudomedizin ihre Verankerung im kollektiven Bewusstsein, ihre "soziale Reputation" streitig zu machen. Nicht nur im Dienste einer wohlverstandenen und unverzichtbaren Rationalität, sondern auch als Beitrag zum demokratisch-gesellschaftlichen Diskurs.
Paralleluniversum
Und trotzdem – das pseudowissenschaftliche Paralleluniversum existiert, dominiert zwar von der Galaxie der Homöopathie, aber umgeben von einer Unzahl an unsinnigen bis gefährlichen Heilsversprechen. Ständig entstehen – um beim Bild des Universums zu bleiben – wie Sterne aus Gas aus Unwissen und Selbstüberschätzung neue "Methoden" – und auch neue "Krankheiten" – in diesem Universum der Beliebigkeit.
Vom Gesetzgeber unbehelligt bis geadelt und damit dem Publikum als vertrauenswürdig vorgeführt, gefällt sich dieses nahezu unangefochtene Universum in abgrundtiefer Selbstüberschätzung und kultiviert vielfach auch noch eine demonstrativ zur Schau gestellte Verachtung der "Schulmedizin".
Wie die Homöopathie die inhaltliche Verkörperung dieses Paralleluniversums ist (mit pseudomedizinischen Heilslehren aller Art im "Schlepptau"), ist es der Heilpraktikerstand in persona (wobei wir die Mitglieder der Ärzteschaft nicht unterschlagen wollen, die sich ebenfalls dazu verstehen, Pseudomedizin zu praktizieren). Dazu passt immerhin, dass die moderne Astrophysik Paralleluniversen für möglich hält, bei denen die Zeit rückwärts abläuft…
Wie lange will der Gesetzgeber der Diffamierung ernsthafter Wissenschaft und der Herabwürdigung der Anstrengungen der Ärzteschaft und eines jeden, der die Mühen eines Medizinstudiums auf sich nimmt, durch die Existenz dieses Medizin suggerierenden Paralleluniversums noch zusehen?
Bremswege
Woraus folgt, dass man den Verantwortlichen in Politik und Gesundheitswesen nicht nur nahelegen, sondern abfordern muss, diesen in vieler Hinsicht unsäglichen Zustand zu beenden. Auch dort gewinnen die Argumente langsam lächerlichen Charakter. "Die Leute wollen es aber" – im Ernst, Wunschmedizin vor Effizienz?
Längst ist ein Stand erreicht, wo die Krankenkassen Konsequenzen ziehen und ihre Erstattungen per Satzungsleistung für Homöopathie von sich aus beenden müssten. Denn auch die Erstattung für Kosten der besonderen Therapieeinrichtungen unterliegen dem Gebot, dass sie "ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich" sein müssen, um erstattungsfähig zu sein.
Wie aber sollte eine unwirksame Methode, die nur noch durch Behauptungen am Leben gehalten wird, ausreichend und zweckmäßig sein? Wirtschaftlich ist sie, wie eine aktuelle Studie (durchgeführt mit einer großen Krankenkasse) zum wiederholten Male gerade erst ergeben hat, auch nicht.
Also – wo bleiben die Konsequenzen? Wo das Eingeständnis der Gesundheitspolitik, hier lange Zeit einer massiven Fehlentwicklung freien Lauf gelassen zu haben? Selbst wenn man das Problem jetzt angehen würde, bliebe immer noch ein langer Bremsweg wie beim berühmten Öltanker. Aber jeder lange Weg beginnt mit dem ersten Schritt. Und den Weg einzuschlagen ist, um mit einem vielbemühten, aber selten wirklich zutreffenden Begriff zu sprechen, hier wirklich alternativlos.
Kleine Auswahl zum Weiterlesen:
- Grundsätzliches: Ratgebernewsblog
- Homöopathiegeschichte: Blog Keine Ahnung von Garnix "El Cid und die Homöopathie"
- Neues Statement des Beirats der Wissenschaftlichen Akademien der EU: The Independent vom 23.9.2017
Der Artikel wurde zuerst auf dem Blog "die Erde ist keine Scheibe" veröffentlicht.
- Heinroth, Joh.Chr.Aug., Anti-Organon oder Das Irrige der Hahnemannischen Lehre im Organon der Heilkunst. C.H.F. Hartmann, Leipzig (1825) ↩︎
- Kuhn, Thomas S., Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Suhrkamp 13. Aufl. (1996) ↩︎
- Prokop, Otto u. Ludwig, Homöopathie und Wissenschaft, Ferdinand Enke, Stuttgart (1957) ↩︎
16 Kommentare
Kommentare
Hans Trutnau am Permanenter Link
Sauber. Die ersten Schritte sind getan. Natalie Grams geht denselben Weg.
Dr. Skep am Permanenter Link
Ich frage mich, warum in der Schweiz jüngst die Wirksamkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit der Homöopathie nach eingehender Untersuchung festgestellt wurde?
Hintergrund: "Von Gesetzes wegen können in der Schweiz nur Leistungen vergütet werden, die wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sind (Art. 32 Voraussetzungen des Krankenversicherungsgesetzes KVG)."
http://www.homoeopathie-online.info/schweiz-homoeopathie-ist-wirksam-zweckmaessig-und-wirtschaftlich/
Manfred H. am Permanenter Link
Da wurde gar nichts festgestellt!
Wikipedia hilft:
"Am 30. Juni 2005 hat das Bundesamt für Gesundheit, Teil des Eidgenössischen Departements des Inneren, diese Leistungspflicht nach den Ergebnissen der von ihm in Auftrag gegebenen Studie Programm Evaluation Komplementärmedizin wieder gestrichen, da die Autoren zu dem Schluss kamen, dass „die vorliegenden placebokontrollierten Studien zur Homöopathie […] keinen eindeutigen Effekt über Placebo hinaus“ belegen.[139] Am 17. Mai 2009 stimmte eine Mehrheit des Schweizer Stimmvolks dafür, dass die Berücksichtigung der Komplementärmedizin in der Bundesverfassung verankert wird...Zur Umsetzung dieses Verfassungszusatzes wird ab 2012 die Homöopathie neben vier weiteren alternativmedizinischen Behandlungsmethoden unter bestimmten Voraussetzungen von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung bezahlt."
Manfred H. am Permanenter Link
Entschuldigung, Sie haben recht, Dr. Skep (da ist Wikipedia wohl nicht up to date)!
Und die sog. "anthroposophische Medizin" ist auch mit an Bord!
Leistungen sind also wirksam, zweckmäßig und wirtschaftlich, wenn der Gesamtbundesrat das so beschließt. So kann man das natürlich auch sehen. Wir stimmen einfach darüber ab!
Udo Endruscheit am Permanenter Link
Leider -oder glücklicherweise- irren Sie. Diese Feststellung wurde in der Schweiz keineswegs getroffen, ganz im Gegenteil.
Seit der 1990er Jahre waren in der Schweiz Bestrebungen festzustellen, "alternativmedizinische" Therapien in den Leistungskatalog der Grundversicherung zu übernehmen. Unter der Schweizer Bunderätin Ruth Dreifuss wurden am 1. Juli 1999 fünf Therapieverfahren, die Anthroposophische Medizin, die Homöopathie, die Neuraltherapie, die Phytotherapie sowie die Traditionelle Chinesische Medizin vorläufig und befristet in diesen Leistungskatalog aufgenommen.
Aber: Parallel dazu wurde das "Programm Evaluation Komplementärmedizin" (PEK) gestartet, dessen Zweck die Evaluation der genannten Verfahren hinsichtlich ihrer Wirksamkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit war.
Im Rahmen des PEK, eines bis dato hinsichtlich finanzieller und personeller Ausstattung einmaligen Projektes, entstand u. a. auch die legendäre und heißdiskutierte Studie von Shang (et al.) "Are the clinical effects of homoeopathy placebo effects? Comparative study of placebo-controlled trials of homoeopathy and allopathy."
Rückblickend muss heute festgestellt werden, dass das PEK, hätte man vor dem Programm über die massiv unterschiedlichen (weltanschaulichen) Auffassungen zwischen Wissenschaftsmediziner und den Verfechtern der Komplementärmedizin nachgedacht, in der durchgeführten Form wohl nie initialisiert worden wäre.
Im Nachhinein betrachtet hat das PEK tatsächlich nur zwei bedeutsame Ergebnisse geliefert:
Ein organisierter sinnvoller Dialog zwischen Wissenschaftlern, die auf belastbaren Daten und die dafür notwendigen Erhebungsmethoden bestehen und den Vertretern der Heilverfahren, zu deren bestimmenden Elementen solche metaphysischen Aspekte wie beispielweise die "geistartige Kraft" der homöopathischen Arzneien zählen (die sich jeder wissenschaftlichen Begutachtung entziehen) ist schlicht nicht möglich.
Genauso wenig möglich ist die angestrebte Klärung der Sachfragen mit wissenschaftlichen Mitteln, weil es sich nicht um wissenschaftliche Streitfragen handelt, sondern um unterschiedliche weltanschauliche Positionen.
Obwohl schon die während des Programms stattgefundenen erbitterten Auseinandersetzungen es vermuten ließen: Wie tief letztlich der Graben zwischen Wissenschaftsmedizin und der "Alternativ-Medizin" tatsächlich war und bis heute ist, zeigte sich erst in den Jahren nach Ende des Programms. Als aber im Jahr 2005 das Ergebnis des PEK vorlag, entschied der Nachfolger von Ruth Dreifuss, der Schweizer Bundesrat Pascal Couchepin, dass, als Folge der im Hinblick auif die von den PEK-Ergebnissen dokumentierte fehlende Evidenz, ab Ende Juni des Jahres die Grundversicherung für Leistungen der fünf Verfahren nicht mehr bezahlen wird.
Dieser Entscheid führte in der Öffentlichkeit zu lautstarken kritischen Reaktionen seitens der komplementärmedizinischen Therapeuten sowie der Anwender der Verfahren und mobilisierte diese nachhaltig. In wenigen Monaten hat die Volksinitiative "Ja zur Komplementärmedizin" mehr als 100.000 Unterschriften gesammelt, die nötig sind, um die Schweizer Bundesverfassung zu ändern. Nach diversen politischen Gefechten kam es schließlich am 17. Mai 2009 zum Volkentscheid, welcher letztlich zu einer Verankerung der Komplementärmedizin in der Verfassung sorgte. Dabei hatten rund 26 Prozent der Stimmberechtigten sich als Fans der Zaubermedizin geoutet, was etwa 17 Prozent der Gesamteinwohnerzahl betrug. Was nach den -in der Schweiz selbst hoch umstrittenen- Abstimmungsregeln ausreichte, um das Referendumsziel zu erreichen.
Allerdings bedeutet diese Verankerung nach lange nicht die Kostenübernahme für sämtliche rund 200 Verfahren, die unter dem Begriff "komplementär" zu subsummieren sind, denn weiterhin gilt, dass erstattungsfähige Heilverfahren ihren therapeutischen Nutzen, wie auch die Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit nachzuweisen haben.
Das Problem und der Umgang mit dem Votum der alternativ-affinen Patientenschaft war also weiter ungelöst und der Nachfolger Couchenpins, Didier Burkhalter stand nun vor der heiklen Frage, wie einerseits dem Volksentscheid zu entsprechen, andererseits aber bestehendes Sozialversicherungsrecht einzuhalten ist. Burkhalter, dem wohl die Unmöglichkeit des Entkommens aus dieser Zwickmühle klar war, erinnerte sich an die unter Politikern allgemein beliebte Strategie der Entscheidungsvertagung. 2011 beschloss er eine befristete Wiederaufnahme der fünf Verfahren in den Leistungskatalog der Grundversicherung und verlangte, weil der Nachweis, dass die Leistungen der betroffenen Fachrichtungen wirksam, zweckmäßig und wirtschaftlich sind, weiterhin fehlte, von den Vertretern der alternativen Behandlungsmethoden, bis Ende 2015 aufzuzeigen, inwiefern die komplementärmedizinischen Fachrichtungen die Kriterien erfüllen. Parallel dazu wollte das Eidgenössische Departement des Inneren (EDI) ein unabhängiges Gutachten erstellen lassen.
Wer nun auf den Gedanken kommt, dass genau diese Situation doch schon einmal vorhanden war: Richtig! Und zwar mit negativem Ergebnis für die Alternativmedizin. Die Schweizer waren mal wieder bei "Start" angekommen.
Fragt sich nur, ob es 2011 berechtigte Gründe dafür gab, erneut zu versuchen, wissenschaftlich nicht zu klärende Fragen mittels wissenschaftlicher Methoden zu beantworten. Solche Gründe gab es selbstverständlich nicht, es ging hier nur um eine Vertagung des Problems. Insoweit wundert es nicht, was letztlich bei der Vertagung herumkam: nämlich die schon längst bekannte Erkenntnis, dass es sich nicht beweisen lässt, dass die betroffenen Fachrichtungen «als Ganzes» wirksam, zweckmäßig und wirtschaftlich seien. Wie war noch der Filmtitel, der angesichts solcher Sachverhalte gerne zitiert wird? Genau: "Und täglich grüßt das Murmeltier"!
Kommen wir zum vorerst letzten Teil der alternativheilerischen Posse, der dem Schweizer Bundesrat Alain Berset zu verdankenden salomonischen Entscheidung:
Die besteht nun darin, sowohl dem Kritiker inhaltlich Recht zu geben, der, mangels Beweisen für therapeutischen Nutzen usw., die Komplementärmedizin weiterhin für Unfug hält, als eben auch den Anhängern der Magie am Krankenbett ihren Willen zu lassen. Das funktioniert, indem man der Komplementärmedizin einen Vertrauensbonus einräumt. Anstatt jede Methode einzeln zu prüfen und nur nach erfolgreicher Prüfung in den Leistungskatalog aufzunehmen, werden pauschal sämtliche Therapien aufgenommen und erst dann, wenn jemand einen Antrag auf Überprüfung stellt, diese als Einzelfall genauer auf ihren therapeutischen Nutzen etc. untersucht.
Niemals haben in der Schweiz die wissenschaftlichen Ergebnisse, weder die allgemein vorliegenden noch die speziell per PEK dafür erhobenen, irgendeine Rolle dafür gespielt, dass unsere Nachbarn inzwischen in den zweifelhaften Genuss kommen, Alternativmedizin per Krankenkasse erstattet zu bekommen. Grund dafür ist vielmehr ein pseudodemokratisch-politischer Blindflug. Eigentlich eine Posse. Und wie sieht es aktuell aus?
Aktuell stehen die Vertreter aller möglichen Alternativmethoden beim Bundesrat Schlange und führen Klage darüber, dass sie rein willkürlich aus dem Katalog der Verfahren, die als Zauberkunst übernommen werden, ausgeschlossen wurden. Dem Bundesrat wird Angst und Bange, wie er aus der Nummer nun wieder rauskommen soll - und es hat sich eine neue Bürgerinitiative mit dem Ziel gebildet, die Alternativen wieder aus dem Erstattungskatalog rauszubekommen, angesichts von Prognosen über Beitragssteigerungen, die dem fränklibewussten Schweizer den Schweiß auf die Stirn treiben.
So siehts aus.
Roland Moritz am Permanenter Link
Warum wirkt Homöopathie bei Tieren (z. B. Pferden)?
Frank Nicolai am Permanenter Link
Zitat aus dem aktuellen Buch von Natalie Grams: "Die unrichtige Ansicht, ein Placebo-Effekt könnte bei Kleinkindern und Tieren nicht auftreten, beruht wohl auf dem Missverständnis, der Placebo-Effekt entstünde da
Karl am Permanenter Link
Aha. Somit gibt es so etwas wie Selbstheilungskräfte. Ganz ohne Pillen und Globuli. Der Effekt von Globuli lässt sich im Vergleich zu Pillen nicht durch veränderte Stoffkonzentration nachweisen.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Welcher Ansatz?
Udo Endruscheit am Permanenter Link
Es geht im übrigen nicht um um den Placeboeffekt im engeren Sinne. Was in Summa wirkt, sind Placeboeffekt (aus der Erwartung, es möge
einem besser gehen), Konditionierung (die Erwartung,
Suggestion (die Veränderung der Selbstwahrnehmung).
Diese Phänomene hängen nicht ursächlich mit der Homöopathie
zusammen, werden aber von ihr als „Erfolge“ vorgewiesen.
Keiner dieser Effekte kann heilen.
Placebo ist kein bewusster Vorgang, er hat mit "etwas Einreden" nichts zu tun, auch eigentlich nicht mit "suggerieren". Er ist eine komplexe vegetative Umstimmung aufgrund des Zusammenwirkens vieler Aspekte. Placebo tritt bei Menschen auf, die sich ausdrücklich dagegen verwahren, so etwas "unterstellt" zu bekommen. Ebenso in gewissem Maße sogar bei Patienten, die gesagt bekommen, dass sie ein Placebomedikament erhalten. Placebo wird nicht allein durch den Vorgang des "Pillenschluckens" erzeugt, wohl nicht einmal überwiegend.
Der Placeboeffekt tritt auch und gerade bei den besonders für feine Signale ihrer Bezugspersonen empfänglichen Babys und Kleinkindern auf, nämlich durch die Übertragung der positiven Erwartung
des oder der Betreuenden. Gleiches gilt auch für Tiere. Auch dieser Effekt ist bestens erforscht, man nennt ihn Placebo-by-proxy.
Thomas Baader am Permanenter Link
"Warum wirkt Homöopathie bei Tieren (z. B. Pferden)?!"
Eines der ältesten Pro-Homöopathie-Argumente der Welt - und seit Jahren immer und immer wieder erfolgreich widerlegt. Ständig auf dieselben Scheinargumente eingehen zu müssen ermüdet irgendwann...
Karl-Heinz Büchner am Permanenter Link
Homöopathie wirkt weder bei Menschen, noch bei Pferden noch bei anderen Tieren.
Genau das ist ja die Crux mit der Homöopathie. Jeder behauptet, die fantastische Wirkung homöopathischer bereits ungezählte Male am eigenen Leib erlebt zu haben und trotzdem konnte das noch niemals durch eine Studie belegt werden.
Und seien Sie versichert, Pferde und andere höhere Säuger empfinden Zuneigung durchaus als angenehm.
little Louis am Permanenter Link
Leider, leider leider ist aber ihre Argumentatin zumindest für echte Skeptiker auch nicht sehr viel überzeugender, als die Ihrer Gegner, denn..
Denn es wird kein exakter körperlicher Mechanismus für die Selbstheilung aufgrund von Zuwendung aufgezeigt und durch Doppelblindstudien gehärtet. Genauso wird nicht aufgezeigt, wie genau bei Babys oder gar bei nichtmenschlichen Säugern in Bezug auf den "Kommunikationspartner" eine Erwartungshaltung in Bezug auf Heilung entstehen und wirksam sein könnte. Das hat also auch fast nur Spekulationscharakter. Weil es aber "ingroup- Denken" ist, wird es unkritisch und unhinterfragt akzeptiert.
So einfach, dass man statt Homöopatie nur einfach Plazeboeefekt sagen müsste ,um die Homöopathie der Unwissenschaftlichkeit zu überführen, ist es also auch nicht.
Und noch bis vor nicht allzulanger Zeit galt ein Einfluss der psychischen Befindlichkeit auf das Immunsystem (Zuwendung) als pure Esoterik, weil man keinen Wirkmechanismus zur Verfügung hatte.
Und nur nebenbei: Der bloße Hinweis auf eine (angeblich unbestritten "wissenschaftliche " Fachmännin (mit Mainstream Erweckungserlebnissen) ist auch nicht gerade ein wissenschaftliches Argument.
Karl-Heinz Büchner am Permanenter Link
Man muss einen Wirkungsmechanismus nicht kennen, um eine Wirkung zu erkennen.
Die Menschen haben Jahrtausende vor der Entdeckung der Infrarotstrahlung gewußt, dass die Sonne wärmt.
Und der Placeboeffekt läßt sich durchaus in einer doppelt verblindeten Studie nachweisen und das wurde auch schon mehrere Male getan.
Vermutlich ist es also nur teilweise eine "Erwartungshaltung", die die Selbstheilungskräfte des Körpers aktiviert, die Mixtur von körpereigenen Substanzen, die den nachweisbaren Effekt bewirken, kann auch durch Zuwendung und Kommunikation verändert werden.
Was die Bemerkung mit der "angeblich unbestritten wissenschaftlichen Fachmännin" soll, wieß ich nicht. Von mir stammt sie nicht.
Thomas Baader am Permanenter Link
Das, was in Amerika der Kreationismus ist, ist in Europa die Homöopathie.
Karl-Heinz Büchner am Permanenter Link
Aber glücklicherweise glauben in Europa nicht zweidrittel der Erwachsenen an die Wirkung homöopathischer Mittel. Es sind "nur" 15-20%. Immer noch viel zu viele...