Homöopathen freuen sich derzeit über den Umstand, dass das Wort "Homöopathie" in der neuen medizinischen Leitlinie zur komplementären Krebsbehandlung vorkommt. Das geht so weit, dass behauptet wird, nun sei die Evidenz der Homöopathie wissenschaftlich belegt und die Landesärztekammern sollten ihre Beschlüsse revidieren, Homöopathie aus den Weiterbildungsordnungen zu streichen. Das Informationsnetzwerk Homöopathie (INH) schafft Klarheit.
Vor kurzem erschien die medizinische S3-Leitlinie "Komplementärmedizin in der Krebsbehandlung". Eine solche Leitlinie wird von einer Leitlinienkommission bei der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften) erarbeitet, in die die einzelnen beteiligten Fachgesellschaften Vertreter entsenden. Begrifflich ist eine S3-Leitlinie die Zusammenfassung der gültigen Evidenz für eine medizinische Intervention für die ärztliche Praxis. Sie ist ein Baustein der evidenzbasierten Medizin, begründet aber selbst keine Evidenz, das geschieht "vorher" in Studien und ihrer Auswertung.
Nun ist eine solche Kommission bei der AWMF natürlich auch immer – wie alles in der wirklichen Welt – irgendwo konsensorientiert, ungeachtet dessen, dass in eine S3-Leitlinie eigentlich nur "knallharte" Evidenz gehört (es gibt auch niedrigere Stufen, auch welche die mit einem "k" extra als nicht evidenz-, sondern konsensbasiert gekennzeichnet werden).
Homöopathie in einer S3-Leitlinie?
Tatsächlich: In der neuen S3-Leitlinie zur Komplementärmedizin bei der Behandlung von Krebserkrankungen wird die Homöopathie erwähnt. Und was geschieht? Nun, in gewisser Weise verständlich: In diesen für die Homöopathie doch recht trüben Zeiten freuen sich die Homöopathen, als hätten sie den Nobelpreis, das Bundesverdienstkreuz und den Oscar gleichzeitig gewonnen. Sie feiern eine "Erwähnung" der Homöopathie in der Leitlinie als endgültige Bestätigung dafür ab, ihrer Methode sei damit endgültig wissenschaftlich "Evidenz" zugesprochen worden und sparen dabei auch nicht an Seitenhieben auf die allgegenwärtigen, ständigen Kritiker.
Nun haben die Homöopathen ohnehin ihre eigene Art, mit "Evidenz" zu jonglieren. Manchmal reicht schon die Erwähnung des Begriffs in einem Raum, in dem sich Homöopathen befinden, um Freudentaumel auszulösen. Tatsächlich wurde in den Sozialen Medien bereits verlautbart, angesichts dieses neuen umwälzenden Ereignisses mögen doch die elf (von 17) Landesärztekammern, die sich bislang von der Homöopathie in ihren Weiterbildungsordnungen verabschiedet haben, ebendies doch umgehend wieder rückgängig machen. Und ohne Zweifel wird man das in Zukunft als Monstranz vor sich hertragen und beständig polieren und – genauso wie auch jetzt schon – vergessen zu erwähnen, wie armselig dieser "Erfolg" eigentlich ist. Dazu allerdings darf man sich selbst auch nicht die Frage stellen:
Was bedeutet diese Empfehlung eigentlich? Und was steht denn wirklich in der Leitlinie?
Zunächst bedeutet diese (Kann-)Empfehlung keinen Nachweis einer Wirksamkeit der Homöopathie über Placebo hinaus. Dieser müsste – wie erwähnt – in nach strengen wissenschaftlichen Methoden durchgeführten und replizierten Studien erfolgen. Das Einzige, was diese Empfehlung zweifelsfrei zeigt, ist, dass es medizinische Fachgesellschaften gibt, die Ärzte und Medizinprofessoren in eine Leitlinienkommission entsenden können, die ihrerseits die Grundlagen ihres Faches soweit vergessen haben oder ignorieren, dass sie die Homöopathie als eine wirksame Heilmethode ansehen und über eine gewisse Durchsetzungskraft verfügen, um erfolgreiche Lobbyarbeit betreiben zu können.
Mehr nicht.
Allerdings: So richtig toll ist das ja nun gar nicht, was da in der Leitlinie steht.
Man bedenke, mit welcher Verve die Homöopathie als eine der konventionellen Medizin ebenbürtige oder gar überlegene Therapie beworben wird, wie sich zum Beispiel einzelne Homöopathen zu Krebsheilern hochstilisieren, ohne in ihren Reihen auf Widerspruch zu stoßen. Was gibt es nicht für Literatur, Internetseiten und Reportagen, die die Fähigkeit der Homöopathie beschwören, einen wesentlichen Beitrag bei der Krebsbehandlung liefern zu können. Man schaue sich auch einmal die Programme der jährlich in erstaunlicher Vielzahl stattfindenden Homöopathie-Kongresse an, wo regelmäßig "homöopathische Behandlungsoptionen" auch für Krebs vorgestellt und mit Beifall bedacht werden. In einer Leitlinie, die genau diesen Themenkreis zum Inhalt hat, müsste es doch angesichts dessen von entsprechenden Empfehlungen nur so wimmeln!
Dem steht genau eine Empfehlung gegenüber: Man "kann" die Homöopathie zur Verbesserung der Lebensqualität als Zusatz zur konventionellen Tumorbehandlung "in Erwägung ziehen". Das ist alles, wenn man darüber hinwegsieht, dass in weiteren Punkten explizit darauf hingewiesen wird, dass es für konkrete Einzel- und Komplexmittel keine ausreichenden Daten für eine entsprechende Empfehlung gibt.
Um das mal in die richtige Perspektive zu rücken: Die Lebensqualität ist nur einer der insgesamt 32 in der Leitlinie im Zusammenhang mit Krebs behandelten Problemkreise, von "Angst/Ängstlichkeit" über "Mukositis" (Entzündung der Mundschleimhaut) und "Schmerz" bis zu "zerebralen Ödemen" (Schwellung des Gehirns). Für keines dieser Problemfelder sollte man also entsprechend der Leitlinie die Homöopathie auch nur "in Erwägung ziehen". Also findet sich über diesen einen Topic hinaus keinerlei Empfehlung dazu, über die Homöopathie als Krebstherapie oder zur Behandlung von Nebenwirkungen der konventionellen Behandlung auch nur nachzudenken. Lediglich bei der sicher sehr subjektiv bewerteten Lebensqualität wird die Homöopathie erwähnt, was vermutlich nicht mehr als den Effekt einer vorhandenen Homöopathie-Affinität der befragten PatientInnen widerspiegeln dürfte.
Mit der "Kann"-Empfehlung bei der Lebensqualität steht die Homöopathie auf dem gleichen Niveau wie etwa Meditation, Tai Chi oder Yoga. Das ist alles, was man der Homöopathie zutraut. Das soll eine leistungsfähige Therapieform sein, für deren Wirksamkeit umfassende wissenschaftliche Evidenz vorliegt, wie die Carstens-Stiftung und der Zentralverein homöopathischer Ärzte immer wieder gerne behaupten? Viel größer kann der Kontrast zu der üblicherweise behaupteten Wirksamkeit der Homöopathie bei Krebs doch gar nicht sein! Zumal die Autoren der Leitlinie auch die der "Empfehlung" zugrundeliegenden Studien durchaus kritisch gewertet haben.
Wenn das Erfolge sind – wie sehen denn dann Niederlagen aus?
Von den sechs gefundenen randomisierten Studien, in denen die Homöopathie im Zusammenhang mit Krebserkrankungen untersucht wird, wurden gleich fünf (!) wegen starker methodischer Defizite aussortiert, weil sie damit nicht als Grundlage für Leitlinienempfehlungen geeignet waren. Für die einzige verbliebene Studie (Frass, 2015) wurden ebenfalls zwei wichtige Kritikpunkte angeführt, die jeder für sich ein erhebliches Bias-(Verzerrungs)-Risiko darstellen.
Fazit: Sturm im Wasserglas
Die Leitlinie zieht insgesamt der Schluss, dass die "Aus-, Fort- und Weiterbildung auf diesem Gebiet (der evidenzbasierten komplementären Behandlung von Krebserkrankungen) gefördert und Versorgungsstrukturen verbessert werden sollten". Dies nun versuchen die Vertreter der Homöopathie auf sich zu beziehen – mit Recht? Nein. Denn diese eine kleine "Kann"-Empfehlung, eine absolute Marginalie im Gesamtkontext der Richtlinie, ist nicht mehr als ein Zugeständnis an die homöopathische Lobby, die es durchaus bis in die Leitlinienkommissionen schafft – aber sachlich nicht mehr ist als etwa der letzte ausgepresste Tropfen aus der Zitronenernte von ganz Sizilien.
Jeder mag sich nun selbst ein Bild davon machen, was die Homöopathen aktuell als "Evidenz" bejubeln und als Botschaft unters Volk zu bringen suchen.
Homöopathie ist nach wie vor außerstande, zu belegen, dass sie über Kontexteffekte hinaus (die bei jeder Behandlung oder Zuwendung auftreten) spezifisch arzneilich wirkt.
Zum Weiterlesen über Evidenz und wie sie sich begründet:
Christian W. Lübbers, Udo Endruscheit: Homöopathie – Eine Therapieoption für die Praxis? Bewertung unter dem Blickwinkel der evidenzbasierten Medizin. HNO 69, Mai 2021. DOI: 10.1007/s00106-021-01061-w. PMID: 34009440.
8 Kommentare
Kommentare
Udo Endruscheit am Permanenter Link
Der Denialismus, mit dem die homöopathische Interessengemeinschaft den längst gefestigten internationalen Konsens leugnet, dass Homöopathie keine medizinische Relevanz besitzt, verdient jeden Widerspruch.
In dem geschilderten Vorgang, dem völlig unreflektierten und kritiklosen Hochjubeln einer allein nach wie vor starkem Lobbyeinfluss geschuldeten völligen Marginalie, manifestiert sich dies überdeutlich. Wie lange wollen Gesetzgeber und Krankenkassen noch die schützende Hand über einen solchen Abgrund von Realitätsleugung halten und sich damit gemein machen?
Ich frag ja nur.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Dieses " Kann" wird schwerwiegende Folgen für krebskranke Patienten nach sich ziehen,
Die Folgen dabei sind dann meist irreparabel und eine evidente Heilungschance ist verspielt.
Udo Endruscheit am Permanenter Link
An sich ist das eben - eine Marginalie in der Leitlinie. Ein Nichts, und das sollte man gestandenen Medizinern in der Onkologie schon zutrauen, das richtig lesen zu können.
Der Skandal ist, dass die Realitätsleugner der homöopathischen Front das zur Evidenz hochjubeln und das auf den sozialen Medien publizieren - applausheischend. Nein, der Applaus möge ihnen verweigert werden. Was ihnen gebührt, ist die rote Karte wegen Unredlichkeit und Irreführung.
David Z am Permanenter Link
Das Wort "Homöopathie" hat genau die gleiche Berechtigung, in einer wissenschaftlich-medizinischen Schrift vorzukommen, wie der Begriff "Voodoo" - nämlich gar keine.
Momo am Permanenter Link
Die flächendeckende Verunglimpfung der Homöopathie scheint mittlerweile zum "guten Ton" zu gehören. Das ist beschämend.
Michael Fischer am Permanenter Link
"Wie die gute H. funktioniert, kann ich leider auch nicht erklären, aber ich weiß, dass sie es tut.."
Das nennt man Selbstbetrug. Sehr ausgeprägt bei religiösen Menschen und Esoterikern.
Norbert Aust am Permanenter Link
Wirklich erstaunlich, was die Verdunstungsrückstände von geschütteltem Wasser auf Zucker so zuwege bringen. Mein Tipp: Mit einem Schluck Leitungswasser erhalten Sie die gleichen "Wirkstoffe".
Petra Pausch am Permanenter Link
richtig. kostet aber weniger.