Das Auto-Imperium am Scheideweg

Nicht nur Produkte haben einen Lebenszyklus, sondern auch Unternehmen, Branchen und Strategien. Wer an der Spitze bleiben will, muss sich und sein Geschäftsmodell ständig neu erfinden. In einer schnelllebigen Technologiewelt kann jede falsche Weichenstellung, jeder verschlafene Trend den Untergang bedeuten. Egal wie groß, wie bedeutend, wie mächtig eine Firma einmal war. Aus der Geschichte von Kodak kann man viel lernen: es erkannte die Zeichen der Zeit erst als es zu spät war. Und auch die erfolgsverwöhnte deutsche Automobilindustrie ruht sich auf Lorbeeren von gestern aus. Die Zukunft deutscher Autobauer steht auf dem Spiel und damit viele Arbeitsplätze.

Mehr als ein Jahrhundert lang war Kodak, der Pionier und unumstrittene Markt- und Technologieführer bei massentauglichen Fotoapparaten und -filmen, für hunderte Millionen Menschen in aller Welt der Inbegriff von Fotografie. Noch Ende der 1990er Jahre setzte Kodak mit bis zu 145.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern weltweit Qualitätsstandards, war das viertteuerste Unternehmen und nicht mal zwei Jahrzehnte später insolvent. Wie kann es sein, dass eine Marken- und Unternehmensikone mit 131-jähriger Geschichte und lange Zeit höchst profitablem Geschäftsmodell, so schnell in der Bedeutungslosigkeit verschwindet?

Bereits 1877 vertrieb Nicolaus August Otto einen Viertakt-Motor mit Fremdzündung durch Zündkerzen, der später ihm zu Ehren als "Ottomotor" Eingang in die Geschichtsbücher fand. Seit 1886 bauten und verkauften Gottlieb Daimler und Carl Benz Viertakt-Ottomotoren. Am 27. Februar 1892 meldete Rudolf Diesel beim Kaiserlichen Patentamt zu Berlin ein Patent auf eine selbstzündende "Verbrennungskraftmaschine" an. 1897 war das erste funktionstüchtige Modell des Dieselmotors fertig. Seit dieser Zeit ist die Geschichte des Verbrennungsmotors untrennbar verbunden mit der Geschichte des Automobils.

Mercedes, BMW, Audi, Volkswagen und Porsche dominieren heute weltweit den Markt für Premiummodelle. Auf der ganzen Welt träumen unzählige Menschen davon, einmal im Leben ein deutsches Auto zu fahren. "Vorsprung durch Technik" war ein wichtiger Garant für die Erfolgsgeschichte deutscher Automobilbauer. Die Autobranche ist aufgrund ihrer wirtschaftlichen Bedeutung Deutschlands Leitindustrie. Doch in einer globalisierten Welt gibt es keine Komfortzonen, müssen Lorbeeren Tag für Tag neu erarbeitet werden, ist kein Konzern "too big to fail". Kodak ist dafür nur ein Beispiel.

Die Herausforderungen

Bereits 1975 hat Kodak die erste digitale Kamera entwickelt. Aber erst nach dem Einbruch im klassischen Geschäft versuchte es mit dieser Technologie eine breite Kundschaft zu erreichen. Der US-Kamerahersteller hatte die Entwicklung des digitalen Fotomarktes völlig verschlafen und schaffte dann den Umstieg nicht mehr. Er fiel seiner Unfähigkeit zum Opfer, aus eigenen Innovationen Kapital zu schlagen. 37 Jahre nachdem Kodak die erste Digitalkamera erfand musste das Unternehmen 2012 Insolvenz anmelden.

Elektromotoren emittieren keine schädlichen Abgase und erfüllen deshalb selbstredend ohne jegliche Mogelei alle Abgasnormen und zukünftige internationale Zielvorgaben für die Automobilindustrie. Doch was kostet das Ganze? Den Massenmarkt erreicht man nur über den Preis.

Die Kosten für die Batterieproduktion machen rund 35% bis 50% der Gesamtkosten eines Elektrofahrzeugs aus und sind seit 2010 um über 80% gefallen. Sie werden weiter fallen und auch der Skalierungseffekt bei der Herstellung von Elektrofahrzeugen wird diese immer günstiger machen. Unabhängig von der existenziellen Umweltdebatte wird in nicht allzu ferner Zukunft kein Weg an der Elektromobilität vorbeiführen. Mit ihrem Modell S rangiert Tesla/USA absatzmäßig schon heute in vielen Ländern vor den Luxuslimousinen aus dem Hause BMW und Mercedes. China, der mit Abstand größte Automarkt, setzt auf Elektromobilität. Und die Welt wird folgen. Die deutschen Autobauer müssen sehr zügig reagieren, soll das Autoerfinderland weiterhin an der Spitze stehen.

Dass im Juni dieses Jahres Tesla mit seiner Marktkapitalisierung bereits die beiden großen US-Autobauer Ford und General Motors überholte und - wenn auch nur kurz - am deutschen Schwergewicht BMW vorbeizog, zeigt die immer größer werdende Beliebtheit amerikanischer E-Autos und das große Vertrauen der Anleger in die Zukunft der Elektromobilität. Nach der erfolgreichen Einführung der Premiummodelle steht nun mit dem Tesla "Modell 3" der Eintritt in den Massenmarkt an. Während deutsche Hersteller mit Problembewältigung wie Diesel-Skandal und CO2-Ausstoß beschäftigt sind, positioniert sich Tesla als tonangebender Innovator.

Die Anpassungsschwierigkeiten

Dass Kodak die Anpassung an Marktveränderungen schwer gefallen ist soll nicht darüber hinweg täuschen, dass dieses Unternehmen oft neue Entwicklungen im Fotobereich angestoßen hat. Das klingt zunächst paradox, doch beides – die Anpassungsschwierigkeiten und die traditionelle Rolle als Markt- und Technologieführer – sind eng miteinander verknüpft. Kodak kommt aus der Fotochemie und hat über ein Jahrhundert lang auf diesem Gebiet Know-how akkumuliert und viel Geld damit verdient. So ist man seit den 1930er Jahren immer auf ganz ähnlichen Pfaden gewandelt und hat sich jeweils nur unwesentlich von den Produkten, Märkten und Technologien entfernt, mit denen man erfolgreich war. Auch dachte sein Management zu sehr in Kategorien einer veralteten Technologie. Für Kodak gab es keinen Anreiz dieses erfolgreich etablierte Geschäftsfeld zu verlassen, denn sie waren gut darin, was sie taten. Das große Erbe der Vergangenheit wurde letztlich zum Hemmschuh für die Anpassung an die Anforderungen der Gegenwart.

Ferdinand Piëch hat ganz wesentlich die deutsche Automobilindustrie geprägt. Nicht zufällig wurde er als "Dominator mit Benzin im Blut" bezeichnet: Er hat im VW-Konzern das Beschaffungswesen und die Produktion optimiert, kompromisslos mit großer Detailversessenheit die Technologieführerschaft angestrebt, weltweit Qualitätsstandards gesetzt, die Modellpalette erweitert, Audi zur Premium-Marke entwickelt und ist durch Zukäufe sowohl in die Nutzfahrzeugsparte als auch das Zweiradgeschäft eingestiegen. In allen dieser Geschäftsfelder setzte man auf Verbrennungsmotoren. Wie auch die anderen deutschen Automobilhersteller war der VW-Konzern sehr erfolgreich und profitabel. Alternative Antriebstechniken wie Elektromotoren wurden stiefmütterlich behandelt.

Elektroautos werden anders gebaut als Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor. Das stellt Hersteller und Zulieferer vor große Herausforderungen. Denn das Entwerfen der notwendigen neuen Fahrzeug-Konzepte und -Architekturen erfordert hohe Investitionen. Auch stellt sich die Frage, was aus den Produktionsanlagen wird, auf denen bislang die Bauteile für konventionelle Antriebe gefertigt werden. In einem Verbrennungsmotor kommen ca. 2.500 Teile zum Einsatz, in einem Elektromotor nur 250. Zylinderkurbelgehäuse, mehrstufige Getriebe, Kolben, Pleuel, Kurbelwellen, Partikelfilter, Abgasanlage, Dichtungen, Wälzlager, Antriebsriemen, Pumpen, Einspritzanlage, Motorelektrik und -elektronik, all diese Bauteile werden nicht mehr benötig. Ein großer Wertschöpfungsanteil entfällt, der nur zum Teil durch eine eigene Zell- und Batterieproduktion aufgefangen werden könnte, die bisher fast ausschließlich aus Korea und Japan stammen. Auch werden deutlich weniger Mitarbeiter benötigt als für den Bau eines Fahrzeugs mit Verbrennungsmotor.

Das Versagen

Kodak ist ein Fall fürs Lehrbuch. Es zeigt exemplarisch, dass viele Weltmarktführer von einst eines gemeinsam haben: Sie hatten ihre Zukunft selbst in der Hand. Sie alle verfügten bereits über die Technik, die ihnen schließlich zum Verhängnis wurde.

Große Umwälzungen stehen der Automobilindustrie bevor. Sie muss sich zügig auf die Zeit nach Verbrennungsmotoren einstellen. Doch mit dem Erfolg macht sich in vielen Chefetagen ein Gefühl der Unbesiegbarkeit breit, oft verbunden mit purer Arroganz, einer Kultur der Selbstzufriedenheit und Veränderungsresistenz. Kaum jemand rechnet in diesen Kreisen damit, von einem kleinen Unternehmen wie Tesla vom Markt gefegt zu werden. Dabei passiert das immer häufiger.

Was muss Politik tun, was muss sie unterlassen?

Die Bundesregierung hat in ihrem Nationalen Entwicklungsplan festgeschrieben, dass Deutschland weltweit zum "Leitanbieter für Elektromobilität" werden soll. Dazu bedarf es großer Anstrengungen die von geeigneten regulatorischen Rahmenbedingungen flankiert werden müssen. Internationale Standards für Ladeinfrastrukturen müssen sicherstellen, dass Elektromobilität länderübergreifend Realität wird. Es müssen Wege gefunden werden, wie diese Infrastruktur in den öffentlichen Raum integriert werden kann. Hier geht es um die bestmögliche Verknüpfung mit neuen öffentlichen Verkehrs- und Versorgungskonzepten, die auch staatliche Investitionen beim Aufbau dieser Infrastruktur unausweichlich machen.

Die Automobilkonzerne müssen in die Pflicht genommen werden, von den gesundheits- und umweltschädlichen Verbrennungsmotoren baldmöglichst auf emissionsfreie Antriebssysteme umzusteigen. Dass Elektromobilität in naher Zukunft zu einem beherrschenden Thema und den Verbrennungsmotor ablösen wird, ist seit Jahren abzusehen. Deutsche Automobilkonzerne versuchen diesen Trend zu verzögern und werden dabei von der Bundesregierung unterstützt. Sie ist in einer unheimlichen Allianz aus Automobilindustrie und staatlicher Aufsicht verstrickt. Dies hat den wirtschafts- und umweltpolitischen Sündenfall des Diesel-Skandals erst möglich gemacht: Die Behörden haben nicht so genau hingesehen und die Hersteller haben das rechtlich Mögliche sehr weitgehend interpretiert.

Und es geht noch weiter: Bereits im April 2010 hat sich die Bundeskanzlerin in Kalifornien für eine Erhöhung der Stickoxidgrenzwerte eingesetzt. 2013 blockierte sie nach massivem Druck der deutschen Autoindustrie schärfere CO2-Regeln in der Europäischen Union. Vier Jahre später, im Frühjahr 2017, erreichte die Diesel-Affäre die Spitzenpolitik. Die engen Verbindungen der Bundesregierung zu den Konzernen nähren den Verdacht, dass Kanzleramt und Verkehrsministerium bei der Kontrolle der strengen Abgasgrenzwerte lieber wegschauten, um die Autoindustrie zu schonen. Am 2. August 2017 traf sich die Politik mit den verantwortlichen Automobil-Managern zum Diesel-Gipfel um einen Aktionsplan zu beschließen, wie Fahrverbote in Innenstädten zu vermeiden sind. Die Gipfel-Ergebnisse sind ein ökologisches und industriepolitisches Desaster. Die Automobil-Manager diktierten der Regierung die zu ergreifenden Maßnahmen.

Die Drehtür zwischen Konzernen und Kanzleramt dreht sich unter Merkel wie geschmiert. Namen wie Matthias Wissmann, Eckhard von Klaeden und Günther Oettinger – um nur einige wenige zu nennen – stehen für die personelle Verflechtung von CDU und Auto-Lobbyismus. Doch der wohl einflussreichste Lobbyist saß bis vor wenigen Wochen als Bundesverkehrsminister am Kabinettstisch von Merkel: Alexander Dobrindt (CSU). Die "Klima-Kanzlerin" lässt sich immer wieder für die Konzerninteressen von Daimler, BMW und Volkswagen funktionalisieren und torpedierte damit die EU-Klimapolitik. Ein Schelm der Böses dabei denkt, wenn die CDU immer wieder Großspenden aus der Automobilbranche erhält.

Die ökologische Herausforderung

Im Jahr 2008 lebten weltweit erstmals mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Die Urbanisierung wird weiter fortschreiten. Das stellt die Gesellschaft vor große Herausforderungen. Wie können der Mobilitätsbedarf der Menschen und die Warentransporte in der Stadt sichergestellt und gesundheitliche Risiken für Mensch und Natur reduziert werden? Der fetischisierte Individualverkehr, das eigene Auto als Statussymbol vor der Haustür, hat wesentlich zur Zerstörung unseres Ökosystems beigetragen. Es ist an der Zeit, die Funktionsfähigkeit der verbliebenen natürlichen Ökosysteme zu schützen und die zerstörten Ökosysteme wieder herzustellen. Dazu muss auch die Automobilbranche einen Beitrag leisten. Autos müssen zu Dienstleistern für Mobilität werden.

Das Auto im Zeitalter der Digitalisierung

Die Elektromobilität ist nur eine der großen Herausforderungen. Auch Fahrassistenzsysteme und "Big Data" werden das Automobil radikal verändern. Anders als noch vor ein paar Jahren wird Software verstärkt in den Fokus rücken. Durch die Erfassung, Analyse und Übermittlung von während der Fahrt gewonnenen Daten kann der Verkehr durch einen Ampelphasenassistenten optimiert werden. Doch es geht nicht nur um die Vernetzung von Autos untereinander, sondern auch um die Vernetzung mit der Verkehrswege-Infrastruktur, mit dem öffentlichem Nah- und Fernverkehr, mit Fahrradverleihsystemen und Carsharing-Diensten. Mobilitäts-Apps ermöglichen situationsabhängige Verkehrsmittel- und Routenwahl und somit eine bessere und einfachere Verknüpfung der verschiedenen Verkehrsträger.

Fazit

Wir erleben gerade eine spannende Zeit in der Automobilindustrie. Erfolg, wenn nicht gar das ökonomische Überleben, hängen in diesem Umfeld maßgeblich davon ab, ob ein Unternehmen Innovationen gegenüber aufgeschlossen ist. Technologisch in der Spitzengruppe mitzuspielen ist ebenso bedeutsam wie der rechtzeitige Markteintritt mit innovativen Produkten. Ökologisch notwendige regulatorische Rahmenbedingungen können zu Markteintrittsbarrieren führen. Schon heute haben Länder wie China, Indien, Großbritannien, Frankreich, die Niederlande und Norwegen den Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor beschlossen.

Neue Player dringen auf den Markt. Mehr als ein Drittel der Patente zum autonomen Fahren wurden von Hightech-Unternehmen wie Google, Apple, Facebook, Microsoft, Amazon und Uber angemeldet. Und Tesla liefert mit seinen Fahrzeugen die Blaupause für künftige Automobile.

Doch sind die Granden der deutschen Automobilindustrie auf diese Herausforderungen vorbereitet? Die großen Automobilkonzerne zeigen durch ihren zaghaften Einstieg in die Elektromobilität, dass sie damit hadern, sich von alten Technologien zu verabschieden, mit denen sie so viele Jahre erfolgreich waren.

Auch die Zulieferindustrie muss sich neuen Herausforderungen stellen. Doch gerade deutsche Mittelständler sind seit Jahrzehnten vital und lernfähig. Sie verbessern ständig ihre Produkte, Prozesse, Denkweisen und Unternehmenskultur. So gestalten sie aktiv den Wandel selbst, dessen Opfer sie sonst werden könnten.

Politik darf sich nicht zum Sprachrohr von rückwärtsgewandten Konzern-Strategien machen und für kurzsichtige Profit-Interessen einspannen lassen. Sie muss im Interesse der Menschen gestaltend eingreifen. Innovationsresistente Unternehmen können durch regulatorische Rahmenbedingungen gezwungen werden, sich Zukunftstechnologien zu öffnen. Auch durch Anreizsysteme für Käuferinnen und Käufer kann die traditionelle Schlüsselindustrie Automobilbau motiviert werden, sich dem Wandel rechtzeitig zu stellen.

Der Umstieg von Verbrennungsmotoren auf Elektromobilität kann zigtausende Arbeitsplätze kosten. Dies kann – zumindest teilweise – durch den Aufbau einer Zell- und Batterieproduktion in Deutschland aufgefangen werden. Doch das Festhalten am Verbrennungsmotor wird unweigerlich zur Verlagerung von hunderttausenden Arbeitsplätzen in andere Länder führen.

"Vorsprung durch Technik" ist auch morgen unsere einzige Chance. Spätrömische Dekadenz in Vorstandsetagen und an Kabinettstischen wird unser Auto-Imperium in die wirtschaftspolitische Bedeutungslosigkeit führen.