Berliner Neutralitätsgesetz – Kippt es oder bleibt es?

Initiative "PRO Berliner Neutralitätsgesetz" formiert sich

In Berlin organisiert sich zivilgesellschaftlicher Widerstand gegen die Pläne der Koalitionsfraktionen GRÜNE und LINKE, das bundesweit einzigartige Berliner Neutralitätsgesetz zu beseitigen. Einzigartig ist das Gesetz, weil es sämtliche Religionen und Weltanschauungen im Öffentlichen Dienst gleichbehandelt und keine religiösen Symbole zulässt – ohne Bonus für die christliche Religion. Die Spitzen der beiden Koalitionsparteien wollen – ohne parteiinterne Diskussionen und gegen den anhaltenden Widerstand der SPD – religiöse Symbole bei Lehrerinnen und Lehrern an Allgemeinbildenden Schulen zulassen.

Dagegen formiert sich aus dem gesellschaftlichen Spektrum von links bis Mitte Widerstand. Die Initiative PRO Berliner Neutralitätsgesetz hat einen Aufruf zum uneingeschränkten Erhalt des Neutralitätsgesetzes formuliert, der mittlerweile – in nur zwei Wochen – nach den Erstunterzeichnern von rund 300 weiteren Personen unterschrieben worden ist.

Die Sprecher der Initiative (Michael Hammerbacher, Ulla Widmer-Rockstroh und Walter Otte) schreiben auf der im Aufbau befindlichen Website:

In Berlin leben Menschen aus über 190 Nationen und vielen unterschiedlichen Sozialisationen und Kulturen zusammen. Dies sehen wir als Bereicherung und zugleich als eine große Herausforderung an. Zusammenleben in Vielfalt gelingt nur dann, wenn wir die Vielfalt der Lebensentwürfe und Religionen / Weltanschauungen, die Individualität aller BewohnerInnen akzeptieren und für eine demokratische Stadtkultur eintreten.

Dazu bedarf es religiös und weltanschaulich neutraler staatlicher Institutionen. Das Berliner Neutralitätsgesetz leistet einen wichtigen Beitrag zur friedlichen Gestaltung von Vielfalt: es garantiert staatliche Neutralität da, wo Menschen der Staatsgewalt nicht ausweichen können, sei es vor Gericht, bei der Polizei, im Justizvollzug oder an allgemeinbildenden Schulen. RichterInnen, StaatswältInnen, JustizmitarbeiterInnen, PolizistInnen sowie LehrerInnen und PädagogInnen an allgemeinbildenden Schulen dürfen keine politisch, religiös oder weltanschaulich geprägten Symbole demonstrativ tragen.

Diese Regelung ist für den gesellschaftlichen Frieden in einer Stadt wie Berlin mit über 250 Religions‐ und Weltanschauungsgemeinschaften und mit einem Anteil von über 60 Prozent konfessionsloser Menschen an der Gesamtbevölkerung unabdingbar. Das Berliner Neutralitätsgesetz verdient Unterstützung, auch weil es alle Religionen und Weltanschauungen gleich behandelt.

Die Diskussionen in den vergangenen Monaten zeigen einen breiten zustimmenden Konsens pro Neutralität für die Bereiche der Justiz und der Polizei.

Dieselben Maßstäbe müssen aber auch für die allgemeinbildenden Schulen gelten. Dort steht das Berliner Neutralitätsgesetz politisch unter Druck."

In einem Brief an den Berliner Regierenden Bürgermeister Müller, der dem hpd vorliegt, haben die Sprecher den politischen Standort der Initiative betont und hervorgehoben: "Besonderen Wert legen wir darauf, rassistisch und islamophob geprägten Ressentiments unmissverständlich entgegen zu treten. Wir sagen deutlich: das Grundrecht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit gilt uneingeschränkt auch für Musliminnen und Muslime in Deutschland!"

Zu den Erstunterzeichnern der Initiative (siehe Anlage) gehören u.a. die beiden Sprecher der "Bundesarbeitsgemeinschaft Säkulare Grüne", Diana Siebert und Walter Otte, Mina Ahadi, Seyran Ates, Dr. Lale Akgün, Helmut Fink, Dr. Ralph Ghadban, Manfred Isemeyer, Dr. Necla Kelek, Silvia Kortmann, Prof. Dr. Helmut Kramer, Ahmad Mansour, Ingrid Matthäus-Maier, Volker Panzer, Peter Schaar, Alice Schwarzer sowie auch der Chefredakteur des hpd, Frank Nicolai.

Aus Kreisen der Initiative verlautet, dass zu den weiteren Unterzeichnern u.a. Michael Sommer (ehem. Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Anetta Kahane (Menschenrechtsaktivistin gegen Rechtsextremismus und Rassismus, Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung), Michael Grunst (DIE LINKE, Bezirksbürgermeister von Lichtenberg), Prof. Dr. Susanne Schröter(Direktorin des "Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam"), Birgit Ebel (Mitgründerin der Herforder Präventionsinitiative "extremdagegen!"), Daniela von Treuenfels (Herausgeberin von berlin-familie.de), Uwe Dähn (ehem. Bezirksstadtrat und Mitglied des Abgeordentenhauses für die Grünen-Fraktion), Caren Marks (SPD-Bundestagsabgeordnete), Jan Feddersen (Vorsitzender des Vereins "initiative queer nations e.v."), Pawel Feinstein (Kunstmaler), Rebecca Sommer, Ehemalige Vertreterin bei den Vereinten Nationen für Menschenrechte und Indigene Völker (mit ECOSOC Status), Politiker von SPD und Grünen sowie Personen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen gehören.

Der hpd wird über den Fortgang der Initiative berichten.


Erklärung der Initiative "PRO Berliner Neutralitätsgesetz"

In Berlin leben Menschen aus über 190 Nationen und vielen unterschiedlichen Sozialisationen und Kulturen zusammen. Dies sehen wir als Bereicherung und zugleich als eine große Herausforderung an. Zusammenleben in Vielfalt gelingt nur dann, wenn wir die Vielfalt der Lebensentwürfe und Religionen / Weltanschauungen, die Individualität aller BewohnerInnen akzeptieren und für eine demokratische Stadtkultur eintreten. Dazu bedarf es religiös und weltanschaulich neutraler staatlicher Institutionen.

Das Berliner Neutralitätsgesetz leistet einen wichtigen Beitrag zur friedlichen Gestaltung von Vielfalt: es garantiert staatliche Neutralität da, wo Menschen der Staatsgewalt nicht ausweichen können, sei es vor Gericht, bei der Polizei, im Justizvollzug oder an allgemeinbildenden Schulen. RichterInnen, StaatswältInnen, JustizmitarbeiterInnen, PolizistInnen sowie LehrerInnen und PädagogInnen an allgemeinbildenden Schulen dürfen keine politisch, religiös oder weltanschaulich geprägten Symbole demonstrativ tragen. Diese Regelung ist für den gesellschaftlichen Frieden in einer Stadt wie Berlin mit über 250 Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und mit einem Anteil von über 60 Prozent konfessionsloser Menschen an der Gesamtbevölkerung unabdingbar. Das Berliner Neutralitätsgesetz verdient Unterstützung, auch weil es alle Religionen und Weltanschauungen gleich behandelt.

Die Diskussionen in den vergangenen Monaten zeigen einen breiten zustimmenden Konsens pro Neutralität für die Bereiche der Justiz und der Polizei. Dieselben Maßstäbe müssen aber auch für die allgemeinbildenden Schulen gelten. Dort steht das Berliner Neutralitätsgesetz politisch unter Druck.

Die UnterzeichnerInnen dieser Erklärung möchten die Berliner Bildungsverwaltung dabei unterstützen, an diesem erfolgreichen Gesetz - auch und gerade für die allgemeinbildenden Schulen - mit aller Konsequenz festzuhalten.

Für die Beibehaltung der Regelungen im Berliner Neutralitätsgesetz für die allgemeinbildenden Schulen mit rund 320.000 SchülerInnen an etwa 800 Schulen sprechen eine Reihe guter Gründe:

Der staatliche Erziehungsauftrag nach dem Berliner Schulgesetz kann nur dann erfüllt werden, wenn die weltanschaulich-religiöse Neutralität und der Schutz der negativen Glaubensfreiheit der SchülerInnen lückenlos garantiert sind. PädagogInnen, die in der Schule religiöse oder weltanschauliche Symbole tragen, gewährleisten diese Neutralität nicht.

Das SchülerInnen-PädagogInnen-Verhältnis ist ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis. Die PädagogInnen befinden u.a. über die Versetzung und einen erfolgreichen Schulabschluss. Sie sind in der Schule Autoritätspersonen mit einem starken Einfluss auf die Schutzbefohlenen. Ihnen kommt eine Vorbildfunktion zu. Von religiös bestimmter Bekleidung geht - auch abhängig von dem Alter der betroffenen SchülerInnen - eine appellative Wirkung aus.

In zunehmendem Maße werden muslimische SchülerInnen von MitschülerInnen, aber auch aus Moscheen heraus, unter Druck gesetzt, das Kopftuch zu tragen oder andere religiös motivierte Verhaltensvorgaben (etwa Einhaltung der Fastenvorschriften) zu befolgen. Ein solcher Druck würde sich durch eine religiöse Bekleidung der Lehrkräfte erhöhen. Als VertreterInnen des Staates würden diese Lehrkräfte dabei eine eindeutig bejahende Haltung zu einer bestimmten Auslegung des Korans ausdrücken. Auch wenn die einzelne Pädagogin nicht religiös beeinflussen will, kann bereits ihr Erscheinungsbild einen subtilen Druck ausüben. Gerade die jungen Grundschulkinder sind besonders beeinflussbar. Die bereits gegenwärtig schon auftretenden Konflikte an vielen Schulen in der Stadt um das "richtige" islamische Verhalten und die "richtig" islamische Bekleidung würden dadurch zusätzlich verstärkt. Eine konkrete Gefährdung des Schulfriedens ist in Berlin schon jetzt gegeben.

Es existieren auch Spannungen zwischen religiösen Gruppen untereinander. Wir dürfen außerdem nicht verschweigen, dass es ein Interesse von konservativen religiösen und islamistischen Kräften gibt, das Berliner Neutralitätsgesetz abzuschaffen.

Das Berliner Neutralitätsgesetz bringt Einschränkungen für Frauen, die das Kopftuch tragen wollen, aber auch für andere Menschen, die im Dienst religiöse Symbole tragen wollen. Es geht bei der Umsetzung staatlicher Neutralität nicht um eine Missachtung der Religionsfreiheit, sondern um Grenzen der Religionsfreiheit, die den Betroffenen lediglich eine räumlich und zeitlich eng gefasste Zurückhaltung während der Ausübung einer Tätigkeit im Öffentlichen Dienst abverlangt. An Berufsschulen ebenso wie an religiös ausgerichteten Privatschulen dürfen in Berlin LehrerInnen religiöse oder weltanschauliche Symbole tragen, darunter auch das Kopftuch. Von einem "Berufsverbot" kann deswegen nicht gesprochen werden.

Wir bewerten die Neutralitätspflicht des Staates, die negative Religionsfreiheit von 340.000 SchülerInnen und deren Eltern und den gesellschaftlichen Frieden in der Stadt höher, als die Einschränkungen der Religionsfreiheit durch das Berliner Neutralitätsgesetz in einem sehr engen Bereich.

Wir möchten mit unserer Initiative einen Beitrag leisten, das Berliner Neutralitätsgesetz zu erhalten. Unser Ziel ist es, damit den gesellschaftlichen Frieden und Zusammenhalt in unserer Stadt und seinen Schulen zu stärken.

Berlin, 21.11.2017

(die Liste der ErstunterzeichnerInnen in der Anlage)


Siehe dazu auch im hpd:

Der Fehlschluss des Berliner Integrationsbeauftragten

Kopftuchstreit bei den Grünen

Webseite der Initiative: pro.neutralitaetsgesetz.de /
Facebook: www.facebook.com/InitiativeProBerlinerNeutralitaetsgesetz/