Ein Artikel im Berliner Tagesspiegel stellt die Rechtslage in Sachen Berliner Neutralitätsgesetz nicht nur schief und verzerrt dar, sondern fällt auch durch einen Mangel an Kenntnis der Schulpraxis auf. Zudem beleidigt er die Mitglieder der Initiative "Pro Berliner Neutralitätsgesetz" und unterstellt ihnen, ihr eigenes Wertesystem über das der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu stellen.
Auf den Artikel von Lehming hat (nach Jürgen Roth) nun auch Ulla Widmehr-Rockstroh von der Initiative "Pro Berliner Neutralitätsgesetz" in Form eines offenen Briefes reagiert:
Sehr geehrter Herr Lehming!
Ich trage die Initiative zum Erhalt des Berliner Neutralitätsgesetzes als ehemalige Grundschullehrerin in Berliner Grundschulen mit, ebenso wie ich mit anderen KollegInnen im April 2017 bereits einen entsprechenden Appell an den Berliner Senat adressiert hatte.
Nein, wir sind keine "Fundamentalisten" und wir stellen kein "eigenes Wertesystem über das unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung" und unsere Verfassung. Das ist simple Polemik, Herr Lehming!
Die religiöse Neutralität in unseren Schulen, die wir als PädagogInnen zeigen müssen, ist in Deutschland lange erkämpft und uns ein hohes, zu bewahrendes Gut gerade im Interesse unserer demokratischen Grundordnung; und vor allem auch, um damit unsere SchülerInnen zu schützen.
In Auseinandersetzungen zwischen katholischer und evangelischer Glaubensausübung wurde früher bei uns Druck auf Kinder ausgeübt, jetzt wiederholt sich das in der muslimischen Community. Das erleben wir PädagogInnen in den Schulen ständig und zunehmend, insbesondere in den Bezirken, in denen viele (Grund-)Schulen weit über 50 % SchülerInnen aus muslimischen Familien mit Migrationshintergrund haben. Nur ein paar Beispiele aus dem täglichen Schulleben, allein zur Symbolik und Bedeutung religiös bestimmter Kleidung (Kopftuch):
- Immer mehr Mädchen müssen, sogar bereits ab dem 1. Schuljahr, auf Wunsch ihrer Eltern Kopftuch und lange Kleider tragen, weil nur das "anständig" und "züchtig" ist;
- Mädchen werden von Mitschülern als "Schlampe" und "Hure" beschimpft, wenn sie sich nicht so kleiden;
- Mädchen werden von Mitschülern, Brüdern, Nachbarn bei den Eltern verpetzt, wenn sie das Kopftuch ablegen (wollen) bzw. fürchten diesen Community-Druck – die Kinder erlernen also frühzeitig Hinterhältigkeit und Misstrauen;
- Mädchen erzählen, dass sie Kopftuch tragen, weil der Vater ihnen monatlich beträchtliche Geldsummen dafür zahlt;
- SchulleiterInnen werden um Umschulung gebeten, weil das Kind auf der anderen (Grund-) Schule den Druck (konservativer) muslimischer Mitschüler nicht mehr erträgt (Kleidung, Fasten usw.);
- LehrerInnen werden von muslimischen Jungen verächtlich als "Ungläubige" bezeichnet, was man ja allein schon an der Kleidung sehe.
Die Beispiele können erweitert werden.
Was bewirkt in diesem Klima eine Pädagogin, die ebenfalls demonstrativ Kopftuch oder ein weiteres religiös motiviertes Kleidungsstück trägt? Und was sollen diese Kleidungsstücke grundsätzlich und durch die Pädagogin signalisieren?
PädagogInnen sind Orientierungs-Modelle für ihre SchülerInnen. Eine Kopftuch oder Tschador tragende Pädagogin demonstriert ihre orthodoxe Glaubenseinstellung und damit die Einstellung gleichgesinnter Eltern und ihrer Kritik an Musliminnen, die sich "nicht züchtig" verhüllen. Hier erfolgt subtiler Druck, auch wenn diese Pädagoginnen nicht missionieren wollen.
Ich kenne das "Gegenargument", dass gerade Musliminnen, die Kopftuch tragen, "vermittelnd" gegenüber orthodox religiösen Familien auftreten können. Soll das heißen, dass ich als nicht religiös erkennbare Pädagogin meine Nichtachtung durch diese Familien akzeptieren soll?
Herr Lehming, Sie kennen die Schulwirklichkeit nicht, die sich gerade in den letzten Jahren gewaltig geändert hat, gerade in stark oder mehrheitlich muslimisch geprägten Schulen – eine zunehmende Entwicklung in Richtung religiöser Einseitigkeit und gerade nicht in Richtung Aufgeschlossenheit, Toleranz und gegenseitigen Respekts. Es ist doch interessant, dass sich gerade PädagogInnen aus den Brennpunktbezirken mit ihrer Unterschrift für den Erhalt des Neutralitätsgesetz einsetzen.
Und Sie machen sich leider auch keinerlei Gedanken um die Gefühlslage und die Rechte der Kinder, die unter religiös motiviertem Druck aufwachsen müssen. Über diese Kinderrechte wird im Kontext der Debatte leider allzu oft gar nicht gesprochen!
Ulla Widmer-Rockstroh
Berlin-Wilmersdorf
Grundschullehrerin (i.R.)
Erstveröffentlichung: http://pro.neutralitaetsgesetz.de
12 Kommentare
Kommentare
Dr. Bruno Osuch am Permanenter Link
Liebe Kollegin
Ich danke Dir ganz herzlich für Deine klaren Worte. Wollen wir hoffen, dass sie der Tagesspiegel auch veröffentlicht.
Mit besten Grüßen
Dr. Bruno Osuch
Ilse Ermen am Permanenter Link
Das ist zu erwarten, denn an und für sich führt der Tagesspiegel eine sehr offene Diskussion zum Thema Islam, der Artikel ist eher die Ausnahme; die Reaktionen der Leserschaft darauf waren gesalzen
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Ich fürchte, Herr Lehming kennt nicht nur den Schulalltag nicht, er interessiert ihn auch nicht. Der Schulalltag könnte sein hübsches ideologisches Gedankengebäude rissig werden lassen. Und die Kinder?
Udo Endruscheit am Permanenter Link
Das Neutralitätsgesetz fasst nur noch einmal freiheitlich-demokratisch-verfassungsmäßige Selbstverständlichkeiten in Worte. Dass für dessen Erhaltung gekämpft werden muss, ist haarstäubend.
Juana Buchholz am Permanenter Link
Diese Lehrer bedaure ich sehr
Es ist nicht mehr erträglich was sie Tag täglich über sich ergehen lassen müssen
Äußern nur Systemkonform
Lehrer sollten sich zusammenschließen bevor es zu spät ist!
Muriel am Permanenter Link
Ich finde diesen Kommentar jetzt noch unsympathischer und taktloser als den vorherigen.
Schade, dass ihr Humanismus nicht ein bisschen vorbildlicher lebt.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
"Die Implikation, dass der Druck von christlichen Gemeinschaften früher ausgeübt wurde, dass das heute aber nur noch von muslimischer Seite komme, ist absurd und grenzt an Rassismus, ..."
In welchem Wolkenkuckucksheim leben Sie denn?
Sie sollten mal etwas ältere Menschen fragen, wie es z.B. in den 50er-Jahren des 20. Jh. war, wenn eine Katholikin einen Protestanten heiraten wollte. Damals begann die Ökumene, um Details beim Abendmahl zu klären - was bis heute nicht gelungen ist, weil jeder seine eigene Wahnvorstellung für die einzig richtige hält.
Und noch eine Anmerkung: "Islam" ist keine Rasse, sondern eine Religion und die hinkt in der Tat dem inzwischen weichgespülten Christentum um einige Jahrhunderte hinterher. Dessen veraltetes tribalistisch-patriarchales Gesellschaftmodell ist nun mal nicht gegenwartstauglich, wenn wir eine friedliche UND pluralistische Gesellschaft wollen. Kritik an der islamischen Ideologie ist also antirassistisch, weil sie die religiös geforderte Ausgrenzung von Menschen anprangert.
Im Übrigen gibt es nur eine einzige "Menschenrasse", den Homo sapiens sapiens. Gerade der letzten beiden Begriffe unserer Speziesbezeichnung sollten sich mal nach und nach alle Mitbewohner der Erde würdig erweisen...
Lexi am Permanenter Link
Inwiefern absurd? Ist es denn falsch, dass Schüler und Eltern mit muslimisch-orthodoxer Einstellung Druck auf andere Schüler ausüben?
Muriel am Permanenter Link
Ich erläutere das gerne.
Es mag so sein, dass muslimische Eltern im Schnitt häufiger fundamentalistisch sind als christliche. Es mag auch nicht so sein. Wäre aber meines Erachtens nicht mal eine besonders interessante Frage, gerade weil Religionen so vielfältig sind. Der IS-Kämpfer nennt sich Muslim, und meine Arbeitskollegin nennt sich auch Muslimin. Was die beiden glauben, hat wenige inhaltliche Gemeinsamkeiten. So wie es wohl auch bei dem KKK-Mitglied aus Missouri und dem Rap Critic ist, auch wenn sie sich beide Christen nennen.
Ich werfe dem Text da oben vor, einseitig gegen Menschen muslimischen Glaubens zu agitieren und damit das Narrativ zu unterstützen, das auch AfD, PEGIDA, CSU und all so unappetitliche Vereinigungen verbreiten wollen.
Ergibt das Sinn für dich?
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Es ist ja richtig, dass Religionen - oft sogar ein und dieselbe Religion - in unterschiedlicher Intensität auftreten und gelebt werden.
Doch dieser Satz:
"Der IS-Kämpfer nennt sich Muslim, und meine Arbeitskollegin nennt sich auch Muslimin. Was die beiden glauben, hat wenige inhaltliche Gemeinsamkeiten."
stimmt so nicht.
Schließlich haben Religionen ein gemeinsames Fundament. Christentum und Islam entstammen dem Judentum und unterscheiden sich im Wesentlichen durch ihr sogenanntes "heiliges" Buch. Dabei ist der Islam bis heute deutlich restriktiver, was den Umgang mit diesem Buch betrifft.
Während Christen heute die Bibel frei interpretieren (dürfen), ist dies dem Moslem in Bezug auf den Koran verboten. Dort ist jeder Zweifel untersagt. Ich könnte hier aus aktuellen Broschüren, die beim diesjährigen Neujahrsempfang der Stadt Mannheim von Moscheegemeinden offiziell verteilt wurden, zitieren, doch das ist zu umfangreich.
Somit ist die ideologische Basis für die friedliebende Muslimin die gleiche wie für den IS-Kämpfer. Der Trick der aus innerer Überzeugung Friedliebenden ist es, die Hass-Stellen des Korans geistig auszublenden, was ihnen eigentlich verboten ist. Man verwendet dabei Begriffe wie "zeitliche Kontextualisierung", um zu erklären, dass diese Hass-Stellen ja nur für die Kriegszeit im 7. Jh. galten.
Dieser Umgang mit dem Koran ist ja begrüßenswert, doch er ist gemäß der islamischen Lehre verboten, da der Koran in seiner Gänze der "Mutter der Schrift" entsprungen sei (übermittelt durch Erzengel Gabriel) und Allahs letztes ewig gültige Wort darstellt. Mit dieser Sichtweise auf den Koran, der keine Rechtsschule widerspricht, darf ein gläubiger Moslem keine Stelle des Buches "ausblenden".
Streng genommen handelt der IS-Kämpfer sogar mehr nach dem Geist des Korans als eine friedliebende Muslimin, die den Koran nur noch bruchstückhaft zur Grundlage ihrer religiösen Praxis macht.
Es wäre begrüßenswert, wenn eine öffentliche Ächtung der Hass-Stellen des Korans durch islamische Verbandsvertreter zu hören wäre und nicht nur die ewig gleichen Beschwichtigungen. Das würde es vielen Muslimen leichter machen, den Koran ebenfalls und mit gutem Gewissen nur noch selektiv zu lesen. Erst, wenn dies auf höchster Ebene in allen islamischen Ländern geschehen ist, kann man davon sprechen, dass IS-Kämpfer keine "inhaltlichen Gemeinsamkeiten" mit friedlichen Muslimen haben.
Doch diese Revolution im Islam ist leider nicht in Sicht. Dass dies AfD-ler schamlos für sich ausnutzen und populistische Werbung machen, ist traurig, aber nicht zu verhindern...
Karl-Heinz Büchner am Permanenter Link
Sie müssen mal Ihr Fremdsprachenvokabular erweitern. Was Sie Rassismus nennen, heißt in Wirklichkeit Realismus und was Sie Humanismus nennen, kann ich nur erahnen.
Überhaupt gewinnt man den Eindruck, Sie verkündeten hier nur, was Sie NICHT wollen. Lassen Sie uns döch einmal wissen, was Sie wollen!
R. Plaumann am Permanenter Link
Das hier skizzierte Bild von Frau Widmehr-Rockstroh ist nicht neu. Schon seit vielen Jahren haben einige Experten auf eine zunehmende religiöse Gettoisierung in einigen Teilen der Gesellschaft hingewiesen.
Hier wächst nun die nächste Generation heran, die die ersten ideologischen zarten Pflänzchen einer Religion in sich tragen. In dem „Tatsachenbericht“ erfahren wir von Kindern (und von Eltern), die, vorsichtig ausgedrückt, ein verzerrtes Menschenbild verinnerlicht haben. Selbstbestimmung, Respekt vor dem Anderen und menschenfreundliche Umgangsformen sind offensichtlich Fremdworte. Ein humaner Minimalkonsens des Zusammenlebens ist nicht zu erkennen (Ich vermute, dass die Situation in den weiterführenden Schulen ähnlich aussehen wird). Dies ist also der „Wertekanon“ von einigen Kindern (vor allem männlichen Geschlechts), die in Zukunft das Bild von Berlin maßgeblich mit prägen werden. Wie werden diese Heranwachsenden zukünftig ihre Religionsfreiheit ausüben bzw. ihre kulturellen Traditionen ausleben? Werden sie sich als Erwachsene an rechtsstaatlichen Prinzipien halten oder „archaische Traditionen“ (s.o.) fortsetzen?
Nein, das ist nicht hinnehmbar! Das Land Berlin steht vor einer Herkulesaufgabe, in der alle Verantwortlichen und Entscheidungsträger in Politik, Justiz etc. - vor allem aber in den Bildungseinrichtungen - endlich gemeinsam an einen Strang ziehen müssen, um einem inhumanen Kanon entgegenzuwirken, der unsere freiheitlich-demokratischen Grundordnung bedroht.
Schulen sind daher die wichtigen Orte, in denen sich Kinder, unabhängig von Geschlecht, kultureller Herkunft und religiöser Weltanschauung, selbstbewusst entwickeln müssen. Hier erfahren sie u.a. die Wertevermittlung, die unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung ausmachen. Für diesen Unterricht sind daher Lehrer*innen mit einer neutralen Weltanschauung unerlässlich, die nicht durch ihre eigene Konfession eingeschränkt sind.
Abschließend bleibt nur zu hoffen, dass die kompetenten und engagierten Lehrer*innen in Berlin die kognitiven Dissonanzen der Kleinen abmildern können. Ich wünsche allen, die im Bildungsbereich unterwegs sind viel Kraft und Erfolg und die notwendige Unterstützung durch Verantwortliche und Gesellschaft. Es gibt also viel zu tun.