Am morgigen Donnerstag wird der Deutsche Bundestag über die Abschaffung des Straftatbestands der "Werbung für den Schwangerschaftsabbruch" (§ 219a StGB) debattieren. Die Giordano-Bruno-Stiftung würde es sehr begrüßen, "wenn dieser alte, noch aus der Nazizeit stammende Paragraph fällt", sagt gbs-Sprecher Michael Schmidt-Salomon. "Doch diese Streichung allein würde die weltanschauliche Schieflage in der Gesetzgebung nicht beseitigen. Leider sind die Gesetze zum Schwangerschaftsabbruch in ihrer Gesamtheit weder rational noch evidenzbasiert noch weltanschaulich neutral. Es ist an der Zeit, sie grundlegend zu revidieren."
Die Schieflage der Gesetze zeige sich, so Schmidt-Salomon, besonders deutlich an den Bestimmungen zur sogenannten "Schwangerschaftskonfliktberatung", die in § 219 StGB geregelt wird. Dort nämlich heißt es, es müsse der Frau bewusst sein, "dass das Ungeborene in jedem Stadium der Schwangerschaft auch ihr gegenüber ein eigenes Recht auf Leben hat und dass deshalb nach der Rechtsordnung ein Schwangerschaftsabbruch nur in Ausnahmesituationen in Betracht kommen kann, wenn der Frau durch das Austragen des Kindes eine Belastung erwächst, die so schwer und außergewöhnlich ist, dass sie die zumutbare Opfergrenze übersteigt" (§ 219, Abs. 1, Satz 3 StGB).
Schmidt-Salomon stört sich hier vor allem an der Formulierung, das Ungeborene habe "in jedem Stadium der Schwangerschaft" ein "Recht auf Leben": "Aus kritisch-rationaler Perspektive ist dieser Satz grober Unfug, da das Recht auf Leben ein entsprechendes Interesse am Leben voraussetzt, was bei einem bewusstseinsunfähigen, völlig empfindungsfreien Embryo per definitionem nicht gegeben ist. Erst mit der 20. Schwangerschaftswoche beginnt die Entwicklung der Großhirnrinde, die es dem Fötus später erlaubt, bewusst zu empfinden und erste Erfahrungen abzuspeichern. Dass der Gesetzgeber in §219 StGB nicht zwischen empfindungsfreien Embryonen und entwickelten Föten unterscheidet, ist nur auf der Basis höchst obskurer religiöser Prämissen möglich, die ein weltanschaulich neutraler Staat seinen Bürgerinnen und Bürgern niemals vorschreiben darf."
Die religiösen Hintergründe der deutschen Gesetzgebung
Die eigentümliche Idee, bereits empfindungsfreien Zellformationen ein "Recht auf Leben" zuzubilligen und schwangeren Frauen aufgrund dieses "Rechts" ein "zumutbares Opfer" abzuverlangen, beruht, so Schmidt-Salomon, auf dem Konzept der "Simultanbeseelung", dem vermeintlichen "Eingießen des Geistes im Moment der Befruchtung". Viele halten diese Vorstellung für "urchristlich" – tatsächlich aber ist sie für Katholiken erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbindlich: "Viele Theologen, Bischöfe und Päpste waren zuvor von der alternativen Konzeption der ‚Sukzessivbeseelung‘ ausgegangen, wonach die ‚Seele‘ des Menschen erst am Ende des dritten Schwangerschaftsmonats voll ausgebildet ist, so dass Abtreibungen bis zu diesem Zeitpunkt religiös legitimiert werden konnten. Dann aber verkündete Papst Pius IX im Jahr 1854 das Dogma der 'Unbefleckten Empfängnis Mariens'. Offenkundig litt er in der Folgezeit sehr unter dem Gedanken, dass die angeblich 'sündenfrei' empfangene Gottesmutter jemals 'vernunft- und seelenlose Materie' gewesen sein könnte. Daher erhob Pius IX. im Jahre 1869 zu Ehren der 'Heiligen Jungfrau Maria' die 'Simultanbeseelung' zur verbindlichen 'Glaubenswahrheit' – eine Entscheidung, über die man heute schmunzeln könnte, würde sie nicht noch immer die Gesetze des säkularen Staates bestimmen."
Besonders absurd wirke die religiös aufgeladene Argumentation, wenn man sich vergegenwärtige, "dass etwa die Hälfte der Embryonen, die sich in der Gebärmutter einnisten, spontan wieder abgeht, was nur in knapp 20 Prozent der Fälle bemerkt wird", meint Schmidt-Salomon: "Trotz der Häufigkeit des natürlichen Aborts und der logischen Klimmzüge, die christliche 'Lebensschützer' ob dieser Tatsache eigentlich machen müssten (wäre der 'liebe Gott' dann nicht der der 'größte Abtreibungsarzt aller Zeiten'?!), hat der deutsche Gesetzgeber den künstlichen Abort, den Schwangerschaftsabbruch, mithilfe von § 218 StGB verboten. § 218a StGB verfügt zwar, dass der Abbruch unter bestimmten Bedingungen straflos ist, das ändert aber nichts daran, dass der Staat sich auf der Basis überkommener religiöser Vorstellungen anmaßt, Frauen ins Gewissen zu reden (§219 StGB) und ihnen den freien Zugang zu relevanten Informationen zu verwehren (§219a StGB). Mit dem Gebot der weltanschaulichen Neutralität ist dies unter keinen Umständen zu vereinbaren!"
Religiöse Schikane
In Bezug auf die aktuelle Debatte über die Abschaffung des Straftatbestands der "Werbung für den Schwangerschaftsabbruch" verweist Schmidt-Salomon auf den einschlägigen Kommentar des Instituts für Weltanschauungsrecht (ifw) vom November 2017 und bezieht selbst eine sehr klare Position: "Selbstverständlich darf das Anbieten von Informationen über den Schwangerschaftsabbruch niemals als strafbare Handlung begriffen werden. Im Gegenteil: Das Verschweigen solcher Informationen müsste als Verstoß gegen die ärztliche Informationspflicht (§ 630c, Abs. 1 BGB) gewertet werden! Darüber hinaus müsste der deutsche Staat nun endlich dafür sorgen, dass es auch in ländlichen Gebieten Kliniken gibt, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Die jetzige Situation, in der Frauen oft 100 Kilometer fahren müssen, um eine geeignete Klinik zu finden, ist religiöse Schikane und in einem weltanschaulich neutralen Staat nicht länger zu tolerieren."
Erstveröffentlichung: Webseite der Giordano Bruno Stiftung
16 Kommentare
Kommentare
Norbert Schönecker am Permanenter Link
Ich bestreite die These, dass es der Religion bedarf, um einen Embryo als Menschen zu bezeichnen, der auch über die dazugehörigen Menschenrechte verfügt.
Menschenrechte für Embryos könnten auch auf folgende Weise begründet werden:
1) Eine Mutter realisiert gegen Ende des ersten Monats ihre Schwangerschaft. Weil es sich um ein Wunschkind handelt, freut sich die Mutter und sie betrachtet ihr Kind - den Embryo - bereits als Familienmitglied. Obwohl der Embryo selbst davon bewusst noch nichts davon mitbekommt.
Wenn eine Mutter einen Embryo in ihre Familie aufnehmen kann, dann kann die Menschheit ebensogut einen Embryo in die Menschheitsfamilie aufnehmen und als "einen von uns" betrachten.
Das funktioniert dann, wenn man die Menschenrechte als Ausdruck menschlicher Solidarität betrachtet: "Du hast Rechte, weil du einer von uns bist."
Um in eine Familie (oder in die Menschheitsfamilie) aufgenommen zu werden, bedarf es weder eines Bewusstseins noch einer Zustimmung. Es ist also keine Großhirnrinde notwendig.
2) Ein Embryo ist ein Lebewesen mit menschlichem Genom, also ist er ein Mensch, also hat er Menschenrechte.
3) Mit der Befruchtung entsteht ein neues Lebewesen. Ab dann ist die Entwicklung von Embryo über Fötus, Kleinkind, Kind, Jugendlicher, junger Erwachsener (hier erst ist die Gehirnentwicklung abgeschlossen!), Erwachsener und Greis bis zum Tod eine fließende.
Solange nicht völlig eindeutig und allgemein anerkannt definiert ist, was genau ein "Mensch" ist (und das ist eben nicht allgemein anerkannt definiert!), muss das Gesetz sicherheitshalber jede Tötung eines Lebewesens verbieten, bei dem der Verdacht besteht, dass es sich um einen Menschen handeln könnte.
Bei einem Fötus besteht der Verdacht.
Dass ein Lebewesen ohne Bewusstsein oder Leidensfähigkeit kein Mensch sein kann, bestreite ich. Begründung: Auch ein Bewusstloser ist ein Mensch.
4) Das "Dammbruchargument": Wenn wir beginnen (bzw. da wir begonnen haben), menschliche Lebewesen knapp nach Beginn ihres Lebens zu töten, ist der nächste Schritt, sie knapp vor den natürlichen Ende ihres Lebens zu töten. Der nächste Schritt kann sein, schwer Behinderte zu töten (ist bekanntlich auch schon geschehen). Oder schwer Kranke. Oder Minderbegabte. Oder Menschen, die nicht für sich selbst sorgen können. Oder ....
5) Rechte haben nicht nur eine individuelle Bedeutung. Rechte und Gesetze dienen auch dazu, eine Gemeinschaft zu fördern, gesellschaftliche Normen zu etablieren und Solidarität herzustellen. Schon allein deshalb kann es durchaus sinnvoll sein, auch empfindungslosen Embryos Rechte zu geben. Sie bedeuten, dass wir auch das schwache Leben schützen, dass jeder Mensch grundsätzlich willkommen ist und dass wir optimistisch in die Zukunft gehen.
Hier habe ich also fünf Argumente gegen Abtreibungen und für das Lebensrecht von Embryos genannt, ohne im geringsten auf Religion einzugehen.
Jann Wübbenhorst am Permanenter Link
Bis auf Ihr Argument 5 sind Ihre Argumente aus meiner Sicht entweder Augenwischerei oder hintergründig eben doch religiös fundiert, auf jeden Fall aber ethisch nicht überzeugend.
Das heißt dann: Weil ein Schimpanse durchschnittlich zu 98,5% das gleiche Genom hat wie ein Mensch, stehem ihm 98,5% der Menschenrechte zu?
Weil eine Mutter (und auch der Vater, möchte ich ergänzen) ihr Ungeborenes schon als Familienmitglied betrachtet, wird es automatisch Mitglied der "Menschheitsfamile" und damit Träger aller Menschenrechte? Die "Menschheitsfamilie" ist das Gleiche wie die "Kleinfamilie", weil wir das gleiche Wort benutzen? Und damit auch eine Basis für Rechtsgrundsätze?
Natürlich ist ein Bewusstloser ein Mensch und verliert durch die Bewusstlosigkeit nicht seine Menschenrechte. Können Sie da wirklich keinen Unterschied erkennen zu einem Zellhaufen ohne Zentralnervensystem?
Und haben Sie sich einmal überlegt, warum die Zugehörigkeit zur Spezies Mensch auch für einen Zellhaufen zu umfangreichen "Sonderrechten" führen soll, die einem sehr nahen Verwandten (der nächste Verwandte des Schimpnasen ist nicht der Gorilla, sondern der Mensch) trotz Ich-Bewusstsein, ausgeprägtem Gefühlsleben und Überlebenswillen verwehrt bleiben sollen?
Norbert Schönecker am Permanenter Link
S.g. Herr Herr Wübbenhorst!
Sie verwenden drei Mal das Wort "Zellhaufen".
Ich weise Sie darauf hin, dass auch Sie und ich Zellhaufen sind.
Wir sind zwar etwas komplexere und besser organisierte Zellhaufen als ein Embryo. Andererseits ist sogar eine menschliche Zygote komplexer und besser und organisiert als der PC, vor dem ich gerade sitze. Und weder Sie noch ich würden einen modernen Computer als Siliziumhaufen bezeichnen.
Ihre Terminologie basiert entweder auf Ahnungslosigkeit, oder sie ist der Versuch, mit vorsätzlich irreführender Wortwahl zu manipulieren. Sie sollten dieses Wort nicht mehr verwenden.
Zum embryonalen Zentralnervensystem: "Nach sechs Wochen entstehen die Anlagen zu Hirnstrukturen wie Brücke und Kleinhirn, Thalamus, Basalganglien und Großhirnrinde." (aus: https://www.dasgehirn.info/grundlagen/kindliches-gehirn/die-entwicklung-eines-gehirns)
Dass Tiere, insbesondere solche mit Eigenbewusstsein, Rechte erhalten, halte ich für eine sehr begrüßenswerte Entwicklung. Mehr Solidarität habe ich aber zu Mitgliedern meiner eigenen Spezies. Wenn ich mir als Gedankenexperiment vorstelle, dass Außerirdische landen, die intelligenter sind und ein höheres Bewusstsein haben als wir - dann gebe ich im Zweifelsfall trotzdem der Solidarität mit meiner eigenen Spezies den Vorrang gegenüber den Rechten, die aus Bewusstsein, Intelligenz etc. stammen.
Genauso gebe ich dem Embryo den Vorrang vor einem Schimpansen. (Was mich nicht davon abhält, für Menschenaffenprojekte zu spenden)
Zu "Familie": Ich wollte damit ausdrücken: Wer Menschenrechte bekommt, ist letztlich keine Frage, die von irgendeiner Naturwissenschaft beantwortet ist. Es handelt sich um eine Frage der Solidarität: Wer gehört zu uns? Es ist durchaus denkbar (wenn auch zur Zeit unwahrscheinlich), die Menschenaffen als "zu uns gehörig" zu betrachten (im Moment sehe ich rechts eine Werbeanzeige "Grundrechte für Menschenaffen - sehr passend). Lange Zeit galten andererseits die "Wilden" als "nicht ganz zu uns gehörend" und hatten nur eingeschränkte Menschenrechte. Fazit: Wer "einer von uns" ist und Menschenrechte genießt, das ist zu einem großen Teil eine Frage der Empfindung und der Solidarität. Ungeborene Kinder bekommen von sehr vielen Menschen diese Solidarität, was keine Frage des Gehirns ist.
Rainer Bolz am Permanenter Link
Die Rechte der Frauen stehen für ein hedonistisches, sinnerfülltes und zugleich aktives Leben an herausragender Erster Stelle.
libertador am Permanenter Link
Im Falle des Abtreibungsverbotes gibt es aber eine Abwägungssituation. Selbst wenn man Ihren Ausführungen zustimmt.
CnndrBrbr am Permanenter Link
- 1) Eine Mutter realisiert gegen Ende des ersten Monats ihre Schwangerschaft. Weil es sich um ein Wunschkind handelt, freut sich die Mutter und sie betrachtet ihr Kind - den Embryo - bereits als Familienmitglied.
Das wäre die Sicht von Peter Singer, der einem werdenden Menschen vor der Entwicklung eines eigenen Bewußtseins seinen "Wert" erst durch die Liebe der Eltern zuschreibt. Diese Sicht ist gerade KEIN Argument für einen Lebensschutz für Individuen, die niemanden haben, der sie schützen will.
- 2) Ein Embryo ist ein Lebewesen mit menschlichem Genom, also ist er ein Mensch, also hat er Menschenrechte.
Nein. Als Lebewesen gilt erst, was einen eigenen Stoffwechsel hat.
- 3) Mit der Befruchtung entsteht ein neues Lebewesen.
Das ist ein katholischer Glaubenssatz, der ebenso beliebig ist wie die Beseelung ab dem 40. Tag nach der Befruchtung, laut Thomas von Aquin.
Ein neuer einmaliger Gen-Satz ist vielleicht ein "potentieller Mensch", aber daran ist ist das Inhaben von Rechten ja auch nicht gekoppelt.
- 4) Das "Dammbruchargument": Wenn wir beginnen (bzw. da wir begonnen haben), menschliche Lebewesen knapp nach Beginn ihres Lebens zu töten...
...setzt wieder den Lebensbeginn an einem nicht allgemein akzeptierten Zeitpunkt voraus. Dazu wäre aber eine Übereinkunft nötig.
- 5) Schon allein deshalb kann es durchaus sinnvoll sein, auch empfindungslosen Embryos Rechte zu geben.
Vielleicht für einige sinnvoll. Das ist aber weder allgemeine noch unwidersprochene Übereinkunft. Ohne eine solche ist das sicher eine gute Motivation für eigenes soziales Engagement, aber keine allgemeine Verbindlichkeit.
Norbert Schönecker am Permanenter Link
S.g. CnndrBrbr!
Danke dafür, dass Sie objektiv und übersichtlich auf mein Posting eingehen!
1) Warum aber gibt gerade die Mutter dem Kind einen Wert? Warum nicht im gleichen Maß der Vater, die Großeltern, die ganze Menschheit?
Vielleicht, weil das Kind konkret von der Mutter abhängig ist. Aber aus meiner Sicht schafft das bei der Mutter nicht die Macht, über Leben und Tod zu entscheiden, sondern Verantwortung und die Pflicht, für das Kind zu sorgen. (Eine Pflicht, die in anderer Weise auch der Vater und die Gesamtgesellschaft haben)
Ich meine, dass eine Gesellschaft durchaus die Möglichkeit hat, auch einem Embryo einen Wert zu gebe. Das ist kein Privileg der Mutter.
2) Bereits Einzeller sind Lebewesen. Und ein Embryo hat mindestens so viel Stoffwechsel wie eine Bakterie. Rein biologisch ist es ein parasitäres Verhälnis zur Mutter. Aber selbst ein Parasit ist ein Lebewesen.
3) + 4) Sie haben insofern recht, als der Begriff "Lebewesen" und "Leben" nicht ganz eindeutig definiert ist.
Jede seriöse Abtreibungsdiskussion (zu der Sie offenbar fähig und bereit sind) führt nach meiner Erfahrung zu folgenden Fragen:
a) Was ist Leben?
b) Was ist ein Lebewesen?
c) Was ist ein Mensch?
d) Woher kommen / Wer verleiht Menschenrechte?
e) Wie viel Leid ist einem Menschen zumutbar, um ein anderes Menschenleben zu retten?
Die Fragen sind überraschend schwierig. Ich habe auf keine eine eindeutig klare Antwort parat.
Uns fehlt also eine solide Basis zu einer ganz sicheren Entscheidung.
Nun ist die Sache die:
Bevor ein Jäger schießt, muss er sich vergewissern, dass das Rascheln im Gebüsch nicht von einem Menschen stammt. Selbst eine ziemlich sichere Vermutung reicht nicht aus.
Ebenso sollten sich vor einer Abtreibung alle Beteiligten sicher sein, dass es sich nicht um einen Menschen handelt, der getötet werden soll. Analog zu "Im Zweifel nicht schießen" müsste doch gelten "Im Zweifel nicht abtreiben"!
5) Sie haben recht: Das ist keine Basis für eine allgemeine Verbindlichkeit. Aber ich wollte in meinem Beitrag v.a. darlegen, dass es zur Ablehnung von Abtreibungen nicht notwendig einer religiösen Begründung bedarf.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
"Hier habe ich also fünf Argumente gegen Abtreibungen und für das Lebensrecht von Embryos genannt, ohne im geringsten auf Religion einzugehen."
Dann treiben Sie halt nicht ab. Oder Ihre Frau oder sonst wer. Es wird ja niemand dazu gezwungen. Ich verstehe ja Ihre Sorge um Kinder. Im Christentum, dessen Fahne Sie extrem hochhalten, hat man sich nie so fürsorglich um Menschenleben geschert. Da wurde gerne verbrannt, gefoltert, gevierteilt, gesteinigt, sozial ausgegrenzt, vertrieben, für vogelfrei erklärt oder mundtot gemacht. Aber stimmt - das waren alles keine Embryonen...
Theodor Ebert am Permanenter Link
Lieber Herr Schönecker,
Entscheidend ist, dass aus dem Recht auf Leben des Embryos nicht ein unbeschränktes Recht auf die Nutzung des Körpers einer anderen Person, hier der Mutter, folgt.
Nehmen Sie folgendes Gedankenexperiment (es wurde in der englischsprachigen Literatur diskutiert, ich glaube, es stammt von Judith Butler):
Sie finden sich eines Morgens in einem Krankenhausbett und ihr Blutkreislauf ist mit dem eines Patienten im Nachbarbett verbunden. Denn nur Sie haben ein bestimmtes Gen, das den Patienten im Nachbarbett, bei dem es sich etwa um einen berühmten Geiger handeln mag, vor einem sonst unausweichlich eintretenden Tod bewahren kann. Sie müssen aber diesen Zustand neun Monate erdulden. Hat das Genie im Nachbarbett ein Recht auf die Nutzung Ihres Körpers? Ich würde spontan sagen, nein. Man kann das Beispiel natürlich noch etwas variieren, um es in Übereinstimmung mit dem Fall der Vergewaltigung, der unfreiwillig eingegangenen Schwangerschaft, oder einer unvorsichtig eingegangenen Schwangerschaft zu bringen, aber ich denke, es zeigt, was hier der entscheidende Unterschied ist. Die Aspekte der Empfindungslosigkeit des Embryos in den ersten Monaten der Schwangerschaft können jetzt wieder zum Tragen kommen, weil nämlich die Beendigung der Schwangerschaft durch Abort in dieser Phase mit keinen Schmerzen für den Embryo verbunden ist. Das vorgebrachte Argument zieht wohl auch bei den anderen vier Argumenten, die Sie vorbringen.
Theo Ebert
Norbert Schönecker am Permanenter Link
S.g. Herr Ebert!
Danke für das interessante Beispiel und Ihre teilweise Zustimmung!
Wie ich schon oft gepostet habe, führt jede seriöse Abtreibungsdiskussion zu fünf schwierigen Fragen, auf die ich keine eindeutig anerkannte Antwort kenne. Ich schreibe sie hier nochmals (obwohl sie bereits weiter oben in einer anderen Antwort stehen):
) Was ist Leben?
) Was ist ein Lebewesen?
) Was ist ein Mensch?
) Woher hat der Mensch sein Recht auf Leben (wenn überhaupt)?
) Wie viel Leid ist einem Menschen zumutbar, um ein anderes Leben zu schützen?
Ihre (bzw. Butlers) Geschichte verdeutlicht die fünfte Frage auf durchaus interessante Weise.
Eine andere Geschichte zum selben Thema habe ich mir ausgedacht:
Nach einem Schiffbruch stranden zwei Menschen, ein Mann und eine Frau, auf einer einsamen tropischen Insel. Die Frau ist gesund, der Mann aber hat eine Kopfverletzung. Als Folge davon leidet er unter vollständiger Amnesie: Er hat sein Gedächtnis verloren. "Leiden" ist aber nicht ganz korrekt ausgedrückt: Er ist nämlich darüber hinaus in einem Koma-ähnlichen Zustand. Er kann zwar atmen, trinken und sogar essen (gefüttert werden), zeigt aber ansonsten keinerlei Reaktionen auf seine Umwelt.
Die Frau kannte diesen Mann zuvor kaum. Sie weiß von ihm nur, dass er auswandern wollte, weil nichts ihn in seiner früheren Heimat hielt. Er ist als Waisenjunge groß geworden und hat keine Freunde.
Aus nicht näher erklärbaren Gründen weiß die Frau auch, dass der Mann erst in ein paar Monaten aus seinem Koma-Zustand erwachen, dann aber völlig gesund sein wird - bis auf die Amnesie. Die bleibt.
Momentan hätte die Frau wirklich genug damit zu tun, für sich selbst zu sorgen: Sie muss Nahrung sammeln, einen Unterschlupf bauen, und versucht, an etwaige Rettungsmannschaften Zeichen zu geben. Damit wäre sie völlig ausgelastet.
Ist es ihr zuzumuten, sich neben all diesen Tätigkeiten auch noch um den Mann zu kümmern? Soll sie ihr eigenes Wohl vernachlässigen, um dieses völlig empfindungslose menschliche Wesen zu versorgen, das noch dazu niemandem abgehen würde?
Die Alternative wäre, ihn mittels eines gezielten Herzstiches zu töten. Schmerzfrei - er spürt ja nichts.
(Ihn einfach liegen und verdursten zu lassen, wäre nicht nur grausamer, sondern brächte auch die Analogie zur Abtreibung durcheinander.)
Ich denke, diese Geschichte ist als Analogie zur Abtreibung ziemlich vollständig. Sie beinhaltet:
) die Empfindungslosigkeit des zu tötenden Wesens
) die Tatsache, dass das zu tötende Wesen in kein soziales Netz eingebunden ist (Fußnote dazu: Mir gehen bei Abtreibungsdiskussionen diesbez. die Väter ab!)
) die Tatsache, dass das zu tötende Wesen zwar keine Vergangenheit, aber eine potentielle Zukunft hat
) die materiellen Sorgen der Frau / Mutter
) die Tatsache, dass es sich um einen Tötungsakt handelt, den jemand vornehmen muss (mitsamt emotionalen Folgen, wenn man sich bewusst macht, was man da tut)
) die Tatsache, dass es sich um ein menschliches Wesen handelt
) bis zu einem gewissen Grad auch die Bindung zwischen den handelnden Personen (im einen Fall Mutter-Kind; im anderen Fall die einzigen menschlichen Wesen weit und breit)
Ein Unterschied zu Butlers Geschichte ist der: Die Person, die in der Analogie die Rolle des Embryos einnimmt, muss aktiv getötet werden. Eine Abtreibung ist schließlich im Normalfall etwas anderes, als sich eine Nadel aus der eigenen Vene zu ziehen.
Das ist auch der Punkt, der mir an der Geschichte überhaupt missfällt. Es fehlt die aktive Tötung des Geigers. Dazu eine Gegengeschichte:
Ein Odachloser bricht ein und beschließt, in Ihrer Wohnung zu leben. Natürlich hat er kein Recht dazu. Aber dürfen Sie ihn deshalb erschießen?
Natürlich hat diese kurze Geschichte erhebliche Mängel in der Analogie und wirft haufenweise Fragen auf. Sie soll nur aufzeigen: Die Tatsache, dass ein Embryo kein RECHT hat, im Körper der Frau parasitär zu leben, gibt der Mutter NICHT ZWANGSLÄUFIG umgekehrt das Recht, den Embryo zu töten.
Falls Sie bis hierher gelesen haben: Danke für Ihr Interesse!
Thomas am Permanenter Link
"Mehr Solidarität habe ich aber zu Mitgliedern meiner eigenen Spezies."
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") Was ist Leben?"
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Insofern egal, als es "nur" die erste von mehreren Grundvoraussetzungen für Leidensfähigkeit ist.
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") Was ist ein Lebewesen?"
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Egal (s.o.).
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") Was ist ein Mensch?"
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AUCH egal. Leidensfähigkeit ist unabhängig von der Spezieszugehörigkeit.
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") Woher hat der Mensch sein Recht auf Leben (wenn überhaupt)?"
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Er "hat" kein solches Recht, es wird ihm von anderen Menschen GEWÄHRT! Für Ethizisten spielt das übrigens gar keine Rolle, denn moralisches Verhalten funktioniert ohne juristischen Druck und muß ihm nötigenfalls sogar widerstehen.
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") Wie viel Leid ist einem Menschen zumutbar, um ein anderes Leben zu schützen?"
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Allgemein unbeantwortbar, weil es (wie stets in der Ethik!) auf die jeweiligen Umstände ankommt.
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"Ist es ihr zuzumuten, sich neben all diesen Tätigkeiten auch noch um den Mann zu kümmern? Soll sie ihr eigenes Wohl vernachlässigen, um dieses völlig empfindungslose menschliche Wesen zu versorgen, das noch dazu niemandem abgehen würde?"
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Das kann nur sie selbst entscheiden. Die beschriebene (extrem wirklichkeitsfremde!) Situation als gegeben angenommen, würde ich wenigstens VERSUCHEN, den Mann so lange zu pflegen, bis er aufwacht. Sollten meine Kräfte nicht ausreichen, müßte ich halt überlegen, ob ich ihn sterben lasse oder umbringe (was für einen Bewußtlosen keinen Unterschied macht). Tun und Unterlassen sind ETHISCH äquivalent, aber ihre PSYCHISCHEN Herausforderungen können sehr unterschiedlich sein. Diese beiden Problemkreise darf man nicht vermengen, wenn man korrekte ethische Entscheidungen treffen will.
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") die Tatsache, dass das zu tötende Wesen zwar keine Vergangenheit, aber eine potentielle Zukunft hat"
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Egal. "Potentielle Zukunft" ist ethisch irrelevant, denn unter etwas, das man nicht erlebt, weil man nicht (mehr) existiert, kann man natürlich auch nicht leiden. Vor diesem Hintergrund können also nur die Interessen Dritter eine Rolle spielen.
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"Ein Odachloser bricht ein und beschließt, in Ihrer Wohnung zu leben. Natürlich hat er kein Recht dazu. Aber dürfen Sie ihn deshalb erschießen?"
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Absurde Frage. Erstens geht es um ein Wesen mit Lebensinteresse, und zweitens ist eine Erschießung nicht die einzige Möglichkeit, ungebetenen Besuch loszuwerden.
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"Die Tatsache, dass ein Embryo kein RECHT hat, im Körper der Frau parasitär zu leben, gibt der Mutter NICHT ZWANGSLÄUFIG umgekehrt das Recht, den Embryo zu töten."
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Noch einmal: nichts und niemand hat ("von Natur aus") Rechte. Über ihre Gewährung sollte nicht beliebig, sondern nach ETHISCHEN Gesichtspunkten, also unter Berücksichtigung von Interessen entschieden werden, die auch tatsächlich vorliegen. Empfindungslose Gegenstände wie Embryos und Föten bis zu einer bestimmten Entwicklungsstufe haben keinerlei Interessen, unter deren Verletzung sie leiden könnten. Sie sind also keine ethischen Objekte. Föten jenseits einer bestimmten Entwicklungsstufe sind empfindungsfähige Wesen ohne Lebensbewußtsein. Sie können lediglich ein Interesse haben, nicht unter Schmerzen oder Streß zu leiden, und das muß bei einer Spätabtreibung selbstverständlich beachtet werden. Insgesamt sind Schwangerschaftsabbrüche allerdings so unerfreuliche (weil für [fast] alle Beteiligten psychisch belastende und das Gesundheitssystem strapazierende) Ereignisse, daß ihnen durch sorgfältigste Empfängnisverhütung vorgebeugt werden sollte (egal, was irgendwelche religiösen Spinner davon halten).
Hans Trutnau am Permanenter Link
Pius IX erst 1854 - ist das nicht schon fast irrwizig? Andererseits erhellt diese verbohrte Rückständigkeit u.a. die Reaktion des Klerus' auf Darwins Origin of Species (das nur 5 Jahre später erschien).
Andrea Diederich am Permanenter Link
Es ist die Rede von einem weltanschaulich neutralem Staat.
Wie ist das vereinbar mit dem staatlichen Einzug der Kirchensteuer und konfesionellen Religionsunterricht an staatlichen Schulen?
Thomas am Permanenter Link
Würden wir über unseren Umgang mit Empryos und Föten ausschließlich ethisch, also unabhängig von deren Spezieszugehörigkeit entscheiden, hätten wir das Abtreibungs"problem" schon lange gelöst.
Markus Wolf am Permanenter Link
@ An Norbert Schönecker, Kommentar v. 21. Februar 2018, 18:20 Uhr.
Sehr geehrter Herr Schönecker,
Sie schreiben "Ein Embryo ist ein Lebewesen mit menschlichem Genom, also ist er ein Mensch, also hat er Menschenrechte".
Korrektur:
Ein Embryo ist ein Zellhaufen, es ist sch...egal, ob er menschliches Genom hat, entscheidend ist, dass er unfähig ist, außerhalb des Uterus zu leben, ferner ist entscheidend, dass der Embryo keinen eigenen Organismus hat, sondern völlig abhängig vom Organismus, völlig abhängig ist von der Nahrung und Sauerstoffzufuhr durch die schwangere Frau.
Ferner schreiben Sie: "Mit der Befruchtung entsteht ein neues Lebewesen"
Korrektur:
Ist genauso abwegig, sogar die meisten Abtreibungsgegner behaupten, erst mit der Nidation läge ein "Lebewesen" vor.
Dann wäre der liebe Gott der größte Kindermassenmörder, weil 50-70 dieser "neuen Lebewesen" nicht dazu kommen, sich in der Gebärmutter einzunisten.
Dann behaupten Sie "Ab dann ist die Entwicklung vom Embryo über Fötus, Kleinkind, Kind, Jugendlicher, junger Erwachsener, Erwachsener und Greis bis zum Tod eine fließende."
Korrektur:
O nein, mit der GEBURT, wenn der Organismus unabhängig ist von der schwangeren Frau ist keine "fließende" Entwicklung, sondern ein "Sprung" eingetreten, es ist dann nicht nur eine "quantitative", sondern eine "qualitative" Entwicklung erfolgt.
Dann schreiben Sie, Herr Schönecker "Solange nicht völlig eindeutig und allgemein anerkannt definiert ist, was genau ein "Mensch" ist, muss das Gesetz sicherheitshalber jede Tötung eines Lebewesens verbieten, bei dem der Verdacht besteht, bei dem es sich um einen menschen handeln könnte. Bei einem Fötus besteht der Verdacht."
Korrektur:
Das ist gefährlich, Sie machen eine "Beweislastumkehr", das Gleiche, was auch die Nazis gemacht haben.
Ebenso könnten Sie sagen, man muss jeden Tatverdächtigen eines Mordes solange verurteilen und einsperren, bis er zweifelsfrei seine Unschuld bewiesen hat.
Bei einem Fötus besteht nicht mal der "Verdacht", dass es ein Mensch sein "könnte", sondern es ist TATSACHE, dass der Fötus ein Zellhaufen ist, also nur menschliche Materie, aber kein "Mensch".
Und den Fötus kann man NICHT "töten" weil er noch gar nicht "lebt".
Bei einer Abtreibung wird nur verhindert, dass aus dem Fötus ein mensch wird, was nicht dasselbe ist wie "töten".
Und dann schreiben Sie "Dass ein Lebewesen ohne Bewusstsein oder Leidensfähigkeit kein Mensch sein kann, bestreite ich.
Begründung:
Auch ein Bewusstloser ist ein Mensch."
Korrektur:
Sie vergleichen Äpfel mit Birnen.
Ein "Bewusstloser" hat die GEBURT hinter sich im Gegensatz zu einem Fötus.
Nachsatz:
Herr Schönecker, können Sie mir vielleicht verraten, warum im "fälschungssicheren" Personalausweis der Beginn des Lebens, des Mensch-Seins mit der GEBURT definiert und terminiert wird?
Damit ist auch Ihr "Verdacht", ein Fötus sei ein "Mensch", beseitigt, ferner ist dieser Verdacht beseitigt durch Artikel 1 der Charta der Menschenrechte, welcher heisst "Alle Menschen sind .... GEBOREN"
An dem Wort "geboren" ist erkennbar, dass das Menschsein mit der GEBURT beginnt.
Markus Wolf am Permanenter Link
@An Norbert Schönecker, Kommentar vom 23.02.2018, 12:37 Uhr
Sehr geehrter herr Schönecker,
Sie schreiben "auch Sie und ich sind Zellhaufen"
Korrektur:
Mag sein, aber Sie und ich sind "bessere" oder "qualifizierte" Zellhaufen, denn wir sind Zellhaufen, welche die GEBURT hinter sich haben im gegensatz zum Embryo.