Artikelreihe zum 200. Geburtstag (Teil 1)

"Mythos Marx"?

Vor 15 Jahren veranstaltete die Thomas-Dehler-Stiftung ein öffentliches Streitgespräch zu "Karl Marx und den Folgen" zwischen dem konservativen Politologen Konrad Löw und dem humanistischen Philosophen Michael Schmidt-Salomon. Zum 200. Geburtstag von Karl Marx dokumentiert der Humanistische Pressedienst einen der Vorträge, die Schmidt-Salomon 2003 in Nürnberg gehalten hat. Teil 1 der Artikelserie schildert Marxens Leben und Wirken in einer Zeit des Umbruchs, Teil 2 die Bedeutung der Hegelschen und Feuerbachschen Philosophie für das Marxsche Denken und Teil 3 die ambivalente Logik des marxistischen Weltbildes. Im abschließenden vierten Teil der Serie geht es darum, den Menschen Marx und sein Werk jenseits aller Mythenbildungen fair zu beurteilen.

Totgesagte leben länger, heißt es. Im Fall "Karl Marx" scheint dies in besonderem Maße zuzutreffen. Kaum ein Autor der Geschichte wurde so oft zu Grabe getragen wie er – und doch: Marx ist, wie es scheint, nicht totzukriegen, selbst nach dem kläglichen Zusammenbruch des "real existiert habenden Sozialismus". Als die BBC 1999 in ihrer Millenniumsumfrage nach den "bedeutendsten Denkern des Jahrtausends" fragte, landete Marx mit überwältigender Mehrheit auf Platz eins, vor Einstein, Newton und Darwin. Auch auf dem "Index der meist zitierten Autoren aller Zeiten" steht Marx ganz vorne, gefolgt von Lenin, Shakespeare, Aristoteles und den Autoren der Bibel. Selbst in der Umfrage des Zweiten Deutschen Fernsehens nach den "Besten" in der deutschen Geschichte schaffte es Marx unter die ersten Drei, wobei er u. a. Einstein, Bach und Goethe hinter sich ließ. Ist dies alles nur dem wirklichkeitsverschleiernden "Mythos Marx" zu verdanken, an dem die Sozialisten aus aller Welt gestrickt haben, wie Konrad Löw glaubt?1 Oder gibt es darüber hinaus nicht vielleicht doch noch einige gute Gründe dafür, dass Marx in einem Atemzug mit den größten Denkern der Menschheitsgeschichte genannt wird? Um diese Fragestellungen soll es nachfolgend gehen.

Zur Vorgehensweise: Der Aufsatz ist in vier Teile gegliedert. Im ersten Teil werde ich die Biographie von Karl Marx skizzieren und diese in Beziehung zu den damaligen sozio-ökonomischen Entwicklungen setzen. Im zweiten Teil wird es um die Bedeutung der philosophischen Werke Hegels und Feuerbachs gehen, mit denen sich Marx intensiv auseinandergesetzt hat. Im dritten Teil werde ich die Grundrisse (im doppelten Sinne des Wortes!) des marxistischen Weltbildes darstellen und im vierten Teil versuchen, ein stimmiges Bild des Menschen zu zeichnen, der sich hinter dem "Mythos Marx" verbirgt. Dabei werde ich einige zentrale Punkte der Marx-Kritik von Konrad Löw unter die Lupe nehmen und aufzeigen, warum diese m. E. weder der Person noch dem Denker Marx gerecht wird.

1. Teil: Karl Marx: Leben und Werk in einer Zeit des Umbruchs

Karl Marx wurde 1818 in Trier geboren. Die Stadt befand sich damals in einer sozial, politisch und ökonomisch schwierigen Lage. Bis 1814 hatte Trier unter der Herrschaft der Franzosen gestanden, eine Zeit, in der die lokale Wirtschaft einigermaßen prosperierte und das Geistesleben nachhaltig von den Ideen der französischen Revolution geprägt wurde. Nach dem Sieg über die Franzosen fiel die Stadt an Preußen. Die ökonomische Lage verschlechterte sich zunehmend, teils wegen fehlender Absatzmärkte, teils aufgrund der hohen Steuerlasten, die Preußen den links-rheinischen Gebieten aufbürdete. Fabriken und Handwerksbetriebe mussten schließen, die für die Region so wichtigen Preise für den Moselwein fielen ins Bodenlose, Armut und Elend begannen, das Stadtbild zu dominieren. In der Folge fanden radikal-demokratische, republikanische und utopisch-sozialistische Ideen vermehrt Anhänger in der Trierer Bevölkerung.2

Auch das Trierer Gymnasium, das Marx von 1830-1835 besuchte, wurde – sehr zum Missbehagen der preußischen Behörden – von einem dezidiert aufklärerischen, republikanischen Geist getragen. Dies spiegelt sich auch in Marxens berühmten Abituraufsatz zum Thema "Betrachtung eines Jünglings bei der Wahl eines Berufes" wieder. In dem Aufsatz des gerade 17-Jährigen finden sich – wenn auch gewissermaßen im Embryonalstadium – zwei Aspekte wieder, die im Marxschen Lebenswerk von fundamentaler Bedeutung sind, nämlich

  • die Idee der Determinierung des Individuums durch die gesellschaftlichen Verhältnisse ("Aber wir können nicht immer den Stand ergreifen, zu dem wir uns berufen glauben; unsere Verhältnisse in der Gesellschaft haben einigermaßen schon begonnen, ehe wir sie zu bestimmen im Stande sind."3) und
  • die Vision eines universellen Altruismus, einer Liebe zur "Gattung", die den Menschen erst zum voll entwickelten, "wahren Menschen" mache ("Die Hauptlenkerin aber, die uns bei der Standeswahl leiten muss, ist das Wohl der Menschheit, unsere eigene Vollendung (...) die Natur des Menschen ist so eingerichtet, dass er seine Vervollkommnung nur erreichen kann, wenn er für die Vollendung, für das Wohl seiner Mitmenschen wirkt. (...) Die Geschichte nennt diejenigen als die größten Männer, die, indem sie für das Allgemeine wirkten, sich selbst veredelten; die Erfahrung preist den als den Glücklichsten, der die meisten glücklich gemacht (...).
    Wenn wir den Stand gewählt, in dem wir am meisten für die Menschheit wirken können, dann können uns Lasten nicht niederbeugen, weil sie nur Opfer für alle sind; dann genießen wir keine arme, eingeschränkte, egoistische Freude, sondern unser Glück gehört Millionen, unsere Taten leben still, aber ewig wirkend fort, und unsere Asche wird benetzt von der glühenden Träne edler Menschen."4)

Nach dem Abitur studiert Marx zunächst in Bonn, ab 1836 in Berlin. Sein Interessenschwerpunkt verlagert sich von der Rechtswissenschaft hin zur Philosophie. Ab 1837 beschäftigt er sich intensiv mit den Werken Hegels und tritt in Kontakt mit hegelianischen Akademikern und Schriftstellern. Nach der Promotion 1841 arbeitet Marx vorwiegend als Journalist, wird Chef-Redakteur der in Köln ansässigen Rheinischen Zeitung, die nach Angriffen gegen die preußische Zensur, wiederholter, schonungsloser Berichterstattung über die Not der Moselwinzer und heftigen Attacken gegen den russischen Absolutismus 1843 verboten wird. Nach kurzem Aufenthalt in Kreuznach, wo Marx und Jenny von Westphalen heiraten, verlässt das Paar Deutschland und siedelt sich in Paris an. Zu diesem Zeitpunkt, also um 1844 herum, hat Marx seine spezifische Sicht der Dinge bereits entwickelt. Er vertritt eine dialektische, materialistische, radikal diesseitige Philosophie, die sich in den Dienst der aufkommenden Arbeiterbewegung stellt.

Nachdem er als Mitarbeiter des "Vorwärts" im Februar 1845 auch aus Paris verbannt wird, verbringt er die Zeit in Brüssel (Februar 1845 – März 1848) vor allem mit ökonomischen Studien. In Brüssel beginnt auch die intensive Zusammenarbeit mit Friedrich Engels, dessen erschütternde Reportage über "Die Lage der arbeitenden Klasse in England"5 großen Eindruck auf Marx macht. Gemeinsam verfassen sie im Januar 1848 im Auftrag des Bundes der Kommunisten das berühmte Manifest der Kommunistischen Partei, das Ende Februar erstmalig in London erscheint. Im gleichen Monat kommt es in Paris zur Revolution, wenig später zu den Märzrevolutionen in Deutschland und Österreich. Nach kurzem Intermezzo in Paris gehen Marx und Engels nach Köln, wo sie die Neue Rheinische Zeitung herausgeben, die starken Druck auf die Frankfurter Nationalversammlung sowie auf die preußische Regierung ausübt. Am Ende jedoch siegen die restaurativen Kräfte. Marx wird im Mai 1849 ausgewiesen und die Neue Rheinische Zeitung eingestellt. Nach kurzer Zwischenstation in Frankreich geht Marx im August '49 ins Londoner Exil, wo er abgesehen von einigen Reisen bis zu seinem Tod 1883 bleiben wird.

Die ökonomische Situation der Familie ist vor allem am Anfang der 1850er Jahre miserabel – teils, weil die Vertriebenen nur spärliche Einkünfte haben, teils weil Marx über das Kapital vielleicht schreiben, allerdings nur schlecht praktisch mit ihm umgehen konnte. Von den sieben Kindern sterben vier schon in frühen Jahren. Als Marx 1859 nach schier endlosen Verzögerungen das "unglückliche Manuskript" seines Buches "Zur Kritik der politischen Ökonomie" abschließt, schreibt er mit einer guten Portion Galgenhumor: "Ich glaube nicht, dass unter solchem Geldmangel je über 'das Geld' geschrieben worden ist. Die meisten autores über dies Subject waren in tiefem Frieden mit the subject of their researches."6 Dank der großzügigen finanziellen Unterstützung durch Engels und anderen Genossen sowie einige Erbschaften verbessert sich die finanzielle Lage der Familie in den darauf folgenden Jahren enorm. Die Familie Marx kann sich ab 1864 ein durchaus großbürgerliches Leben leisten.

Marx verbringt seine Zeit in London vorwiegend mit ökonomischen Studien und fertigt Abertausende Seiten von Exzerpten an. Dabei verrennt er sich mehr und mehr in Detailfragen, der große Bogen will kaum noch gelingen. Wahrscheinlich ist es nur dem stetig drängelnden Friedrich Engels zu verdanken, dass im September 1867 der erste Band des "Kapital" erscheint. Auf die angekündigten Bände 2 und 3 des Werkes warten die Leser zu Lebzeiten des Autors vergeblich. Marx, der förmlich in Material ertrinkt, schiebt die Vollendung der Bände immer weiter vor sich her – vielleicht, weil er sich zunehmend auch der internen Widersprüche seines Werkes bewusst wird. Anstatt die angefangenen Arbeiten zu vollenden, beteiligt er sich an politischen Ränkespielen und engagiert sich in der Internationalen Arbeiter Assoziation sowie in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei.

In den letzten Jahren leidet Marx unter starken Gesundheitsproblemen, die sich nach dem Tod seiner Frau im Dezember 1881 und endgültig nach dem Tod seiner Tochter Jenny im Januar 1883 dramatisch verschärfen. Wenige Wochen später stirbt Marx im Alter von 64 Jahren am 14. März 1883 in London.

Soweit die äußeren Daten. Unklar bleibt: Was für ein Mensch war Karl Marx? Die Berichte und Dokumente vermitteln ein widersprüchliches Bild. Einerseits erscheint er als liebevoller Vater, gewitzter und humorvoller Gesprächspartner, anderseits als Familienpascha und unnachgiebiger Tyrann, der zur Erreichung seiner Ziele rücksichtslos gegen sich und andere vorging. Es hat den Anschein, dass zwei Seelen in Marxens Brust ruhten: Er war Humanist und Antihumanist, Revolutionär und Traditionalist zugleich, ein Kämpfer für die Freiheit, der aber auch vor Zensur und Gewalt nicht zurückschreckte.

Es gibt eine hübsche Anekdote7, die den inneren Zwiespalt, in dem sich Marx befand, sehr schön zum Ausdruck bringt: 1867 verweilte Marx vier Wochen in Hannover als Gast des vornehmen und gut situierten Arztes Dr. Ludwig Kugelmann. Während dieses Aufenthaltes, den Marx zu den "schönsten und erfreulichsten Oasen in der Lebenswüste" zählte, korrigierte er die letzten Druckbögen des 1. Bandes des Kapital, verbrachte aber den Hauptteil der Zeit mit Tischgesprächen, die sich vornehmlich um Literatur, Kunst, Musik drehten. Fragen zu seiner politisch-ökonomischen Weltanschauung blockte Marx meist ab, da er nicht den Eindruck eines sozialistischen Wanderpredigers erzeugen wollte. Einmal jedoch konnte er sich den bohrenden Fragen nicht entziehen. Er wurde von einem Herrn gefragt, wer denn eigentlich im Sozialismus die Stiefel putzen solle. Marx reagierte darauf etwas unwirsch und erwiderte: "Das sollen Sie tun!" Nachdem der Mann gegangen war, sagte Gertrud Kugelmann, die Dame des Hauses, deren charmante Art auf Marx einen gewaltigen Eindruck machte: "Lieber Marx, Ich kann mir Sie auch nicht in einer nivellierenden Zeit denken, da Sie durchaus aristokratische Neigungen und Gewohnheiten haben" – "Ich auch nicht", antwortete Marx. "Diese Zeiten werden kommen, aber wir müssen dann fort sein." Losgelöst davon, ob die Szene sich damals wirklich so abgespielt hat8, sie zeigt sehr deutlich einen charakteristischen Zug des marxistischen Denkens: Selbst der größte Revolutionär ist am Ende nichts weiter als ein "Ensemble der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse", ein Kind seiner Zeit. Er kann vielleicht erahnen, wie ein Leben im angestrebten "Reich der Freiheit" aussehen könnte, wirklich nachvollziehen kann er es nicht, da er von einer völlig anderen geschichtlichen Epoche geprägt wurde. In diesem Sinne liegt den Widersprüchen des Marxschen Denkens und Lebens eine innere Logik zugrunde. Diese erklärt, warum Marx einerseits gegen das bürgerliche Ideal der "Heiligen Familie" heftig polemisierte, anderseits sich selbst aber ein Leben ohne seine Frau und seine Töchter schwer vorstellen konnte, warum er auf der einen Seite für eine Gesellschaft der Gleichen kämpfte, von der er auf der anderen Seite wusste, dass er selbst in einer solchen Gesellschaft nicht hätte leben können oder wollen. Marxens Credo war, dass unter idealen Bedingungen der "neue Mensch" entstehen würde, aber er war gleichzeitig fest davon überzeugt, dass er und all seine Mitstreiter dieser "wahrhaft menschlichen", freundlichen Spezies nicht angehörten, dass sie bestenfalls Vorläufer für diese neue Gattung sein konnten. Bertolt Brecht hat diese ambivalente, für viele linke Denker der Vergangenheit charakteristische Haltung in seinem Prosagesicht "An die Nachgeborenen" brillant in Worte gefasst:

Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut

In der wir untergegangen sind

Gedenkt

Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht

Auch der finsteren Zeit

Der ihr entronnen seid.

Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd

Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt

Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.

Dabei wissen wir doch:

Auch der Haß gegen die Niedrigkeit

Verzerrt die Züge.

Auch der Zorn über das Unrecht

Macht die Stimme heiser. Ach, wir

Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit

Konnten selber nicht freundlich sein.9


Anmerkungen:

1 Löw, Konrad (2001): Der Mythos Marx und sei- ne Macher. Wie aus Geschichten Geschichte wird. München.

2 vgl. Monz, Heinz (1973): Karl Marx – Grundla- gen der Entwicklung zu Leben und Werk. Trier

3 Marx, Karl/Engels, Friedrich (1990): Werke (MEW), Bd.40, S. 592

4 a. a. O., S. 594

5 MEW, Bd.2, S. 226 ff.

6 MEW, Bd. 29, S. 385

7 vgl. Franziska Kugelmann (1983): Kleine Züge zu dem großen Charakterbild von Karl Marx. In: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hg): Mohr und General. Erinnerungen an Marx und Engels. Berlin.

8 Löw bezweifelt das, da Franziska Kugelmann, die diese Anekdote und viele weitere Einzelheiten des Marxbesuchs 1928 (also 60 Jahre später) berichtete, zum Zeitpunkt des Geschehens gerade einmal neun Jahre alt war (vgl. Löw 2001, S. 167). Allerdings ist anzunehmen, dass der Besuch von Marx über viele Jahre Gesprächsthema im Hause Kugelmann war, so dass Franziska Kugelmann über ihre Eltern durchaus noch später hatte Einzelheiten erfahren können.

9 Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke Bd.9, S. 724 f.