Der Staat sollte nichts unternehmen, was Religionen Privilegien verschafft

Politik ohne Gott

Deutschland darf auf göttlichen Beistand hoffen. Immer wieder setzt ein komplett christliches Kabinett auf traditionelle Dramaturgie: Bundesministerinnen und -minister beenden ihren Amtseid gerne mit der Formel "So wahr mir Gott helfe." In den Niederungen der Realpolitik mag eine Dosis göttlicher Eingebung mitunter durchaus hilfreich sein, möglich ist es der Regierungsriege dem Grundgesetz zufolge aber auch, ihren Eid "ohne religiöse Beteuerung" zu leisten. Sie sagen dann nur: "Ich schwöre es." Immerhin: Mehrere Minister leisteten den Eid einst ohne religiöse Beteuerung, darunter Bundeskanzler Gerhard Schröder, Außenminister Joschka Fischer, Umweltminister Jürgen Trittin, Verbraucherschutzministerin Renate Künast sowie Justizministerin Brigitte Zypries. In der letzten Großen Koalition unter Angela Merkel hatte lediglich wiederum Brigitte Zypries (SPD) die religiöse Beteuerung weggelassen.

Nicht nur in deutschen Parlamenten, auch in deutschen Gerichtssälen wird viel geschworen. Bei der Vereidigung vor Gericht geht dem Eid stets die Eingangsformel "Sie schwören …" (bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden) voraus. Im Strafverfahren wird nach § 64 StPO angemahnt: "…, dass Sie nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen haben." Kurzum: auf göttliche Beschwörung und Beteuerung wird hierzulande gerne vertraut. Die alltäglichen Beschwörungs- und Beteuerungsformeln sind ein hör- und sichtbarer Beweis für die Stabilität und Vitalität des Glaubens, auch im staatlich-institutionellen Kontext.

"Unmöglich ist's, drum eben glaubenswert"

Hierzulande herrscht Glaubensfreiheit. Wer Beamter, Staatsanwalt oder Richter werden möchte, schwört auf die Verfassung, nicht auf die Bibel oder den Koran. Entscheidend sind nicht religiöse Präferenzen, sondern Verfassungstreue. Wir sind eine pluralistische, multi-ethnische, multi-religiöse Gesellschaft. Niemand wird wegen seines Glaubens diskriminiert. Gläubige, Andersgläubige und Ungläubige müssen miteinander auskommen. Deutschland ist kein Gottes-Staat, sondern ein Verfassungs-Staat. Alle dürfen glauben, niemand muss.

Menschen glauben an Marien-Erscheinungen, an die unbefleckte Empfängnis der heiligen Mutter Gottes, wieder andere halten es für bezeugt, dass es Mohammed auf dem Weg nach Hudaibiyya gelang, aus einem Felsen mittels einem Pfeil Wasser fließen zu lassen. Ungläubige können im Stillen zweifeln oder es mit Goethe halten: "Unmöglich ist's, drum eben glaubenswert." Der Glaube kann Gläubige im Sinne des Wortes glück-selig machen. Er kann etwas Wunderbares sein: als Privatsache.

Glaube und Unglaube

Warum ich nicht an Gott glaube? Aus vielerlei Gründen. Ich lasse hier mal alles beiseite, was man Religionen und ihren irdischen Machtzentren vorwerfen kann. Von der christlichen Inquisition bis zum islamischen Fundamentalismus – um nur zwei Irrläufer herauszugreifen.

Religionen sind Menschenwerk – immer unvollkommen. Das aber genügt nicht zur Rechtfertigung des Atheismus, in dessen Namen auch Verbrechen begangen wurden. Nicht Glaube oder Unglaube führt zu Verbrechen, sondern Fanatismus.

Sagen wir es so: Ich bin ein überzeugter Gegner der Kirche, des Klerus, der Religions-Fundamentalisten, ein undogmatischer Atheist. Ich selbst glaube, dass es Gott nicht gibt. Beweisen kann ich es nicht. Man könnte mir entgegenhalten, ich sei kein Atheist, sondern Agnostiker.

Das verdient ein paar Worte der Erläuterung: Atheisten und Agnostiker haben einiges gemeinsam – weshalb sie auch häufig verwechselt werden: Sie glauben nicht an Gott. Der Atheist glaubt, dass Gott nicht existiert. Der Agnostiker indes legt sich hier nicht fest, sondern lässt die Frage offen.

Oder anders: Wenn jemand behauptet: Ich weiß, dass es Gott nicht gibt, ist er kein Atheist, sondern ein Dummkopf. Und genauso verhält es sich meiner Ansicht nach, wenn einer sagt: Ich weiß, dass es Gott gibt. Auch er ist ein Dummkopf, einer der Glauben für Wissen hält. Und wenn einer sagt: Ich bin davon überzeugt, dass Gott nicht existiert, ist auch der ein Dummkopf, weil er Überzeugung mit Wissen verwechselt. Glaube und Unglaube müssen in Demokratien miteinander auskommen. Und das ist gut so. Die Einzigen, die das stört, sind Eiferer und Fanatiker.

Heilige Krieger

Es gibt eine anhaltende Spannung zwischen Religion und Moderne. Émile Durkheim ging davon aus, dass die Religion in modernen Gesellschaften ihre dominante Rolle verliert und keine verbindliche Welt- und Sinnstiftung mehr anzubieten vermag; sie verliere ihre Deutungshohheit, aber würde nicht verschwinden. Durkheim hat recht behalten.

Religion und Moderne, das ist bis heute ein schwieriges Verhältnis. Denn anders als die soziologischen Klassiker meinten, ist die Macht der Religion und ihrer Institutionen in der postmodernen Gesellschaft zwar eingeschränkt, aber keineswegs gebrochen. In den Sozialwissenschaften heute wird viel weniger von Säkularisierung als vielmehr von einer "Renaissance der Religionen" gesprochen.

Dass Religionen die Welt zu einem besseren Ort gemacht haben, wird niemand behaupten. Heilige Krieger aller Denominationen berufen sich auf ihre jeweilige Religion, um Andersgläubige und -denkende umzubringen. Die meisten Religionen propagieren ein friedliches Miteinander, aber die wenigsten wirken sich dabei friedensstiftend aus. Tatsächlich tobt der Kampf zwischen Frommen und Ungläubigen, aber auch zwischen Gläubigen und Andersgläubigen.

Supermarkt der Sinnstiftung

Religion und Politik, Kirche und Staat waren häufig aufeinander angewiesen. Die Aufklärung hat die beiden Machtbereiche auseinanderdividiert, die Moderne ihrerseits hat sie völlig getrennt. In der Postmoderne sind religiöse Wandlungsprozesse unübersehbar. Nicht nur die etablierten Religionen finden immer mehr Verbreitung, auch Splitterbewegungen, die sich als Alternative zu den etablierten Kirchen verstehen, haben Zulauf. Religions-Ökonomie und Religions-Geographie haben sich globalisiert. Im globalen Supermarkt der Sinnstiftung geht es nach Marktkategorien. "Harte" Anbieter wie christliche, moslemische und jüdische Fundamentalisten gehören momentan zu den Gewinnern, doch das Sinnstiftungsangebot ist breit sortiert.

Gleichwohl: Der politische Bedeutungsverlust von Religion und Kirche ist vor allem in West-Europa evident. Für Deutschland gilt: Kirchlich gebundene und organisierte Gläubigkeit schwinden, das belegen jedenfalls rückläufige Mitgliederzahlen. Das mag mit aktuellen Skandalen zu tun haben (Missbrauchs-Skandalen, Finanz-Skandalen), vielleicht aber auch mit einem Gesellschafts- und Menschenbild, das keine Bindekraft mehr aktiviert.

Privileg in Gottes Namen

Während der Glaube ohne Geld auskommt, braucht die Kirche seit jeher viel Geld. Die Entschädigungen, die der deutsche Staat für die Enteignungen der Kirche von vor zweihundert Jahren gemäß einer gewohnheitsrechtlichen Verpflichtung immer noch zahlt, bescheren der Kirchen einen regelmäßigen Goldregen. So haben sich die Kirchen, die katholische und die evangelische, über die Jahrhunderte ein Milliarden-Vermögen angehäuft: Immobilien, Grundbesitz, Beteiligungen.

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Im Jahr 2016 nahm die Katholische Kirche rund 6,15 Milliarden Euro und die Evangelische Kirche etwa 5,45 Milliarden Euro ein – allein durch die Kirchensteuer. Steigende Löhne bescherten den Kirchen nach Medienberichten fast 700 Millionen Euro mehr.

Geregelt wird das durch einen Staatsvertrag (Reichs-Konkordat) von 1933 zwischen dem Deutschen Reich und dem Heiligen Stuhl, in dem der katholischen Kirche das Recht auf Erhebung von Kirchensteuern zugesichert wird (Schlussprotokoll zu Artikel 13). 1934 führten die Nationalsozialisten den Kirchensteuereinzug durch den Arbeitgeber als "staatliche" Aufgabe zum 1. Januar 1935 ein, indem sie die Kirchensteuer einheitlich auf die seit 1920 durch den Arbeitgeber in staatlichem Auftrag einzuziehende Lohnsteuer erheben ließen.

Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland übernahm 1949 durch Art. 140 diese Weimarer Regelung. Nachdem die Kirchen ihre Beiträge zuvor selbst eingezogen hatten, wurden diese für die Kirchen vom Staat eingezogen. In jedem Bundesland gilt ein eigener Staatsvertrag mit den anerkannten Religionsgemeinschaften – bis heute. Für Kirchen und Staat, der für seine Dienstleitung als Steuereintreiber eine Gebühr einbehält. Eine Win-Win-Situation für beide.

Dass das Einziehen der Mitgliederbeiträge vom Finanzamt organisiert wird, findet erstaunlicherweise kaum einer merkwürdig. Ein "Privileg von Staates Namen", wie es in einem Kommentar der ZEIT heißt. Selbst traditionell katholische Länder wie Italien oder Spanien kennen diesen staatlichen Finanz-Support nicht.

Hinzu kommen noch die Einnahmen aus den diversen Immobilien- und Finanzgeschäften sowie aus Spenden. Zudem gibt es für kircheneigene Schulen und Kindertagesstätten ebenso Zuschüsse aus den Steuertopf wie für Geistliche, Bischöfe und sonstige klerikale Würdenträger – bezahlt aus dem allgemeinen Steuerabgaben von Nicht-Mitgliedern, Nicht-Christen, Atheisten.

Säkularer Verfassungsstaat

Unser Grundgesetz kennt – anders als die Weimarer Verfassung – ein Grundrecht auf Religionsfreiheit, das nicht durch allgemeine Gesetze beschränkt werden kann, aber sich auch gegen diese wenden lässt. War der Gläubige zu allererst Bürger, so weicht das Grundgesetz von dieser "republikanischen" Sicht ab. Deutschland ist ein säkularer Verfassungsstaat, dennoch kann eine religiöse Gemeinschaft oder ein Einzelner Sonderrechte beanspruchen.

Eine rituelle Genitalbeschneidung bei Jungen als rechtmäßige Körperverletzung? Am 7. Mai 2012 hatte das Landgericht über einen operativen Notfall zu urteilen, wo es nach nach der Beschneidung in Folge von Nachblutungen zu Komplikationen gekommen war. Nüchtern stellten der Richter festgestellt: "Die operative Entfernung der Penisvorhaut des minderjährigen Patienten hatte ohne medizinische Notwendigkeit stattgefunden." Und weil die Amputation eines gesunden Körperteils zwingend der Aufklärung und schriftlichen Einwilligung des Patienten bedarf, der in diesem Fall nicht einwilligungsfähig war, warf die Staatsanwaltschaft dem Arzt vor, "eine andere Person mittels eines gefährlichen Werkzeugs körperlich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt zu haben." Oder deutlicher: das Kölner Landgericht bezeichnete die rituelle Beschneidung als Körperverletzung.

Ein Sturm der Entrüstung brach los – im Epizentrum die brisante Frage: Was wird in Deutschland höher bewertet – das Recht männlicher Kinder, die religiöse Eltern haben, auf körperliche Unversehrtheit oder das Recht religiöser Eltern, ihre Rituale auf ihre Söhne zu übertragen, auch wenn dies einen schmerzhaften Eingriff zur Folge hat. Kindeswohl contra Religionsfreiheit? Diese sahen die religiösen Eltern mit dem Kölner Urteilspruch in Gefahr und sie bekamen lautstarke Unterstützung von Seiten ihrer offiziellen Religions-Funktionäre – unisono, ob vom Zentralrat der Juden, moslemischen Gemeinden, Deutschen Bischöfen. Sie werteten das Urteil als Angriff auf die Ausübung ihres Glaubens. Sie behaupteten, die ganze Welt akzeptiere die Beschneidungspraxis – nur die Deutschen nicht. Wer sich für das Kindeswohl einsetzte, galt schnell als Antisemit. Auch wenn es hier nicht um generelles Beschneidungsverbot, sondern um ein Verbot der Zwangsbeschneidung an Minderjährigen ging – in den Gottes-Communities rumorte es kräftig. Wie aber nun wurde entschieden, an der Schnittstelle zwischen Religion und dem Rechtsstaat?

Der Deutsche Bundestag beschloss im Rekordtempo auf Initiative der Bundesregierung (und mit Mehrheit) das "Gesetz über den Umgang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes" und damit wurden die rituelle Beschneidungen legalisiert. Und so sind hierzulande nur Mädchen vor rituellen Genitalbeschneidungen geschützt, Jungen darf aus religiösen Gründen weiterhin straffrei die Vorhaut amputiert werden, auch wenn die ausführenden Ärzte keine Ärzte sind, sondern von Religionsgemeinschaften dazu ausgebildet sind.

In der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, die 1992 in Deutschland in Kraft trat, heißt es im Artikel 19, "die Staaten treffen alle Maßnahmen, um Kinder vor jeglicher Form von Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung zu schützen", die schmerzhaften Beschneidungen scheinen hier ausgenommen zu sein.

Tatsache ist: Was Religion ist und wie sie praktiziert wird, liegt nach Auffassung des Bundestags (und auch des Bundesverfassungsgerichts) in der Definitions-Hoheit der Religionsgemeinschaften. Man kann dieses expansive Verständnis von Religionsfreiheit – das einerseits die Standards unseres liberalen Verfassungssystems in Anspruch nimmt , andererseits auf Sonderrechten pocht – als Ausdruck einer fortschreitenden Aufweichung des staatlichen Neutralitätsbegriffs sehen.

Weltanschaulich-religiöse Neutralität

Die Frage drängt sich auf: Wie säkular soll, ja muss die deutsche Justiz sein? Wie viele religiöse Symbole verträgt die dritte Gewalt in einer multireligiösen Gesellschaft?

Das Bundesverfassungsgericht hat im Zusammenhang zum Urteil zum Kopftuchverbot für Lehrerinnen 2003 angemahnt, die "Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität" strenger zu handhaben, um Konflikte zwischen Religionen zu vermeiden.

Für Richterinnen oder Staatsanwältinnen ist die Rechtslage eindeutig: Landesgesetze wie das Berliner Neutralitätsgesetz schreiben vor, keine "sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole zu tragen". In Hessen ist Musliminnen während der Referendarzeit das Tragen von Kopftüchern innerhalb von Dienstgebäuden untersagt, bei Schöffinnen mit Kopftuch zeigt sich die Justiz mal tolerant, mal ablehnend. Die Justiz reagiert eher hilf- und orientierungslos. Zwei Wege sind möglich: "Einübung in die Toleranz", etwa das Aufeinandertreffen im Gerichtssaal eines jüdischen Angeklagten mit Kippa, der vor einer muslimischen Schöffin mit Kopftuch steht – unter einem christlichen Kreuz. Oder aber, wie im laizistischen Frankreich, das Verbot jeglicher religiöser Symbolik im Gerichtssaal – selbstredend auch Verzicht auf das obligate Kruzifix an der Wand.

Das christliche Abendland

Neuerdings taucht der Begriff "Zivil-Religion" im öffentlichen Diskurs auf und  das christliche Abendland wird zur Pauschal-Legitimation für die Dominanz der christlichen Kirchen im öffentlichen Raum. Von Politikern der CDU/CSU bis hin zu AfD-Eiferern, wird darauf gerne verwiesen. Damit wird die Grenze zwischen kultureller Tradition, Religionsgeschichte und Verfassungsstaatlichkeit auch rhetorisch verwischt. Und so werden der Religionsunterricht in der Schule, die kirchlichen Feiertage oder die Kirchenredaktionen in den öffentlichen-rechtlichen Anstalten nicht in Frage gestellt.

Niemand kann die Prägung unserer Kultur durch das Christliche ignorieren, aber gab es nicht lange vor der christlich-abendländischen Imprägnierung (mit all ihren Wirrungen und Barbareien) nicht auch schon die prägenden Philosophen? Staatskunde, Humanismus, Sinnstiftung – bis heute haben ihre Fragen, ihre Gedanken, ihre Leitideen für unser Leben und Zusammenleben Relevanz. Also: Warum eigentlich kein Philosophie-Unterricht? Gerne schon in der Grundschule.

Die Austreibung Gottes ...

Die integrationsbedingte Pluralisierung der religiösen Geographie hat die bewährte, traditionelle Arbeitsteilung zwischen Kirche und Staat in Schieflage gebracht. Nicht nur hierzulande. Die Demokratien sind gefordert, sich gewissermaßen religionspolitisch neu zu orientieren.

Man muss darauf achten, dass dabei keine Grundsätze des säkularen Staates in den Hintergrund geraten. Was fehlt, ist ein Kompass dafür, wie das Neutralitätsgebot des deutschen Staates angesichts wachsender kultureller, ethnischer und religiöser Vielfalt am besten zu schützen ist.

Es geht nicht um die Austreibung Gottes aus der Welt. Glaubens- und Religionsfreiheit ist Menschenrecht. Im Gegenteil: Demokratische Staaten garantieren religiösen Gruppen, Gemeinschaften oder Kirchen, dass sie frei agieren können, soweit sie nicht die Freiheiten anderer gefährden oder die Gesetze verletzen. Gleichwohl geht es darum, die Errungenschaften der Aufklärung zu verteidigen, damit Gott nicht in die Politik zurückkehrt.

… und der "Respekt vor der Religion"

Neuerdings ist viel von "Respekt vor Religionen" die Rede. In der Beschwörung des "Respekts vor religiösen Anschauungen" sind sich alle Religionen einig. Die Adepten des Katholizismus, die Vertreter eines Islams oder orthodoxen Judentums, sie alle reklamieren "Respekt". Sie fordern einen neuen, schärferen Blasphemie-Paragraphen.

Die Blasphemie ist eine Konstruktion und hat eine lange und wechselhafte Geschichte. In Frankreich wurde sie als "imaginäres Verbrechen" 1791 als strafwürdiges Delikt abgeschafft. Lange verschwand sie im modernen, aufgeklärten Europa – nun aber kehrt die Diskussion um eine Blasphemie-Verbot zurück, spätestens seit den Mord-Drohungen gegen die Herausgeber und Redakteure einer dänische Tageszeitung, die Mohammed-Karikaturen veröffentlich hatte, was in der moslemischen Welt zu einem Sturm der Entrüstung führte. Wendepunkt im Blasphemie-Diskurs war dann der terroristische Angriff im Januar 2015 auf die Pariser Redaktion des Satireblatts Charlie Hebdo. Das Prinzip der der Rede- und Meinungsfreiheit, aber auch der Pressefreiheit sollte "im Namen des Respekts vor Religion" massiv eingeschränkt werden. Die heftige öffentliche Debatte machte deutlich, welchen Platz die Diskussion um die Blasphemie wieder einnimmt.

Warum aber sollte man Religionen einen besonderen Respekt entgegenbringen? Wir leben in keinem Gottesstaat, sondern in einer offenen Gesellschaft. Es ist eine Errungenschaft der Aufklärung, dass es in einer freiheitlichen Demokratie, keine "Meinungsdelikte" – definiert von Kardinälen, Imanen oder Rabbinern – gibt. In einer säkularisierten Gesellschaft schützt der Staat immer den Gläubigen, aber nie eine einzige Religion.

Das Bekenntnis Gläubiger Menschen verdient Achtung, doch es darf nicht mit den Dogmen und Institutionen verwechselt werden, deren rückhaltlose Kritik immer möglich sein muss – jedenfalls überall dort, wo Meinungsfreiheit ein Verfassungsrecht ist. Und so warnt Jacques de Saint Victor, Professor für Rechtsgeschichte an der Universität Vincennes-Saint-Denis, aufgrund dieser Verwechslung zwischen persönlichem Glauben und religiöser Doktrin, "einer geistigen Konfusion", vor einer wiederkehrenden Kriminalisierung der Blasphemie. Außer dem Schutz der Gläubigen darf der Staat nichts unternehmen, die Beleidigung und Kritik jedweder religiösen Doktrin darf als Preis betrachtet werden, der für den Vorzug der Freiheit zu zahlen ist. Den Rest klärt hierzulande eine tragende Institution des Rechtsstaats: die Justiz.

Helmut Ortner, "Dumme Wut, Kluger Zorn. – Anklagen und Freisprüche", Nomen Verlag Frankfurt 2018, 136 Seiten, ISBN: 978-3-939816-50-8, 18,00 Euro