Kommentar

Auch die Nach-Weihnachtszeit bleibt Märchenzeit

"Religion ist das Opium des Volkes", schrieb einst Karl Marx. Mittlerweile ist offensichtlich ein erheblicher Kampf um den harten Stoff, eben dieses Volk, entbrannt. Es kommt dann wohl nicht von ungefähr, dass dpa bereitwillig eine Meldung des unlängst gekürten Oberhirten von Hildesheim, Heiner Wilmer, in die Welt posaunt und sich die deutsche Medienlandschaft, stellvertretend seien die Süddeutsche Zeitung und RTL genannt, einmal mehr ohne Not als Sprachrohr des Heilskonzerns Katholische Kirche versteht. Schließlich ist Nach-Weihnachtszeit, Winterzeit, dunkle Zeit, Zeit der Sentimentalitäten. Gibt es eine bessere Zeit für die Kirchen, für Glaubensgemeinschaften und esoterische Vereinigungen, die Öffentlichkeit wieder und wieder mit frohen Botschaften zu beglücken?

Freilich, im speziellen Falle reibt sich der Leser verwundert die Augen, denn es geht erstmal gar nicht so vordergründig um die Geschichte vom guten Hirten, es geht vielmehr um Existenz und Ausrichtung der Catholica. Von einer aufziehenden "IKEA-Religion" spricht der Hildesheimer Seelenführer und sorgt sich. "Es gibt schätzungsweise dreihundertdreißig Religionen mit über einhunderttausend verschiedenen Glaubensgemeinschaften … sowie ca. fünfhunderttausend Götter. Hunderttausende von Propheten, Gurus, Priestern, Imamen, Rabbinern, Schamanen, Geistheilern … widersprechen sich in nahezu allen Annahmen und Glaubensinhalten" (A. Kilian).

Diese Sorge verkleidet sich einmal mehr als Hilfsangebot, allein Hirte Wilmer ist darüber entsetzt, dass das Alleinstellungsmerkmal seiner Kirche schwindet, ist sie doch – und nur sie! – nach eigenem Verständnis allein seligmachend. Denn was sonst könnte Veranlassung bieten, über Gläubige herzufallen, die sich ihre Religion selbst basteln wollen oder sich in anderen religiösen Gefilden behaust fühlen? Ginge es (ihm) um Religion, um Spiritualität, gäbe es ja keinen Grund zur Aufregung. Doch es ist der Gläubige, der da so beliebig und somit falsch glaubt, der dem Oberhirten ein Dorn im Auge ist. Vordergründig ist ihm allein die exklusiv heilsvermittelnde Funktion seines Glaubenskonzerns. Kein Heil und keine Seligkeit außerhalb der katholischen Kirche – so war es und ist es und soll es zukünftig sein.

Die Ungläubigen (Atheisten) sind zu starrsinnig, da lohnt der Aufwand kaum, um die frohe Botschaft (gelegentlich auch Drohbotschaft genannt) zu verkünden, wenngleich Oberhirte Wilmer im Interview mit der ZEIT (30.08.18) betonte: "'Wir sind nicht Herren eures Glaubens, sondern Gehilfen zu eurer Freude.' In Parenthese: Angesichts des Missbrauch-Skandals innerhalb der Catholica ein starker Wahlspruch. Und damit meine ich nicht nur die Christen, sondern alle im Bistum". Punkten lässt es sich vermutlich besser bei den Andersgläubigen, den Unentschlossenen. "In zehn Jahren brauchen wir eine grundsätzlich neue Kreativität in Verkündigung und Struktur", heißt es programmatisch weiter von ihm. Aus historischer Sicht lassen sich dreierlei dieser kreativen Strategien aufzeigen. Ein Abwerben (Bekehrung) galt als probates Mittel, die Nötigung (Zwangsbekehrung) ebenso und mitunter war auch die Dezimierung (Genozid) der Unbeugsamen ein beliebtes Verkündigungsmittel religiöser Nächstenliebe. Frank und frei verkündet Jahwe sein Programm: "… ich will sie vertilgen" (Ex. 23,23). Wilmer scheint darum zu wissen, überschreibt er eine eigene Buchpublikation mit dem Titel "Gott ist nicht nett". Wenig "nett" ist auch Liebesbotschafter Jesus: "… und der Weg ist breit, der zur Verdammnis führt, und ihrer sind viele, die darauf wandeln" (Mt. 7,13).

Doch die Verfügungsmasse an Gläubigen ist stark begrenzt. Meinungsforscher des US-amerikanischen Pew Research Center ermittelten in einer im Oktober 2018 veröffentlichten Studie, dass nur 11 Prozent der Deutschen die Religion noch für eine wichtige Sache in ihrem Leben halten. Beten ist lediglich für 9 Prozent tägliche Prozedur und ganze 10 Prozent der Befragten sind absolut sicher, dass Gott existiert. Nachgerade erschreckend sieht es für die Hirten und Oberhirten der Glaubenskonzerne aus, blickt man auf eine Studie (ebenfalls 2018 erschienen), die von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Auftrag gegeben und von deren Sozialwissenschaftlichen Institut veröffentlicht wurde. Unter den Befragten der Altersstufe von 19 bis 27 Jahre geben lediglich noch 19 Prozent an, religiös zu sein. Besonders beachtenswert dabei, 58 Prozent der Anhänger der evangelischen Konfession und 51 Prozent der römisch-katholischen bezeichnen sich selbst als "nicht-religiös". Wird in der Studie einleitend bekannt: "Alle Analysen zeigen eine lineare Abnahme kirchlicher Verbundenheit, selbst eingeschätzter Religiosität, Häufigkeit religiöser Praxis sowie religiöser Erziehung mit abnehmendem Alter der Evangelischen", heißt es unumwunden im Resümee: "Es ist eine – vielleicht die erste – wirklich postchristliche Generation. Gott ist weitgehend verschwunden."

Politik und Medien jedoch sind blind für diese Realitäten. Staatsleistungen an die Kirchen fließen munter weiter, trotz des seit nun fast einhundert Jahren bestehenden Verfassungsgebotes, diese abzulösen. Gelder aus der öffentlichen Hand sprudeln für die Events der Glaubenskonzerne (Kirchentage, Jubiläen etc.), sprudeln für Militärseelsorge, für die Indoktrination von Kindern und Jugendlichen (Religionsunterricht, Kindergärten etc.), für die Ausbildung von Theologen … Nach dem Oberhirten von Hildesheim ist hier ja gar noch zuzulegen: "Die Kirche sollte intellektueller sein, mit gut studierten, gut ausgebildeten Leuten." Der Humanistische Verband Berlin-Brandenburg verzeichnet wachsende Schülerzahlen allein beim Humanistischen Lebenskundeunterricht und fragt sich: "Es ist vollkommen unklar, warum religiösen Organisationen, die sich auf übernatürliche Weltdeutungen berufen, staatliche Mittel für Ausbildung und Wissenschaft in Größenordnung zur Verfügung gestellt werden, wir HumanistInnen hier aber nicht entsprechend unterstützt werden, obwohl wir den mit Abstand stärksten Zulauf haben. Eine an den Bedürfnissen der Menschen orientierte Bildungspolitik sieht anders aus."

Von einer Gleichbehandlung der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften kann in der bundesdeutschen Kirchenrepublik jedenfalls nicht gesprochen werden. Bereitwillig stellen sich auch die Medien in den Dienst diverser religiöser Anbieter, ganz im Sinne des von der neuen CDU-Vorsitzenden Kramp-Karrenbauer zum Leitmotiv erhobenem: "Religion tut unserem Land, tut dem gesellschaftlichen Zusammenhalt gut". "In der säkularisierten Gesellschaft spielt Religion in der Öffentlichkeit eine eher untergeordnete Rolle", will uns hingegen der Politik- und Medienwissenschaftler Kai Hafez in einem Vortrag ("Die Macht der Medien und der Religionen"), gehalten vor der Evangelischen Akademie Hofgeismar, offerieren. Und führt weiter aus: "Nicht Theologie und das Transzendente werden thematisiert, sondern die Probleme religiöser Institutionen und Systeme: Kirchensteuer, verheimlichte Konten, Dumpinglöhne der Diakonie, Rückständigkeit der katholischen Lehre, Kindesmissbrauch …". 1.700 Verkündigungssendungen, die jährlich allein im WDR Rundfunk und Fernsehen ausgestrahlt werden, dürften die obigen Aussagen konterkarieren. Mit rund 600.000 Euro werden die Beiträge der Fernsehverkündigung allein vom Westdeutschen Rundfunk veranschlagt. Zwanzig Ausgaben des "Wort zum Sonntag" werden von der Sendeanstalt zum Programm der ARD beigesteuert, 75.000 Euro Produktionskosten entfallen dabei auf den Steuerzahler. "Das Wort zum Sonntag" ist wohl ebenfalls kaum ein Ort zur Darstellung von Problemen der Glaubenskonzerne. Die Befindlichkeiten von nichtreligiösen Bürgern sind offensichtlich uninteressant und müssen nicht thematisiert werden, hingegen: "Das Verschwinden der religiösen Substanz aus der Öffentlichkeit führt bei religiösen Menschen möglicherweise zu einem Gefühl der Entfremdung und des Verlustes religiöser Gemeinschaft" (K. Hafez). Die Wochenzeitschrift DIE ZEIT erscheint mit den Extraseiten Christ & Welt, breitester Raum also für Theologie und Transzendentes. Eine untergeordnete Rolle der Religion in der Öffentlichkeit? Ungenierte mediale Lobbyarbeit auf eine Nebensächlichkeit zu reduzieren, ist ein strategisches Moment. Das wollte jüngst auch der ZEIT-Autor Raoul Löbbert (15.11.18) den Lesern suggerieren und schrieb: "dieses eine Mal" nur werde über den Glauben geredet und das müsse man dann "schon aushalten können". Zudem, "die Probleme religiöser Institutionen und Systeme" geben dem Klerus beinahe täglich Gelegenheit zu Interviews, zur Meinungsäußerung und Rechtfertigung in den verschiedensten (Tages-)Zeitungen, Zeitschriften, sozialen Medien und Sendeanstalten.

Die lebensweltliche Distanz der Bürger gegenüber der Religion, gegenüber den Kirchen und Religionsgemeinschaften wächst rasant. Der Monopolanspruch der Heilskonzerne auf Weltdeutung existiert nicht mehr. Wie sollten antike Märchentexte, auch wenn sie "heilig" genannt werden, Antworten auf Probleme der gegenwärtigen Welt geben? Die Infragestellung religiöser Autoritäten befördert den Abschied vom Glauben, befördert die Gleichgültigkeit gegenüber religiösen Beeinflussungen. Wenn der Hildesheimer Seelenwächter feststellt, dass es "weltweit keine Gesellschaft" gibt, "die ohne Religion auskommt", verwundert umso mehr seine Angst vor einem religiösen Pluralismus, den er wohl mit der Metapher "IKEA-Religion" umschreibt. Diffus und facettenreich bleibt dabei allerdings sein Begriff von Religion. Die Sorge des Oberhirten jedenfalls ist verräterisch genug.

Modernes Leben könnte tatsächlich auf dem Weg zu einer neuen "Religion" sein. Wir werden unabhängiger, freier, werden letztlich reifer auf unserer Suche nach dem Sinn des Lebens. Sollten wir uns also fürchten vor: Literatur, Sport, Musik, Kunst, Wissenschaft …?