Aufklärungskampagne zur genitalen Selbstbestimmung gestartet

"Es kann nicht früh genug sein, sich um Kinderschutz zu kümmern!"

Pünktlich zum 7. Mai 2019, dem Worldwide Day of Genital Autonomy (WWDOGA) startete die einjährige Aufklärungskampagne "Mein Körper – Unversehrt und Selbstbestimmt" mit einer Pressekonferenz in Berlin. VertreterInnen der drei Organisationen "Terre des Femmes", "MOGiS e.V." und "Projekt 100% Mensch" stellten die Gedanken und Ideen rund um die Kampagne vor. Ergänzt wurde das Podium durch Seyran Ateş – Gründerin der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee.

"Es kann nicht früh genug sein, sich um Kinderschutz zu kümmern!", antwortete Victor Schiering, Vorstands-Vorsitzender von MOGiS e.V. auf die Frage, warum die Kampagne ausgerechnet jetzt beginnt. Früher, stellten alle fest, wäre das in dieser Form nicht möglich gewesen. Es war ohnehin ein langer Weg, bis die Kooperation zustande kommen konnte und es ist weltweit das erste Mal überhaupt, dass eine Frauenrechtsorganisation sich mit einer Betroffenenorganisation und einer LSBTTIQ-Organisation zusammenschließt.

Terre des Femmes gehört zu den ganz wenigen Organisationen, die sich schon vor mehr als 30 Jahren vehement gegen die weibliche Bescheidung (FGM) ausgesprochen hat. Als Frauenrechtsorganisation lag der Fokus natürlich immer bei Personen weiblichen Geschlechts. Doch spätestens die Debatte 2012 um das "Kölner Urteil" rückte auch die Jungenbeschneidung ins Blickfeld der Feministinnen.

Zum einen wurden die Rechte von Jungen auf ein unversehrtes Genital sofort von Terre des Femmes mit eingefordert, da Menschenrechte unteilbar sind und die Ächtung von Gewalt an männlichen Kindern im selben Maß feministischer Grundkonsens ist wie der Kampf gegen weibliche Genitalverstümmelung. Zum anderen stellt die stets damit einhergehende Debatte darüber, welcher Eingriff (an Mädchen oder Jungen) der schwerwiegendere sei noch eine weitere Frage zur Diskussion: Welche Eingriffe an Mädchen könnten womöglich tolerabel sein und müssten daher erlaubt werden? In Asien etwa, erläutert Charlotte Weil, Referentin zu weiblicher Genitalverstümmelung, wird FGM heutzutage oft medikalisiert durchgeführt. Das geht bis zu kleinen Einstichen in die Klitoris unter Betäubung und mit sterilen Instrumenten durch ärztliches Fachpersonal im Krankenhaus. Um hier an der Null-Toleranz-Haltung des Vereins weiter festhalten zu können, ist es die logische Schlussfolgerung, dieselbe Haltung auch bei Jungen anzusetzen.

Foto: © Martin Funck
Foto: © Martin Funck

Die Debatte um das "3. Geschlecht" hat nun endlich auch das Themenfeld der Genitaloperationen an Kindern mit uneindeutigen oder mehrdeutigen Genitalen in die öffentliche Debatte geholt. Holger Edmaier, Geschäftsführer von Projekt 100% Mensch, entlarvte das in unserer Gesellschaft gängige Konzept von Geschlechtlichkeit als ein streng binäres. Bereits die erste Frage nach der Geburt eines Kindes ist: "Junge oder Mädchen?" – oder besser: "Penis oder Vagina?" Eltern die das nicht präzise beantworten können, sehen sich mit großen Problemen konfrontiert. Während man hierzulande in solchen Fällen schnell zum Skalpell greift, gibt es Gesellschaften in der Welt, die wesentlich mehr als nur zwei Geschlechter kennen. Und wenngleich theoretische Konzepte über sex und gender sehr unterschiedlich aussehen und funktionieren können, bleibt eines aber immer bestehen: Eine therapeutisch nicht notwendige Operation am Genital einer nicht zustimmungsfähigen Person ist immer eine Menschenrechtsverletzung. Auch das Projekt 100% Mensch fordert hier ein sofortiges Verbot.

Katharina Vater, ebenfalls von Projekt 100% Mensch, bringt noch einen weiteren Aspekt in die Diskussion ein: Trans*Menschen, die ihren Körper an ihr Geschlechtsbewusstsein angleichen wollen, können ebenso von den Konsequenzen einer Genitalverstümmelung betroffen sein. Wenn aus einem beschnittenen Penis operativ eine Vagina werden soll, ist es schwieriger, ein vollständiges und voll funktionsfähiges weibliches Genital zu schaffen, da durch die amputierte Vorhaut wichtiges Gewebe und essentielle Nerven in erheblichem Umfang fehlen.

Die Forderungen der Kampagne sind unter anderem ein Gesetz zum umfassenden Schutz aller Kinder, Beratungsangebote für Betroffene, Gefährdete und Eltern, Schulung von Fachkräften und ganz grundsätzlich Sensibilisierungs- und Aufklärungsarbeit – sowohl in der breiten Gesellschaft als auch innerhalb betroffener Communities. Namentlich der Mangel an Befassung mit sowohl der männlichen Vorhaut als auch den Themen Intersex/Trans im Medizinstudium wurde mehrfach kritisiert.

Wie dynamisch in dieser Kampagne drei auf den ersten Blick unterschiedliche Themengebiete zu einem großen und wichtigen Anliegen für den Schutz und die Rechte von Kindern werden und gleichzeitig Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen zueinanderfinden, brachte Victor Schiering bildhaft auf den Punkt: "Wir müssen die Gräben zwischen uns zuschütten und uns endlich ins Angesicht schauen."

Foto: © Martin Funck
Foto: © Martin Funck

Die Kampagne soll mit diversen Veranstaltungen und Aktionen insgesamt ein Jahr laufen. Das nächste Wiedersehen gibt es kommenden Samstag auf dem WWDOGA 2019 in Köln. Aktuelle Informationen gibt es auf der Website unversehrt.eu. Dort gibt es auch die Möglichkeit, direkt mit den Verantwortlichen in Kontakt zu treten und zu spenden. Die Flyer zur Kampagne gibt es bei den teilnehmenden Organisationen und in einzelnen Läden des Sponsors "Lush – Fresh Handmade Cosmetics". Die Pressekonferenz stellte einen vielversprechenden Auftakt für die nächsten zwölf Monate dar. Der hpd wird die Kampagne begleiten und regelmäßig berichten.

Etwas irritierend wurde der Auftritt von Seyran Ateş (Ibn-Rushd-Goethe-Moschee) wahrgenommen. In der Pressemappe mit klarem Statement vertreten ("Ich erachte das Recht auf körperliche Unversehrtheit gerade bei Kindern als besonders schützenswert. Deshalb engagiere ich mich gegen die Beschneidung von Kindern, denn sie ist eine Körperverletzung und es wird Zeit, dass auch Religionsvertreter entschiedener dagegen vorgehen.") gab sie zunächst an, dass sie in der Vorbereitung auf die Veranstaltung in sozialen Netzwerken als Antisemitin bezeichnet wurde. Auf die Frage, ob eine Diskussion über die Jungenbeschneidung in der muslimischen Community grundsätzlich möglich sei, äußerte sie theologische Spitzfindigkeiten darüber, wie männliche und weibliche Beschneidung innerhalb des Islam zur religiösen Pflicht gehörten. Zur jüdischen Beschneidung werde sie sich ganz explizit nicht äußern.

Da es in der Kampagne ja nun ausdrücklich nicht um die religiösen Motive von Operationen am kindlichen Genital gehen soll, weil das Kind und dessen Verletztheit im Mittelpunkt stehen, wirkten ihre Statements, die die Religion so in den Fokus rückten, ein wenig irritierend.